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Syrische Szenarien

Von Werner Ruf *

Die vom ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan in Syrien vermittelte Waffenruhe scheint vorerst eingehalten zu werden. Die weitere Umsetzung seines Friedensplans könnte zu einer Lösung der blutigen Auseinandersetzungen in Syrien und eines gefährlichen regionalen Konflikts führen. Diese Perspektive scheint indes keine ungeteilte Freude hervorzurufen.

Die Staaten des Golf-Kooperationsrats, allen voran Saudi-Arabien und Katar, sehen nach dem gewaltsamen Regimewechsel in Libyen die Chance, auch noch das letzte säkulare System der Region zu vernichten und nach den Wahlen in Marokko, Tunesien und Ägypten auch in Syrien eine islamistische Herrschaft zu installieren. Dies würde ihre innenpolitische Position festigen und den Saudis den Weg eröffnen, zur entscheidenden Regionalmacht und zum Vorposten des Westens gegen Iran aufzusteigen.

Nicht zufällig forderten Katar und die Saudis seit langem die Lieferung von Waffen an die Aufständischen in Syrien, und vieles deutet darauf hin, dass sie dies seit geraumer Zeit schon tun, so wie auch bewaffnete Kämpfer aus Libyen, die über Kampferfahrung in Afghanistan verfügen, nach Syrien eingeschleust wurden. Genau von diesen Gruppen kann es abhängen, ob der Waffenstillstand dauerhaft ist.

Mit der Vernichtung des Assad-Regimes käme Iran sein einziger verlässlicher Verbündeter in der Region abhanden, die libanesische Hisbollah und die palästinensische Hamas verlören ihren wichtigsten Unterstützer. Dies mag vielen als erstrebenswertes Nahziel erscheinen. Allerdings: Libanon würde unweigerlich in den Strudel der Auseinandersetzungen hineingezogen, die politische Geografie des gesamten Nahen Ostens stünde zur Disposition.

Die USA und der Westen haben plötzlich die seit über einem Jahrzehnt hysterisch bekämpften Islamisten wieder als Freunde entdeckt, bekennen sich diese doch allesamt zu einer liberalen Wirtschaftsordnung: Eine neue Vormachtstellung der Saudis, die flugs zu Vorkämpfern für Menschenrechte avancierten, garantiert »Stabilität«, sprich: gesicherte Rohstoffzufuhr.

Besonders ungelegen käme eine Befriedung der Situation in Syrien der israelischen Regierung, die im sich verbreitenden Chaos meinte, die »Gelegenheit zu einem Präventivschlag gegen Iran (habe sich) verbessert« (so der Militärexperte Lothar Rühl in der FAZ am 7. April 2012).

Alle diese mit dem Sturz des Regimes in Damaskus verknüpften Szenarien haben eines gemeinsam: Aus ihnen resultieren neue Unwägbarkeiten, weitere Gewalt und eine wachsende Kriegsgefahr. Gelingt es dagegen, den Bürgerkrieg in Syrien einzudämmen und gar zu beenden, würde auch die Position Irans in den anstehenden Verhandlungen um sein Atomprogramm im Sinne einer einvernehmlichen Lösung gestärkt. Die politische Landkarte der Region bliebe erhalten und berechenbar. Der Siegeszug der Saudis und der von ihnen im ganzen Raum geförderten (auch dschihadistischen) Islamisten würde gebremst. Die akute Kriegsgefahr könnte eingedämmt werden. Kluge Politik könnte eine solche Entwicklung zum Anlass nehmen, einen Prozess für Sicherheit und Zusammenarbeit in der ganzen Region einzuleiten. Eine deutsche Initiative in diese Richtung könnte tatsächlich zur Sicherung des Weltfriedens beitragen.

* Werner Ruf: Unser Autor (Jg. 1937) war bis 2003 mehr als 20 Jahre Professor für internationale und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik an der Uni Kassel.

Aus: neues deutschland, Samstag, 14. April 2012 (Gastkommentar)


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