Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erneut vertrieben

Folge des bewaffneten Aufstandes gegen Assad: Mehr als 200000 palästinensische Flüchtlinge in Syrien haben ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen

Von Karin Leukefeld *

Unter den Vermißten, die ihre gefährliche Flucht über das Mittelmeer nach Italien in der vergangenen Woche vermutlich mit dem Leben bezahlt haben, sind auch Palästinenser. Nach UN-Angaben hatten in Syrien lebende Palästinenser Angehörige an Bord von Schiffen, die vor Malta und vor der ägyptischen Küste gekentert seien. Die Familien hätten von ihren Angehörigen nichts mehr gehört und befürchteten, daß diese ertrunken seien, teilte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge UNRWA am Montag mit.

Laut UNRWA haben mittlerweile 235000 Palästinenser in Syrien ihre Wohnungen und Häuser in neun offiziellen Flüchtlingslagern verlassen müssen, weil sie von bewaffneten Gruppen vertrieben wurden. Die meisten der ehemals ruhigen Zufluchtsstätten wurden bei den Kämpfen zwischen Aufständischen und der syrischen Armee zerstört. Etwa 200000 der palästinensischen Inlandsvertriebenen wurden in der Hauptstadt Damaskus registriert, wo das größte Flüchtlingslager Yarmuk seit Dezember 2012 zur Kampfzone geworden ist. Von den etwa 150000 Palästinensern in Yarmuk seien weniger als 18000 geblieben, sagt Samer K., ein Journalist des palästinensischen Mediennetzwerkes Al-Hurriya (Die Freiheit), der selbst seine Wohnung dort verlassen mußte.

Die zweitgrößte Gruppe der in Syrien vertriebenen Palästinenser, 13100 Menschen, stammt aus Deraa, wo nach UNRWA-Angaben in den vergangenen Tagen erneut heftige Kämpfe entbrannt sind. Das Flüchtlingslager dort war bereits vor einem Jahr Schauplatz verheerende Auseinandersetzungen. Ein Teil der Bewohner, vor allem Anhänger der Hamas, unterstützten die bewaffneten Aufständischen, während die anderen versuchten, den Konflikt aus dem Lager herauszuhalten. Als Lebensmittel und Hilfsgüter an die Bewaffneten geliefert wurden, griffen syrische Geheimdienstkräfte und schließlich die Armee ein. Große Teile des Lagers wurden zerstört. Laut UNRWA wurden nun bei neuerlichen Kämpfen in den noch bewohnbaren Teilen des Lagers sieben Palästinenser getötet und 15 verletzt. Ein Gesundheitszentrum und ein Bildungszentrum für Frauen wurden zerstört.

Laut UNRWA sind im Libanon 48000 palästinensische Flüchtlinge aus Syrien bei ihren Verwandten in dortigen Lagern untergekommen. Nach Jordanien flohen 9105, nach Ägypten 6000 Palästinenser, 1100 nach Libyen und rund 1000 in den Gazastreifen. Eine unklare Zahl von Palästinensern aus Syrien floh in die Türkei, in die Arabischen Emirate, in den Jemen und nach Saudi-Arabien. Rund 1000 Flüchtlinge registrierte UNRWA in Malaysia, Thailand und Indonesien.

Nirgends habe es nach dem Verlust ihrer Heimat 1948 einen sichereren Ort für die Palästinenser gegeben als in Syrien, betont die in Nicosia lebende Nora Shawwa gegenüber junge Welt. Die Verlegerin stammt aus Gaza und wuchs in Kuwait auf. Von dort wurde die Familie 1990 vertrieben, nachdem der damalige palästinensische Präsident Jassir Arafat den Einmarsch irakischer Truppen in dem Golfemirat begrüßt hatte. Immer wenn palästinensische Führer sich in den Konflikt eines Landes eingemischt hätten, habe die Bevölkerung den Preis bezahlt, erinnert Shawwa. Die Einmischung der Hamas in den innersyrischen Konflikt hält sie für unverantwortlich (siehe unten).

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 17. Oktober 2013


An der Seite der Aufständischen

Im Syrien-Konflikt hat sich die palästinensische Hamas Assads Gegnern verschrieben

Von Karin Leukefeld **


Nur knapp war Chaled Meschaal, der heutige Generalsekretär der palästinensischen Hamas, Ende September 1997 in Amman einem Anschlag entgangen. Mehrere Agenten des israelischen Mossad waren mit kanadischen Pässen nach Jordanien eingereist und sollten den charismatischen Hamas-Politiker mit einem tödlichen Gift ermorden. Zwar konnten die Attentäter das Gift auf Meschaal sprühen, sie wurden aber gefasst. Jordanien forderte von Israel, das Gegengift auszuhändigen, bevor man über die Freilassung der Attentäter sprechen werde. US-Präsident William Clinton überzeugte Israel, das zu tun. Die Attentäter wurden schließlich gegen den in Israel inhaftierten Hamas-Führer Scheich Ahmad Yasin ausgetauscht.

Doch der lange Arm Israels und der USA trafen die Hamas nach dem Tod des jordanischen Königs Hussein I. 1999. Im Gegenzug für US-Finanzhilfe wurde die Hamas verboten. Nach kurzer Festnahme ging Meschaal zunächst nach Katar, 2001 siedelte das Politbüro der Hamas nach Damaskus über. Dort war Meschaal zehn Jahre lang gefragter Gesprächspartner westlicher Journalisten, Politiker und Geheimdienstler. Von dort aus verhandelte er auch den Gefangenenaustausch 2011, bei dem Israel für die Freilassung des Soldaten Gilad Schalit mehr als 1000 Palästinenser aus der Haft entließ.

Zu dem Zeitpunkt befand die Hamas sich im Aufwind. Der »Arabische Frühling« hatte der islamischen Muslimbruderschaft – der die Hamas angehört – in Tunesien und Ägypten Erfolge beschert, von denen sie kaum noch zu träumen gewagt hatte. Unterstützt von der Türkei und dem finanzstarken Sponsor Katar ernteten die Muslimbrüder die Früchte einer Protestbewegung, der sie sich selbst am Anfang explizit fern gehalten hatten.

Die neue Stärke führte zu einer folgenschweren Fehlentscheidung bei der Hamas, sagt der Vorsitzende der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft Raif Hussein. In der Phase des grenzübergreifenden Aufbruchs hätte die Hamas sich auf die Stärkung des palästinensischen Widerstandes konzentrieren müssen. Der Zorn der Bevölkerung gegen die israelische Besatzung hätte organisiert und die innerpalästinensische Versöhnung mit der Fatah beschleunigt werden müssen. Doch die Hamas stellte die regionale Islamisierung in den Vordergrund und sonnte sich im Erfolg der Muslimbruderschaft in den Nachbarländern.

»Vom ersten Tag an haben sie sich gegen Syrien gestellt«, sagte der syrische Präsident Baschar Al-Assad kürzlich bei einem Gespräch mit arabischen Journalisten in Damaskus über die Hamas. Als die Krise im März 2011 begann, »erklärten sie, sie hätten uns beraten. Das ist nicht wahr.« Und wer sei die Hamas, daß sie Syrien Ratschläge erteilen wolle, wird Assad in der libanesischen Al-Akhbar zitiert. Als sie nach Damaskus übersiedelte, sei für die syrische Führung der Widerstand der Hamas gegen die israelische Besatzungspolitik ausschlaggebend gewesen, so Assad weiter. Ihre Mitgliedschaft in der islamischen Muslimbruderschaft – die in Syrien verboten ist – habe für Damaskus keine Rolle gespielt.

Anfang 2012 verließ die Hamasführung Damaskus und bezog in Doha in Katar ein Gästehaus von Scheich Hamad bin Khalife Al-Thani. Chaled Meschaal erklärte offen die Unterstützung der Hamas für die Aufständischen in Syrien, was im syrischen Fernsehen scharf kritisiert wurde. Der Hamasführer habe den »Widerstand gegen Macht« verkauft, hieß es. Die politische Aufwertung der Hamas hielt an. Arabische Staatschefs reisten in den Gazastreifen. Meschaal selbst, der 37 Jahre im Exil gelebt hatte, besuchte im Dezember 2012 in einem fulminanten Triumphzug Gaza-Stadt.

Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi und die erneute Verfolgung der Muslimbruderschaft durch das ägyptische Militär war für die Hamas ein böses Erwachen. Katars Einfluß wurde auf Intervention der USA gedrosselt, fortan übernahm Saudi-Arabien wieder die Führung bei der Unterstützung der Aufständischen in Syrien. Chaled Meschaal sprach nur noch selten mit den Medien. Mitte Oktober wurde nun bekannt, daß er einen Besuch in Teheran plant, einem früheren Verbündeten. Auch mit der Hisbollah im Libanon wurden wieder Gespräche geführt.

Das politische Abenteuer der Hamas an der Seite der Aufständischen in Syrien ist für die Palästinenser schlecht ausgegangen. Die innerpalästinensische Spaltung hat sich verschärft und wie bei ähnlichen Fehlkalkulationen – »Schwarzer September« in Jordanien 1970, Bürgerkrieg im Libanon 1975, Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait 1991 – zahlen die Palästinenser den Preis. Die Hälfte der rund 500.000 Palästinenser, die in Syrien leben, sind heute infolge des Krieges Inlandsvertriebene oder in die Nachbarstaaten geflohen. Sie haben alles verloren.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 17. Oktober 2013


Hintergrund: Das Hilfswerk UNRWA

Der Krieg in Syrien hat die offiziellen neun Flüchtlingslager der 500000 palästinensischen Flüchtlinge nicht verschont. Die meisten Schulen und Krankenhäuser, die das UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge (UNRWA) in den Lagern unterhält, mußten geschlossen oder in Lager für Vertriebene umfunktioniert werden. ­UNRWA schätzt, daß 50 Prozent der Palästinenser in Syrien ihre Wohnungen und Häuser verlassen mußten und in anderen Teilen des Landes oder in einem Nachbarland Zuflucht suchen.

UNRWA arbeitet weiter, doch der Preis ist hoch, wie im 60. Krisenbericht der Organisation von Ende September zu lesen ist. Acht Mitarbeiter wurden getötet, 17 verhaftet oder sie gelten als vermißt, 14 Mitarbeiter wurden im Kreuzfeuer verletzt. 21 UNRWA-Fahrzeuge wurden gestohlen, anderen Fahrzeugen wurde das Benzin aus dem Tank gestohlen. 8506 Personen hat UNRWA in 19 seiner Einrichtungen in Aleppo, Lattakia und Damaskus aufgenommen. Weitere 18000 Menschen sind aus Yarmuk und Ein-El-Tal (Aleppo) und anderen Lagern geflohen.

UNRWA hilft den erneut vertriebenen palästinensischen Flüchtlingen in Syrien mit Unterkunft, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung. Wasserver- und Abwasserentsorgung müssen organisiert werden, Schulunterricht, Trainingsprogramme für Jugendliche und Frauen und die Verteilung von Nothilfe an die Menschen stehen täglich auf dem Programm. Allein in einer Woche wurden landesweit Hilfspakete mit Lebensmitteln an 98523 palästinensische Familien verteilt, heißt es in dem Krisenbericht. Auch palästinensische Flüchtlinge aus dem Irak, die 2006 in Syrien Zuflucht vor dem Krieg in ihrer Heimat suchten, werden von UNRWA versorgt.

Das im Dezember 1949 gegründete Hilfswerk nahm am 1. Mai 1950 seine Arbeit auf. Damals unterstützte UNRWA 700000 Palästinenser, die mit der Gründung Israels (1948) aus ihrer Heimat vertrieben worden oder geflohen waren. Heute versorgt UNRWA fünf Millionen palästinensische Flüchtlinge in 58 Lagern in der gesamten Region des Nahen Ostens. 675,3 Millionen US-Dollar stehen der Organisation für das laufende Jahr 2013 zur Verfügung. Als Nothilfe für die aus Syrien geflohenen Palästinenser oder für die, die im Land vertrieben sind, hat UNRWA weitere 199,6 Millionen US-Dollar beantragt. 150 Millionen davon sollen den Palästinensern in Syrien helfen, 44,7 Millionen den palästinensischen Flüchtlingen, die aus Syrien in den Libanon geflohen sind, und 4,3 Millionen US-Dollar gehen an Palästinenser in Jordanien.

Die fünf größten UNRWA-Unterstützer sind die USA, die EU, Großbritannien, Schweden und Norwegen. (kl)




Zurück zur Syrien-Seite

Zur Palästina-Seite

Zur Gaza-Seite

Zur Seite "Migration, Flucht"

Zurück zur Homepage