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Loyalität, Zurückhaltung oder Einmischung?

Zur politischen Lage der Palästinenser in Syrien

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Der palästinensische Student Marwan (Name von der Autorin geändert) erinnert sich mit Entsetzen an den 17. Dezember 2012, als sich das Leben seiner Familie in Damaskus auf schreckliche Weise änderte. Wie immer waren die Geschwister morgens ins Zentrum gefahren, um zur Universität und zur Arbeit zu gehen. An dem Tag nahmen bewaffnete Gruppen das Lager ein und sperrten es nach außen ab. Marwan und seine Schwester konnten nicht nach Hause und blieben in einem Hotel. Früh am nächsten Morgen hörten sie, dass die Einwohner Yarmuk verlassen konnten. Sofort fuhren sie zum Lager und suchten nach ihrer Mutter, dem Vater und den Geschwistern. „Es war wie in einem Horrorfilm. Tausende Menschen zogen mit dem was sie zusammenpacken konnten die Straße entlang und verließen das Lager. Frauen mit Kindern, alte Leute, eine endlose Schlange von Menschen kam aus dem Lager heraus. Wir erlebten zum zweiten Mal die Nakba (Katastrophe) von 1948, als wir aus Palästina vertrieben wurden“. 80 Prozent der rund 800.000 palästinensischen und syrischen Einwohner flohen an diesem Tag, Yarmuk war zur Kampfzone geworden.

Von Anfang an habe es unter den etwa 500.000 Palästinensern in Syrien verschiedene Meinungen gegeben, wie man sie zu dem Konflikt im Land verhalten sollte, erzählt Marwan. Eine Meinung war, sich nicht einzumischen, weil die Palästinenser als Flüchtlinge aus Palästina Gäste in Syrien seien. Palästinenser seien in ihrer Geschichte immer wieder in politische Ereignisse in ihren Gastländern involviert worden, wie in Jordanien (1970, Schwarzer September), im libanesischen Bürgerkrieg (1975) oder in Kuwait (1990) nach dem Einmarsch der irakischen Truppen. Das habe sich negativ auf die Palästinenser ausgewirkt, daher sei Zurückhaltung geboten. Eine zweite Meinung war, dass die Palästinenser sich einmischen sollten, weil sie seit 1948 in Syrien lebten, Teil der Gesellschaft seien und das Land mit aufgebaut hätten. Innerhalb dieser Meinung gab es wiederum verschiedene Ansichten. Die eine war dafür, sich auf Seiten der Regierung einzumischen, die andere auf Seiten der Opposition. Für die Regierung sprach, dass die jetzige Regierung sich seit den 1970iger Jahren immer für die Rechte der Palästinenser eingesetzt und sie den syrischen Bürgern weitgehend gleichgestellt habe. Schon 1955 hatte das syrische Parlament entschieden, dass die Palästinenser – außer dem Wahlrecht - die gleichen Rechte haben sollten, wie die Syrer. Dem hat sich die Baath Partei immer verpflichtet. Für die Opposition sprach, dass die Rechte der Palästinenser dem syrischen Volk zu verdanken seien, nicht der Baath Partei und der aktuellen Regierung. Weil das syrische Volk von der Regierung ermordet werde, müssten sich die Palästinenser an die Seite der Opposition stellen.

Marwan selber hatte anfangs große Sympathien für die Opposition und beteiligte sich an einigen Demonstrationen. Doch schon bald hätten ihn Parolen, die dort gerufen wurden, davon abgebracht. Forderungen wie eine Flugverbotszone, eine ausländische Intervention oder der Ruf nach Waffen hätten ihn an Libyen erinnert. Der Wunsch der Syrer nach Freiheit und Demokratie sei von den Leuten im Ausland missbraucht worden. Die Militarisierung der Opposition habe ihn restlich überzeugt, dass das der falsche Weg sei. Schließlich müssten die Menschen in Zukunft in Syrien zusammenleben, wie solle das gehen, wenn der eine den anderen töte!

Die Lage der Palästinenser in den 12 Lagern in Syrien habe sich verschlechtert. In Deraa wurden die Palästinenser von den Einwohnern von Deraa unter Druck gesetzt, weil sie sich den Protesten nicht anschlossen. Sie versorgten die Menschen mit Nahrungsmitteln, was dazu führte, dass die Regierung sie beschuldigte, die Opposition zu unterstützen. Ein Palästinenser schloss sich mit 300 Kämpfern der bewaffneten Opposition an, was dazu führte, dass die syrische Armee das Palästinenserlager zerstörte, wo bis zu 25.000 Menschen gewohnt hatten. Das Ramleh Janoubi Lager bei Lattakia wurde beschuldigt, die Opposition zu unterstützen, tatsächlich hatten Syrer aus Idlib und Hama dort vor den Kämpfen in ihren Orten Zuflucht gesucht. Auch in den Lagern bei Aleppo (Neirab, nahe am Flughafen und Ein el-Tal) kam es zu Spannungen. Neirab wurde lange von der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) belagert, die die Autobahn zwischen dem Flughafen und Aleppo unterbrechen wollten. Vor etwa 3 Monaten wurden aus dem El-Tal Lager 6000 Menschen über Nacht von der FSA vertrieben, weil die das Lager aus strategischen Gründen für sich haben wollten. Das Lager in Homs wurde dagegen zu einer Art „Sicherer Hafen“ für Palästinenser und Syrer aus umkämpften Gebieten in Homs.

Samer, der für eine palästinensische Zeitung arbeitet, ist im Lager Yarmuk in Damaskus geblieben. Er wolle das Haus nicht allein lassen, überall gäbe es Diebe und Kriminelle. Die normalen Straßen seien zu Todeszonen geworden, Scharfschützen von beiden Seiten kontrollierten sie, Zivilisten würden in Seitengassen gezwungen. Dort wiederum müssten sie immer neue Kontrollpunkte der bewaffneten Gruppen passieren. „Von der Nusra Front, über Hamas-Kämpfer und Salafisten bis hin zu Kriminellen und Drogenhändlern ist alles vertreten.“ Es habe wenig Freiheit und politische Rechte gegeben und die Protestbewegung am Anfang sei berechtigt gewesen. Doch heute ginge es in Syrien um etwas ganz anderes, ist Samer überzeugt. „Die Syrer müssen heute eine Revolution gegen die Opposition machen, sonst wird es für niemanden mehr Freiheit hier geben.“

* Eine leicht gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel "Wir erlebten zum zweiten Mal die Nakba" in der "jungen Welt" vom 20. Juli 2013.

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Auch Syriens Palästinenser wollen kämpfen, aber nicht gegen Assad. Fabian Köhler in der "jungen Welt" (17. August 2012)




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