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Aufstand in Syrien: Präsident Assad gewinnt Zeit

Von Grigori Melamedow für RIA Novosti *

Die Ereignisse in Libyen haben den Aufstand in Syrien in den Schatten gedrängt.

Erst als Präsident Baschar al-Assad am Dienstag (29. März) seine Regierung entließ, weckte er das Interesse der Medien für sein Land.

In Wirklichkeit aber ist Syrien im Unterschied zu Libyen das Schlüsselglied des politischen Lebens im Nahen Osten. Eine Anspannung dort würde sehr gefährliche Folgen für die ganze Region haben.

Die meisten Syrier sind Sunniten, aber die Herrscherfamilie Assad gehört der kleinen Religionsgemeinschaft der Alawiten an. Die Alawiten haben eine eigenartige Religion, die eine Mischung aus dem schiitischen Islam, dem Christentum und einigen spezifischen alawitischen Traditionen ist. In den frühen 1970er Jahren wurde die alawitische Gemeinschaft besonders aktiv und Hafiz al-Assad, Vater des jetzigen Staatschefs, erklomm den Präsidentenposten. Viele Mitglieder dieser Gemeinschaft übernahmen später weitere wichtige Staatsposten. Schiitische Religionsführer mussten die Alawiten als einen Teil ihrer Bewegung anerkennen, was aber, objektiv gesehen, nicht ganz stimmte. Selbst in dem Fall blieb der Assad-Clan eine religiöse Minderheit im sunnitischen Land. Deshalb ist das politische Regime in Syrien bis heute säkular geprägt.

Das machte Syrien angesichts des Aufschwungs des radikalen Islamismus anscheinend angreifbar. Doch es kam alles ganz anders: Syrien etablierte sich allmählich als wichtigster Partner des schiitischen Irans in der ganzen arabischen Welt. Dank Damaskus finanziert Teheran die Hisbollah in Libanon und andere terroristische Gruppierungen. Auch für die radikalen Palästinenser wurde Damaskus wegen seiner unversöhnlichen Haltung zu Israel zu einer wichtigen Stütze.

Es mag ein Paradox sein, aber auch Israel ist an einer Stabilität in Syrien interessiert. Denn egal wie, aber an der israelisch-syrischen Grenze herrscht seit mehr als 30 Jahren Ruhe. Sollte es zu einem Machtwechsel in Damaskus kommen, dann könnte sich die Situation wieder anspannen.

Auch die USA, die erst vor kurzem Syrien neben Muammar Gaddafi und Mahmud Ahmadinedschad zu ihren größten Feinden gezählt hatten, haben allmählich begriffen, dass die Friedensbemühungen im Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern ohne die Unterstützung Damaskus keine Erfolgsaussichten haben. Noch mehr als das: Nur Syrien ist in der Lage, den Konflikt zwischen den palästinensischen Bewegungen Hamas und Fatah zu schlichten. Seit 2010 bemüht sich der Westen offenbar um eine Annäherung an Syrien und gleichzeitig um die Zerstörung der Partnerschaft zwischen Damaskus und Teheran.

Schließlich sieht auch die Türkei, deren Einfluss im Nahen Osten immer zunimmt, Syrien als einen strategischen Partner an, obwohl beide Länder erst vor wenigen Jahren wegen eines Gebietskonflikts beinahe einen Krieg riskiert hätten. Ein Spaltpilz ist auch die Kurden-Frage.

2004 hatten die syrischen Behörden nur unter größten Mühen einen Kurdenaufstand im Norden des Landes unterdrücken können. Dort kann jederzeit ein neuer Konflikt ausbrechen. Aber in der Türkei stehen bald Parlamentswahlen an, und die kurdischen Separatisten in haben vor kurzem den Waffenstillstand gebrochen. Ankara ist darüber sehr besorgt und kann unmöglich eine Destabilisierung in Syrien und neue Unruhen im syrischen Teil Kurdistans zulassen.

Es sieht also danach aus, dass alle Seiten davon profitieren, wenn Präsident Assad an der Macht bleibt. Barack Obama und Hillary Clinton haben Assad im Grunde „grünes Licht“ für die Unterdrückung der Unruhen gegeben, indem sie ihm zusicherten, Washington würde sich nicht einmischen.

Aber was passiert in Syrien? Dort haben die Menschen mit denselben wirtschaftlichen und sozialen Problemen wie in der ganzen arabischen Welt zu kämpfen. Die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen erreicht 25 Prozent. Der Lebensstandard ist niedriger als in den meisten arabischen Ländern. Kein Wunder, dass auch in Syrien Massenunruhen ausbrachen.

Die Situation wurde zusätzlich durch die Dürre in der Agrarregion Deraa angespannt, wo es zum ersten Blutvergießen gekommen war. Dann wurden auch andere Städte von den Protestaktionen erfasst. Aber während die Einwohner anderer Länder den Rücktritt der Staatsoberhäupter verlangten, spalteten sich die Syrier in zwei Lager: Alle forderten, dass die Regierung entlassen wird. Nur wenige protestierten jedoch gegen Präsident Assad.

Es gibt auch andere Merkmale dafür, dass Assads Position viel stärker als die seiner vielen glücklosen Amtskollegen ist. Im Unterschied zu Ägypten kann die syrische Armee nicht den Schiedsrichter spielen, weil sie dem Staatschef die Treue hält. Dabei achteten sowohl Hafiz als auch Baschar al-Assad immer darauf, dass unter den Generälen keine politischen Führer heranwachsen. In Syrien gibt es eine säkulare Opposition, die sich aber zerstritten ist und – was noch wichtiger ist – keinen Kontakt zum Volk hat. Die Islamisten sind viel enger mit der Bevölkerung verbunden, aber aus den genannten Gründen genießen sie keine Unterstützung aus dem Ausland. Darüber hinaus hält Baschar al-Assad die Islamisten in Schach, damit sie keinen allzu großen Einfluss gewinnen und nicht in der Lage sind, ihre Führer in den Vordergrund zu stellen.

Präsident Assad wollte einen großen Revolutionsbrand verhindern und kündigte Reformen an. Er versprach, den seit vielen Jahren geltenden Ausnahmezustand aufzuheben und den politischen Bereich zu liberalisieren. Nachdem die Protestaktionen aufgelöst worden waren, macht al-Assad seine Minister dafür verantwortlich und entließ sie unter diesem Vorwand.

Am 24. März stellte Assad seine geplanten Reformen vor, die die Einführung eines Mehrparteiensystems, ein neues Mediengesetz, eine Justizreform und einen intensiven Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und Korruption vorsehen. Zum ersten praktischen Schritt wurde die 30-prozentige Gehaltserhöhung für Beamte.

Allerdings gelang es Assad, mit der Entlassung der Regierung Eigenwerbung zu machen: Die Menschen gingen plötzlich auf die Straßen und demonstrierten dem Staatschef und seinen Reformen ihre Unterstützung.

Es bestehen keine Zweifel, dass Präsident Assad auch die jüngste Protestwelle in den Griff bekommt. Doch voraussichtlich wird er sich nicht dazu durchringen, echte Reformen zu vollziehen, weshalb die ersten Wahlen mit mehreren Parteien wohl viel später stattfinden. Das könnte neue Proteste auslösen, die dann gegen ihn persönlich gerichtet wären. Aber bis dahin könnte sich auch die gesamte Situation in der arabischen Welt ändern.

Aber vorerst hat Baschar al-Assad sein Ziel erreicht – er hat Zeit gewonnen.

* Zum Verfasser: Politologe Grigori Melamedow ist am Moskauer Orientalistik-Institut tätig.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 31. März 2011



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