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"Planwirtschaft" ade

Syrien öffnet sich dem "Washington Consensus". Die Folgen: Mehr Konkurrenz, steigende Kriminalität und zunehmende Verarmung

Von Raoul Rigault *

Mit George W. Bush ist auch die »Achse des Bösen« in der Versenkung verschwunden. Bestes Beispiel dafür ist Syrien. Der ehemalige »Schurkenstaat« gilt westlichen Planungsstäben immer mehr als Stabilitätsfaktor. Ein Grund für die neue Harmonie liegt in der neoliberalen syrischen Politik der letzten Jahre. »Präsident Baschar Al-Assad hat wirtschaftliche Liberalisierung, Marktöffnung und Verwaltungsreform zu Hauptanliegen seiner wirtschaftlichen Reformpolitik gemacht. Der im Mai 2006 verabschiedete 10. Fünfjahresplan für 2006 bis 2010 markiert den Beginn einer Transformation der syrischen Wirtschaft von einer Plan- zur sozialen Marktwirtschaft«, lobt das deutsche Außenministerium in seiner Länderstudie.

Tatsächlich wurden unter der Ägide von Assad junior - er wurde im Juli 2000 nach dem Tod seines Vaters ohne Gegenkandidaten mit 97,3 Prozent der Stimmen ins Amt gewählt und im Mai 2007 für weitere sieben Jahre bestätig - einschneidende Reformen in Richtung Freihandel und Finanzkapitalismus vollzogen. Auf die Vereinheitlichung des Wechselkurses folgte die Zulassung privater Banken im Jahr 2004 und privater Versicherungen 2006. Hinzu kamen drastische Senkungen der Schutzzölle für die einheimische Industrie und der Körperschafts- und Einkommenssteuer sowie die Öffnung nahezu aller Branchen für private in- und ausländische Investoren. Bislang letzter Schritt war die Schaffung eines eigenen Aktienmarktes Anfang April. »Die Börse leitet eine Wende in unserer Wirtschaft ein«, verkündete Finanzminister Mohammed Al-Hussein zur Eröffnung.

Größer als die unmittelbare materielle Bedeutung ist das Signal, das davon ausgeht. Der Anfang ist bescheiden und angesichts der Krise an den wichtigsten Weltbörsen tastet man sich in Damaskus vorsichtig aufs Börsenparkett. Notiert sind zunächst nur sechs Firmen, und gehandelt wird nur montags und donnerstags. Bei Preisschwankungen von mehr als zwei Prozent ist zudem die vorübergehende Einstellung des Handels vorgesehen, um die Spekulation einzudämmen. Im nächsten Schritt soll ein Gesetz dafür sorgen, daß syrische Firmen international gültige Buchführungsregeln anwenden, um mehr Transparenz zu schaffen. Schließlich soll die Damascus Security Exchange »Investoren ermuntern und dazu beitragen, Kapital und Ersparnisse zu absorbieren«.

Den Kapitalbedarf veranschlagt der Planungsminister und stellvertretende Regierungschef Abdullah Dardari auf umgerechnet mindestens 14 Milliarden Dollar in den kommenden zwei Jahren. Nur so ließe sich ein Wirtschaftswachstum von sechs bis sieben Prozent erreichen, das lebensnotwendig sei, um eine ausreichende Zahl an Arbeitsplätzen zu schaffen. Das ist mitten in der Krise ein wenig realistisches Ziel, zumal seit dem Einbruch 2003 das Wachstum der syrischen Wirtschaft nur zwischen 2,8 und 4,4 Prozent pendelte und der Zufluß ausländischer Direktinvestitionen zuletzt gerade mal 600 Millionen Dollar betrug.

Doch die Regierung plagen strukturelle Probleme. Die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 18 Jahre. Die Einwohnerzahl wächst jährlich um 2,2 Prozent, und die reale Arbeitslosenquote liegt bei mindestens 20 Prozent. Außerdem wird damit gerechnet, daß in den kommenden Monaten viele der rund 700000 syrischen Arbeitsmigranten aus Saudi-Arabien zurückkehren werden. Denn in der Ölmonarchie läuft ein Programm zur »Nationalisierung der Arbeit«, um die eigene Jugenderwerbslosigkeit in den Griff zu bekommen. Damit dürfte auch ein Großteil der jährlichen Überweisungen in Höhe von 850 Millionen Dollar wegfallen, die das syrische Leistungsbilanzdefizit bei knapp drei Prozent in überschaubaren Grenzen hielten. Zwar ist die Handelsbilanz noch ausgeglichen, doch die syrische Ölförderung sinkt beständig. Dabei stellen Erdöl und petrochemische Produkte zwei Drittel aller Exporte. Einen Ausgleich soll in Zukunft die verstärkte Ausbeutung der Gaslagerstätten schaffen. Weitere Hoffnungen setzt man in Damaskus auf das Assoziierungsabkommen mit der EU, das aufgrund des guten Verhältnisses der Regierung zu Hamas, Hisbollah und Teheran seit Jahren auf Eis liegt, nun aber demnächst abgeschlossen werden soll. Sollte es dazu kommen, winken mehrere Milliarden Euro aus dem EU-Nachbarschaftsprogramm.

Ob damit der durch die neoliberalen Reformen angehäufte soziale Zündstoff entschärft werden kann, ist fraglich, denn die Korruption insbesondere der oberen Zehntausend ist sprichwörtlich. »Die Liberalisierung des Marktes hat wenige Familien reich gemacht. Klassenunterschiede treten nun in einer Schärfe hervor, die Syrien bislang nicht kannte«, gestand selbst das Handelsblatt in einem Bericht am 23.Dezember 2008 ein.

Auch zuvor war der »arabische Sozialismus« der herrschenden Baath-Partei und der neun Blockparteien der Progressiven Nationalen Front der Masse der Syrer einiges schuldig geblieben. So liegt die Analphabetenrate noch immer bei 20,4 Prozent. Im Nachbarland Jordanien sind es nur 10,1 Prozent. Laut dem politischen Analysten Basel Awdat leben 40 Prozent der syrischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Doch seit Beginn der neoliberalen Öffnung liegt der monatliche Durchschnittslohn, trotz einer offiziellen Inflation von jährlich knapp zehn Prozent unverändert bei umgerechnet 150 Euro. Die meisten können da nur mit einem Zweit- oder Drittjob überleben. Die vom Westen und Teilen der herrschenden Schicht angestrebte »Verwaltungsreform« wird die Widersprüche weiter verschärfen, denn 32 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten im öffentlichen Dienst. Und genau diese Menschen bilden bislang die Massenbasis der Baath-Partei.

* Aus: junge Welt, 27. April 2009


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