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Frieden unerwünscht

Hintergrund. Syrien – NATO eskaliert Contra-Krieg

Von Joachim Guilliard *

Syrische Rebellen kündigen Annan-Friedensplan auf«, berichteten am 4. Juni die Medien ohne die geringste Ironie. Dabei waren bei Gefechten schon zwei Tage zuvor nach Angaben der Opposition 89 Menschen getötet worden, darunter 57 Soldaten – die Armee sei sehr verwundbar gegen die Angriffe bewaffneter Gruppen, da die Soldaten für solche Kämpfe nicht trainiert sind, so die »Syrische Beobachtungstelle für Menschenrechte« in London. War die Gewalt und die Zahl der Opfer allgemein seit Beginn des Waffenstillstandes am 12. April erheblich zurückgegangen, so war gleichzeitig die Zahl getöteter Polizisten und Soldaten massiv gestiegen. Im Mai und April war sie, wie David Enders (McClatchy, 2.6. und 5.6. 2011) berichtet, mehr als doppelt so hoch wie im März. Dies korrespondiert mit den Berichten der UN-Beobachter, die zwar einen starken Rückgang »offensiver militärischer Operationen« der Armee meldeten, gleichzeitig jedoch eine massive Zunahme von Angriffen aufständischer Gruppen feststellten.

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen jedoch verurteilt in seiner jüngsten Resolution allein die syrische Regierung, weil sie ihre Pflicht zur Einstellung aller Gewaltakte verletzt habe. Auch in der Erklärung des UN-Sicherheitsrates zum Massaker in Al-Hula wird allein die Führung in Damaskus beschuldigt, die Waffenstillstandsverpflichtungen durch Einsatz schwerer Waffen in bevölkerungsreichen Zentren verletzt zu haben und aufgefordert ihre Truppen in die Kasernen zurückzuziehen. Unter den aktuellen Bedingungen würde dies in einigen Regionen bedeuten, schwerbewaffneten Banden das Feld zu überlassen.

Assad-Gegner rüsten auf

Obwohl schnell deutlich wurde, daß das Massaker von Al-Hula auf das Konto regierungsfeindlicher Kämpfer ging, wird es seither genutzt, um die Stimmung gegen die syrische Führung anzuheizen. Zahlreiche Scharfmacher erklärten einmal mehr den Friedensplan von Kofi Annan für gescheitert, und führende westliche Politiker rufen wieder laut nach einer militärischen Intervention. Ungeachtet ihrer verbalen Unterstützung für Annans Bemühungen haben die NATO-Staaten deren Erfolg offensichtlich nie ernsthaft gewünscht, strebten sie doch weiterhin ganz offen einen Umsturz an. Unmittelbar nach Annahme des Friedensplans sagten sie auf dem Istanbuler Treffen des als »Freunde Syriens« firmierenden Interventionsbündnisses gemeinsam mit den arabischen Feudalherren den bewaffneten, in- und ausländischen, regimefeindlichen Kämpfern über 100 Millionen Dollar für Sold und Ausrüstung zu. Und dieses Geld wurde offenbar schon effektiv investiert.

Die Aufständischen erhalten nun seit einigen Wochen deutlich mehr und bessere Waffen, meldete die Washington Post Mitte Mai, finanziert von den Golfmonarchien und koordiniert von den USA. Die US-Regierung habe den Kontakt mit bewaffneten oppositionellen Kräften ausgeweitet und versorge die arabischen Herrscherhäuser mit Beurteilungen der Glaubwürdigkeit und der Kommandostruktur von Rebellengruppen. War den Aufständischen vor zwei Monaten langsam die Munition ausgegangen, sind mittlerweile riesige Lieferungen ins Land gekommen.

Auch einige aufgeflogene Waffenlieferungen deuten auf einen enormen Zufluß von Kriegsgerät für die Aufständischen hin. Als z.B. die libanesische Marine am 28. April den Frachter Lutfallah II auf seiner Fahrt von Alexandria nach Tripoli im Norden Libanons abfing, fand sie drei Container mit 150 Tonnen Waffen und Munition, darunter Raketenwerfer, schwere Maschinengewehre, Artilleriegranaten und Sprengstoff. Als die Libanesen dem Fall weiter nachgingen, entdeckten sie in Tripoli auch noch zwei Lagerhäuser voller Waffen, die über die nahegelegen Grenze geschmuggelt werden sollten.

Dieser Schmuggel bedeute nicht nur einen Bruch internationaler Abmachungen, offensichtlich versuchen einige Mächte die Umsetzung des Friedensplans zu sabotieren, kommentierte das russische Außenministerium diese und weitere Funde.

Die Wirkungen der neuen Waffen konnte man auch bald beobachten, so die Washington Post, beispielsweise bei Gefechten um die Stadt Rastan, in der Nähe von Homs, wo Rebellen eine Armeebasis stürmen und 23 Soldaten töten konnten. Plötzlich begannen auch in wachsender Zahl schwere T72-Panzer in Feuerbällen zu zerbersten, denen die Rebellen bis April wenig anhaben konnte. Doch mittlerweile wurden sie, wie der israelische Militärinformationsdienst DebkaFile berichtete, auch mit den allermodernsten Panzerabwehrwaffen der »dritten Generation« aus den USA ausgerüstet. Zudem habe der türkische Geheimdienst grünes Licht erhalten, die islamistischen Kämpfer mit Sprengfallen auszustatten und sie in deren Verwendung zu trainieren. Auch moderne deutsche Maschinengewehre des Typs »HK MG4« von Heckler & Koch, die ansonsten die Bundeswehr nutzt, haben, den Informanten von DebkaFile zufolge, die Rebellen im Einsatz.

Darüber hinaus bemüht sich Washington aktiv, den Aufstand auszuweiten. Regierungsmitglieder trafen sich laut Washington Post mit syrischen Kurden, um über die Eröffnung einer »zweiten Front« gegen die syrische Regierung im Norden des Landes zu beraten, wo die Situation bisher ruhig blieb. Dadurch würde die syrische Armee gezwungen, Kräfte aus dem Westen abzuziehen.

Auch Berlin ist nicht untätig. Unter deutschem Vorsitz hat in Abu Dhabi eine multinationale »Arbeitsgruppe« ihre Arbeit aufgenommen, die ökonomische Sofortmaßnahmen für die Zeit nach dem Sturz des Assad-Regimes in die Wege leiten soll. Eingesetzt wurde sie auf dem Istanbuler Treffen der »Freunde des syrischen Volkes«. Unterdessen trainieren Aufständische in Ausbildungslagern im Kosovo »Terrortaktiken«, so Russia Today, und lassen sich von den erfahrenen UCK-Führern darin beraten, wie man die westliche Öffentlichkeit manipulieren und Vorwände für eine NATO-Intervention schaffen kann. Auch dies geschieht im EU-Protektorat sicherlich nicht ohne deutsche Unterstützung.

Die Ausbildung syrischer Kämpfer durch westliche und arabische Militär- und Geheimdienst­angehörige ist ohnehin seit langem in Gange. Längst sind Agenten der CIA sowie britische und französische Spezialeinheiten in Syrien als Berater aktiv. Die Panzerabwehrwaffen der »dritten Generation« mit denen nun die syrische Flotte von T72-Panzern dezimiert wird, wurden sicherlich nicht ohne direkte Anleitung vor Ort übergeben.

Einseitiger Waffenstillstand

Seit Ankunft der ersten UN-Beobachter am 12. April habe sich die Lage zuungunsten von ­Assads Regierung entwickelt, stellte auch die Neue Zürcher Zeitung fest. Da die Armee sich stark zurückhält und ihr das Waffenstillstandsabkommen die Verwendung schwerer Waffen in besiedeltem Gebiet untersagt, konnten die bewaffneten Rebellengruppen ihre Positionen absichern und die von ihnen kontrollierten Gebiete ausdehnen. Auch die jüngsten Bombenattentate in Damaskus und Aleppo ließen auf ein verändertes Vorgehen der stark zersplitterten syrischen Opposition schließen.

Die »Faruk-Brigade«, die größte Freischärlertruppe in Syrien, habe sich zu einer »elastischen« Guerillatruppe entwickelt, schreibt McClatchy-Korrespondent David Enders Mitte April anerkennend aus deren Stützpunkt in Qusayr, einer Kleinstadt nahe Homs, direkt an der libanesischen Grenze. Sie könne zwar nicht lange größere Gebiete halten, sei aber fähig, den syrischen Regierungskräften schwere Verluste zuzuführen. Und offensichtlich ist die für ihre Brutalität berüchtigte Miliz dazu auch weiterhin willens. Obwohl als anerkannte Formation in direktem Kontakt mit der UN-Mission, kündigten ihre Kommandanten nur wenige Tage nach Bestätigung von Annans Friedensplan durch den UN-Sicherheitsrat offen an, ihre Angriffe noch zu intensivieren – sowohl durch Bomben gegen Militärkonvois, als auch durch Angriffe auf Kasernen und Kontrollposten.

Dieses und zahlreiche weitere Beispiele zeigten von an Anfang deutlich, wo die tatsächlichen Schwierigkeiten bei der Durchsetzung eines Waffenstillstandes liegen. Während die syrische Regierung nach Ansicht vieler Beobachter offensichtlich sehr um dessen Umsetzung bemüht ist, mit dem sie letztlich auch ihre Autorität wieder stabilisieren würde, scheitert dies daran, daß die Kräfte, die kompromißlos den Sturz des Regimes anstreben, selbstverständlich alles tun, um den »Topf der Rebellion am Kochen zu halten«, wie es Patrick Cockburn treffend formulierte.

Auch die Beobachtermission der UNO (­UNSMIS) bescheinigte der Armee, daß sie ihre »offensiven militärischen Operationen« in den letzten sechs Wochen »deutlich verringert« hat, stellte jedoch gleichzeitig eine deutliche »Zunahme von Angriffen und Attentaten durch Militante« fest. Dennoch wird jeder Bericht über Waffeneinsätze der Armee im Westen genutzt, um die Regierung weiter zu isolieren und als blutrünstiges Schurkenregime zu diskreditieren.

Terror mit religiöser Note

Parallel zu den Angriffen auf Regierungskräfte nahmen auch Terroranschläge in den Zentren zu. So detonierten am 10. Mai zwei Autobomben mit 1400 Kilogramm Sprengstoff vor einem Geheimdienstkomplex mitten in Damaskus, töteten 55 Menschen und verwundeten 372. Dies war jedoch nur der fürchterliche Auftakt zu einer ganzen Serie von Bombenattentaten.

Zudem mehren sich seit Beginn des Waffenstillstands auch die tödlichen Attentate auf regierungstreue Persönlichkeiten und Gegner des Aufstands. Besonders betroffen sind Alawiten und Christen. Solche Mordanschläge mit religiösem Unterton gab es zwar von Anfang an, in den letzten Wochen nahmen sie jedoch sprunghaft zu.

Die Situation in Damaskus habe sich nach der Ankunft der ausländischen Beobachter wesentlich verschlechtert, berichteten auch Einwohner der Stadt Ende Mai der russischen RIA Novosti. Praktisch jede Nacht würden bewaffnete Gruppierungen Kontrollposten der Armee und Mitglieder der Sicherheitskräfte angreifen. Die meisten Einwohner, die von der russischen Nachrichtenagentur befragt wurden, sehen im aktuellen Geschehen nichts anderes als Provokationen, die auf eine Torpedierung des Plans von Kofi Annan gerichtet sind. Den Höhepunkt dieser Provokationen bilde das Massaker am 25. Mai in Hula. Viele von denen, die anfangs in der syrischen Regierung und in der Armee die Hauptschuldigen für die Gewalteskalation im Land gesehen hatten, hätten inzwischen ihre Haltung revidiert und würden immer häufiger von einer »dritten Kraft« sprechen, d.h. von Terroristen, die von außen finanziert werden.

Selbst die New York Times kam nicht umhin zu bemerken, daß all diese »Taktiken«, von individuellen Attentaten bis zu Straßenbomben auf Militär- und Regierungsfahrzeuge, denen gleichen, die »Aufständische in Plätzen wie dem Irak anwenden«, wo das US-Militär sie »als terroristische Anschläge« bezeichne. Doch obwohl die US-Armee im Irak und in Afghanistan im Kampf gegen diese »Aufständischen« unzählige Angriffe auf Städte durchführte – nicht nur mit Panzern, sondern auch mit Kampflugzeugen, Bombern, Raketen und Killerdrohnen – hat das Blatt dies zu keinem Zeitpunkt zum Skandal gemacht oder gar George Bush und Barack Obama als »Schlächter« tituliert.

Die »dritte Kraft« die im Zusammenhang mit Terrorschlägen gern erwähnt wird, wird häufig mit Al-Qaida assoziiert. So konstatiert das Bundesverteidigungsministerium durchaus eine Zunahme »asymmetrischer Angriffe«, wie Hinterhalte und Bombenanschläge genannt werden, ordnet sie aber »Dschihadisten und Al-Qaida-nahen Terrorgruppen« zu. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon machte unlängst das Terrornetz für die Bombenanschläge in Syrien verantwortlich. In der Tat gibt es einen hohen Anteil ausländischer islamistischer Kämpfer in Syrien, die teilweise auch aus Gruppen kommen, die als Al-Qaida-nahe gelten, wie beispielsweise das »Islamische Emirat im Irak« oder die »Libyschen Islamischen Kampfgruppen«.

Al-Qaida sei aber nicht im Land, versicherte Khaled, ein führender libanesischer Kämpfer in den Reihen der Assad-Gegner, der Beiruter Zeitung Daily Star. Sie seien nur rechtgläubige Muslime, die zum »heiligen Krieg« gegen Assad nach Syrien kamen.

Khaled, der bereits vor einem Jahr, d.h. unmittelbar nach Ausbruch der ersten Unruhen, nach Syrien ging, ist einer von schätzungsweise 300 Libanesen, die sich allein aus der Bekaa-Ebene dem Kampf gegen die säkulare Regierung in Damaskus und deren »ungläubige« Unterstützer angeschlossen haben.

Insgesamt dürften es Tausende sunnitische Kämpfer sein, die aus dem Libanon, Libyen und vor allem aus dem Irak, aber auch aus Tunesien, Algerien, Jordanien und Saudi-Arabien kommend nach Syrien eingeschleust wurden und nun an der Seite der sich überwiegend aus Muslimbrüdern und salafistischen Gruppen rekrutierenden syrischen Rebellen kämpfen. Mit »Dschihadisten« liegt das Verteidigungsministerium in bezug auf die »asymmetrischen Angriffe« somit gar nicht so daneben – allerdings sind diese integraler, wenn nicht gar dominierender Teil der von den NATO-Staaten unterstützten sogenannten »Freie Syrische Armee« (FSA).

Doppelbödiger Friedensplan

Obwohl all dies seit langem allgemein bekannt ist, fordert Kofi Annans Friedensplan konkret nur die syrische Regierung auf, die Kampfhandlungen zu beenden und ihre Truppen aus den umkämpften Städten zurückzuziehen. Zusätzlich soll sie »erreichen, daß alle Parteien die bewaffnete Gewalt in all ihren Formen effektiv einstellen«. Gleich zweimal erhebt der Text diese Forderung. Doch sie ist offensichtlich uneinlösbar, wie auch der Friedensforscher Reinhard Mutz in einem Gespräch mit dem Deutschlandradio am 14. Mai feststellte.

Will Annan Erfolg haben, so muß er seinen Appell an die Staaten richten, die die diversen aufständischen Kräfte finanzieren, aufrüsten und anleiten – d.h. vor allem an die NATO-Länder. Doch für diese war der Friedensplan offensichtlich nur ein kurzfristiger taktischer Rückzug, ein Schritt zurück, damit die Kräfte vor Ort, die zu Beginn des Jahres empfindliche Niederlagen erlitten hatten und aus ihren Hochburgen vertrieben wurden, sich wieder sammeln und mit neuen und besseren Waffen versorgen können.

»Ein wirksamer Aufsichtsmechanismus der Vereinten Nationen« soll an sich die Einhaltung der Waffenruhe überwachen. 300 internationale Beobachter sind dafür, da ist sich Reinhard Mutz mit vielen Experten einig, viel zu wenig. Die Personalstärke der OSZE-Beobachter-Mission im Kosovo 1999 betrug 2000 Mann, Syrien ist jedoch 17mal größer als die serbische Provinz. Ob dem Land allerdings mit mehr Beobachtern besser gedient wäre, ist fraglich. Zum einen müßte gewährleistet werden, daß diese sich tatsächlich rundum neutral verhalten und nicht Geheimdiensten kriegslüsterner Staaten zuarbeiten oder im Verein mit Aufständischen Vorwände für eine Intervention schaffen, wie der berüchtigte US-Botschafter William Walker als Leiter der Kosovo-Mission mit dem angeblichen »Racak-Massaker«.

Zum anderen droht auch dieser Mission, wenn sie ihre Arbeit ernstnimmt und nicht einfach liefert, was im Westen erwartet wird, daß sie genauso ignoriert wird, wie die der Arabischen Liga zuvor.

NATO auf Kriegskurs

Zunächst war das vorrangige Ziel, der von den falschen »Freunden Syriens« unterstützten Rebellentruppen, die syrischen Sicherheitskräfte zu militärischen Aktionen zu provozieren, um die Assad-Regierung wegen Bruchs der Waffenruhe anprangern und dadurch international weiter isolieren zu können. Insbesondere soll so der politische Preis für Rußland und China für ihren Widerstand gegen weitere Eskalationsschritte immer weiter in die Höhe getrieben werden, bis diese aufgeben. Der Umgang westlicher Regierungen mit den jüngsten Massakern zeigt diese Absicht deutlich.

Die russische Regierung kritisierte dann auch vor der UN-Generalversammlung, die Bewaffnung und Finanzierung der syrischen Opposition würde ein »Terrorumfeld schaffen«. Der russische Vetreter Witali Tschurkin appellierte an die Versammlung, sich nicht durch »Provokationen, die auf die Zerstörung von Annans Plan zielen« in die Irre führen zu lassen.

Die syrische Armee steht vor einem Dilemma: Einerseits verpflichtet sie die Waffenruhe zur militärischen Zurückhaltung, andererseits muß sie verhindern, daß aufständische Kräfte erneut, wie nach ihrem Rückzug beim Eintreffen der Beobachtermission der Arabischen Liga, immer mehr Stadtteile und Ortschaften unter dauerhafte Kontrolle bekommen und diese gar zu größeren »befreiten Gebieten« ausweiten. Die NATO könnte dann, wie im Fall von Libyen, den »Schutz« solcher Gebiete zum Aufhänger für eine militärische Intervention nehmen. Für viele US-Strategen ist das Fehlen eines solchen Gebietes, neben der Zersplitterung der Opposition, einer der Hauptgründe, die aktuell noch gegen eine direkte Militärintervention sprechen.

Gehen die syrischen Truppen jedoch massiv militärisch gegen die Bastionen regimefeindlicher Kämpfer vor, stehen sie sofort wegen Verletzung der Waffenruhe und Angriffe auf Wohngebiete am Pranger. Während die NATO-Streitkräfte in solchen Fällen extensiv die Luftwaffe einsetzen, hat die syrische Regierung bisher aus guten Gründen darauf verzichtet.

Hält sich die Armee jedoch zurück, fühlen sich die Anwohner, die der Herrschaft islamistischer Kämpfer überlassen und nicht selten von diesen terrorisiert werden, verraten. Alawiten, Christen und anderen als regimeloyal geltenden Minderheiten bleibt oft nur die Flucht. Dies schwächt nicht nur die staatliche Autorität, sondern ermutigt selbstverständlich alle mögliche Kräfte, auf Recht und Gesetz zu pfeifen.

Auch wenn die NATO bisher offiziell eine offene Militärintervention gegen Syrien ausschloß, ist die Gefahr eines direkten Angriffs mittlerweile akut. Indem die türkische Regierung ankündigte, wegen Grenzverletzungen eventuell Artikel IV des Nordatlantikvertrags zu aktivieren, hat sie ein weiteres potentielles Einstiegsszenario dafür angedeutet. Die Berufung auf Artikel IV würde, so die Washington Post, die Tür zu Konsultationen über eine »Bedrohung der Sicherheit der Türkei« und der »Zusicherung gegenseitiger Verteidigung« nach Artikel V öffnen, d.h. über die Ausrufung des sogenannten Bündnisfalles. Als im Mai die syrische Armee Rebellen zurückschlug, die von der Türkei aus Grenzposten angegriffen hatten, hatte der türkische Premier, Recep Erdogan, bereits getönt, daß die NATO gemäß Artikel V die Verantwortung habe, die türkische Grenze zu schützen.

Parallel dazu wurden nach Informationen des libanesischen Daily Stars auch Pläne zur Einrichtung sogenannter »sicherer Häfen« für Flüchtlinge aus Syrien fertiggestellt – d.h. Gebiete auf syrischem Territorium, die ohne Zustimmung der Regierung in Damaskus unter die Kontrolle von NATO-Spezialeinheiten gestellt werden sollen. Einheiten der britischen Special Air Forces (SAS) und des Auslandsgeheimdienstes MI6 seien dazu bereits vor Ort. Sie würden Teil einer internationalen Einsatztruppe werden, die französische, türkische und eventuell auch US-Truppen umfasse.

Der britische Außenminister William Hague, der militärische Aktionen gegen Syrien nie ausschloß, gestand durchaus ein, das die Einrichtung von solchen »sicheren Häfen eine Invasion in Syrien wäre«, hofft aber auf Akzeptanz, da diese »die Chance böten, Leben zu retten«. Die SAS-Einheiten könnten binnen Stunden einen »bewaffneten Schirm« um diese Gebiete aufstellen und seien auch durchaus zu Kämpfen auf engstem Raum fähig.

Zudem habe, wie Debkafile am 11. Juni meldete, US-Präsident Barack Obama Luftwaffe und Marine angewiesen, ihre Vorbereitungen für eine »begrenzte Luftoffensive« gegen Syrien zur Durchsetzung einer »Flugverbotszone« zu beschleunigen. Grund dafür könnte sein, daß die syrischen Streitkräfte in ihrer Bedrängnis zunehmend Kampfhubschrauber gegen die Stellungen der Aufständischen einsetzen.

Im Moment setzen die NATO-Staaten und ihre Verbündeten, wie es scheint, noch auf die Ausweitung der Kämpfe im Land, um sich so eine große Bandbreite von Interventionsmöglichkeiten zu schaffen. Das Pentagon habe zwar bereits Pläne für Luftangriffe zur Ausschaltung der syrischen Luftabwehr ausgearbeitet, solche Angriffe seien aber noch sehr unwahrscheinlich, so Pentagon-Mitarbeiter gegenüber der Washington Post. Die USA und ihre Verbündeten würden zunächst auf eine bessere Koordination und Ausrüstung der Rebellenverbände setzen.

Damit wird ein Krieg niedriger Intensität ausgeweitet, der dem der Contras in den 1980er Jahren in Zentralamerika gleicht, wie auch der syrische Oppositionelle Kadri Jamil von der »Volksfront für Veränderung und Befreiung« im Gespräch mit der Journalistin Karin Leukefeld (jW vom 12.12.2011) erbittert feststellte. Auf diese Weise soll die Regierung weiter geschwächt, Leute aus der Führung zur Abkehr und die Teile der Bevölkerung, die noch hinter der Assad-Regierung stehen, durch die stetige Verschlechterung der Lebensverhältnisse zum Umdenken genötigt werden.

»Glaubhafte Abstreitbarkeit«

Das Vorgehen gegen Syrien scheint exakt einem Schema zu folgen, wie es das einflußreiche »Brookings Institute« in seinem Strategiepaper »Which Path to Persia?« (Welcher Weg für Persien?) vor drei Jahren für einen Regimewechsel im Iran formulierte. Detailliert wird hier in Abschnitt drei herausgearbeitet, wie man eine Volkserhebung anregen, einen Aufstand anzetteln oder einen Putsch befördern kann. »Ein Aufstand ist oft einfacher von außen anzuzetteln und zu unterstützen«, heißt es hier beispielsweise und: »Aufstände sind hervorragend billig zu fördern.« Die »verdeckte Unterstützung eines Aufstandes« biete zudem die Möglichkeit der »glaubhaften Abstreitbarkeit«, wie das Vermeiden nachweisbarer Spuren genannt wird, und habe weniger »diplomatische und politische Rückwirkungen« als »eine direkte militärische Aktion«. Sobald das Regime einige wesentliche Rückschläge erlitten habe, sei die Gelegenheit zum Handeln da.

Genauer noch sind die Schritte im aktuellen Ausbildungshandbuch für »Unkonventionelle Kriegsführung der Spezialkräfte« der US-Armee beschrieben. Ziel dieser verharmlosend »unkonventionell« genannten Kriegsführung ist es, »die politischen, militärischen und psychologischen Schwachstellen einer feindlichen Macht für strategische Ziele der USA auszuschlachten, indem Widerstandskräfte aufgebaut und gestärkt werden«, heißt es in der Einleitung. Unschwer lassen sich in diesem Handbuch Parallelen zur Entwicklung in Libyen erkennen.

Bezüglich Syrien wurden die Möglichkeiten in Washington lange Zeit als schlecht eingeschätzt, da Präsident Baschar Al–Assad zu Hause recht populär und seine Regierung sehr stabil war. Wie eine von Wikileaks veröffentlichte US-Botschaftsdepesche aus Damaskus zeigt, arbeitete man aber schon 2006 eifrig daran, Schwachstellen zu identifizieren. Genannt wurden neben den Konflikten mit Kurden und islamistischen Kräfte u.a. auch die wirtschaftlichen Probleme, die man Assad wegen »verfehlter« und »ineffizienter Reformbemühungen« anlasten könne. Zunächst benötige man die lokale und nationale Agitation und die Organisation von Protestaktionen, Boykotts und Streiks, um öffentliche Unzufriedenheit auszudrücken. Dann folge »die Infiltration von ausländischen Organisatoren und Beratern sowie Propagandamaterial, Geld, Waffen und Ausrüstung«. Der nächste Schritt besteht in der Gründung »nationaler Frontorganisationen« (etwa wie der »Libysche Übergangsrat« oder der »Syrische Nationalrat«) und »einer Befreiungsbewegung« (etwa wie die FSA) die größere Teile der Bevölkerung dazu bewegen können, »verschärfte politische Gewalt und Sabotage zu akzeptieren«, sowie fähig sind, Individuen und Gruppen zu motivieren, Untergrundaktivitäten wie »Sabotageakte in urbanen Zentren« durchzuführen.

Sobald die Regierung zurückschlage, können die negativen Seiteneffekte der Vergeltungsmaßnahmen von Aufständischen genutzt werden, »um breitere Unterstützung von der Bevölkerung zu erhalten, indem sie die Opfer und Härten herausstreichen, die sie im Einsatz ›fürs Volk‹ erleiden müssen«, heißt es in Absatz 1-43. Falls scharfe Gegenmaßnahmen ausblieben, könne dies wiederum als Beweis für die Schwäche des Regimes und die Fähigkeiten des »Widerstandes« dargestellt werden, einen effektiven Kampf gegen die Regierung führen zu können.

Eine ausführliche Version des Artikels mit Quellenangaben ist in Kürze auf dem Blog des Autors nachlesbar: jghd.twoday.net

* Aus: junge Welt, Freitag, 15. Juni 2012


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