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Das Leben hinter den Schlagzeilen

Wenn Medien über Syrien berichten, hängt das präsentierte Bild häufig von ihrem Standpunkt ab. Mit den Problemen der Leute hat es jedoch nur selten zu tun. Eine Reportage über den Alltag in einem umkämpften Land

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Als ich Anfang Januar von Beirut nach Damaskus fahre, wird die Lage in Syrien in den Medien mit folgenden Schlagzeilen beschrieben: »Assad ruft in TV-Ansprache zur Mobilmachung auf« (Spiegel online)/»Assad ruft erneut zu nationalem Dialog auf« (AFP)/»Aktivisten berichten von Gefechten im ganzen Land« (AP)/»Chemical weapons showdown with Syria« (New York Times)/»Deutschland beginnt mit der Stationierung von Patriot-Raketen in der Türkei« (Russia Today). 87 Tote soll es bei einem Anschlag auf die Universität von Aleppo gegeben haben, ein Journalist des Nachrichtensenders Russia Today wurde bei Gefechten in Damaskus verletzt. Der iranische Präsident sagt, ohne Verhandlungen gibt es keine Lösung in Syrien, und die Aufständischen lassen 42 entführte iranische Gefangene im Austausch für gefangene Aufständische frei. Kämpfe werden aus der Umgebung verschiedener syrischer Flughäfen gemeldet, Moskau schlägt erneut Gespräche für einen Übergangsprozeß vor. Kofi Annan sagt bei der Vorstellung seines neuen Buches, regionale Staaten behinderten die Bemühungen um eine ernsthafte Lösung in Syrien, und die US-Organisation »Human Rights Watch« berichtet, daß bewaffnete Aufständische religiöse Stätten in Syrien in Brand gesetzt und geplündert hätten.

Und wie sieht das Leben hinter den Schlagzeilen aus? An der libanesisch-syrischen Grenze fallen zunächst die vielen Menschen auf, die in den Libanon einreisen wollen. Taxis, Kleinbusse, teure Luxuslimousinen stehen dicht gedrängt, viele der Autos sind mit Koffern und Taschen, Matratzen, Eimern, Tüten und Kartons beladen. Es sind vor allem palästinensische Familien, sagt der Fahrer, der mich nach Damaskus bringt. Sie fliehen aus dem Lager Yarmuk nahe Damaskus zu ihren Verwandten in den Libanon. Auf die Lage der Palästinenser hatte mich Souheil el-Natour, der Leiter des Humanitären Entwicklungszentrums (HDC), im Beiruter Lager Mar Elias tags zuvor aufmerksam gemacht. Mitte Dezember war das Lager Yarmuk – trotz erklärter Neutralität der palästinensischen Organisationen – von Aufständischen überrannt und zum Kriegsgebiet gemacht worden. Von einem Camp ins andere fliehen die Familien nun, die Not der Palästinenser im Libanon wächst. Ein Mann aus Yarmuk, der mit Frau und Kindern bei Verwandten in Burj al-Brajneh, dem Flüchtlingslager im Süden Beiruts Zuflucht fand, wurde eines Abends erhängt aufgefunden. Er nahm sich das Leben, weil er kein Essen für seine Familie kaufen konnte, seine Ersparnisse waren aufgebraucht, auch Arbeit hat er nicht gefunden. Bei der UN-Hilfsorganisation für die palästinensischen Flüchtlinge, UNWRA, bleiben die internationalen Hilfsgelder aus, besonders die reichen Golfstaaten überweisen nichts mehr.

Mit mir reisen zahlreiche syrische Arbeiter in ihre Heimat ein. Sie besuchen ihre Familien, bringen ein wenig Geld, das sie als Bauarbeiter oder Tagelöhner im Libanon verdient haben. Vielleicht bleiben sie einige Tage, dann geht es zurück in den Libanon, um Geld für die Familien zu verdienen, die weiter in Syrien aushalten.

Die militärischen Kontrollpunkte auf den knapp 40 Kilometern von der Grenze bis Damaskus haben sich vervielfacht, und die Kontrollen wurden verschärft. Jedes Mal muß der Fahrer seinen Ausweis zeigen, jedes Mal muß er den Kofferraum öffnen. Taschen und Koffer bleiben gleich geöffnet, so spart man Zeit. Mir, der Ausländerin, gilt ab und zu ein freundliches »Herzlich Willkommen«, meist werde ich ignoriert.

Kurz vor Damaskus fällt eine lange Schlange von Tanklastwagen auf, die am Rande der Autobahn warten. Das Ölembargo der Europäischen Union gegen Syrien hat Benzin, Heizöl und Kochgas knapp werden lassen. Der Mangel läßt die Preise in die Höhe schießen, der Schwarzmarkt blüht. Es heißt, das Benzin und Heizöl, das aus dem Libanon nach Syrien transportiert wird, stamme aus einer Lieferung aus Venezuela. Drei Tanker wurden rund um den Erdball nach Syrien geschickt – ein Tropfen auf den heißen Stein.

Als ich unweit des Busbahnhofes Sumariya in ein gelbes Taxi umsteige und in Richtung Innenstadt weiterfahre, entschuldigt sich der Fahrer, daß er mehr Geld als üblich nehmen müsse. »Es gibt kein Benzin«, sagt er. 20 Liter auf dem Schwarzmarkt kosteten bis zu 2000 syrische Pfund (etwa 22 Euro), doppelt so viel wie an den Tankstellen. Der Zähler, der bisher zuverlässig den Preis für die Fahrgäste gezeigt hat, bleibt ausgeschaltet. Am Ende der Fahrt bleibt der Fahrer stumm. Als ich ihm doppelt so viel zahle wie noch zwei Monate zuvor, bedankt er sich leise.

Alltag im umkämpften Land

In dem einfachen Familienhotel, in dem ich seit Beginn der Unruhen 2011 wieder wohne, sind fast alle Zimmer belegt. Neben den üblichen syrischen Gästen, die aus Aleppo, Hassake, Lattakia oder Deir Ezzor kommen, um Behördengänge zu erledigen oder ein Krankenhaus aufzusuchen, sind auffallend viele junge Leute da. Sie absolvieren die Prüfungen an der Universität. Mit Laptop und Handy bewaffnet verlassen sie früh das Haus. Am späten Nachmittag sitzen sie in der Lobby zusammen und tauschen Informationen aus. Und dann sind da die Familien, die mit ihren vielen Kindern ihre Wohnungen aufgegeben haben, um in der Innenstadt Schutz zu suchen. Viele kommen aus Yarmuk, andere aus Daraya, der Trabantenstadt, in der die Kämpfe zwischen Aufständischen und regulären Truppen das einfache Leben von Zehntausenden Menschen unterbrochen haben. Der Hotelverband hat angeordnet, die Preise um 20 Prozent zu senken, manche gehen noch weiter runter.

Die Ausstattung des Familienhotels ist dem Ansturm nicht gewachsen. Zimmer, die für zwei Personen gedacht sind, werden von sechs bezogen. Freunde und Verwandte kommen in dem Hotel vorbei, um dort zu duschen. Fast ununterbrochen läuft die alte Waschmaschine auf dem Dach, die normalerweise nur für die Hotelwäsche benutzt wird. Die Frauen waschen für ihre Familien, auf den Leinen hängen Jacken und Hosen, Strümpfe und Pullover. Immer wieder muß Mumtaz, der für die Technik verantwortlich ist, Lampen und Stecker, Telefone und Kabel reparieren. Besonders schlimm trifft es den alten Aufzug, den die Kinderschar zu ihrem Lieblingsspielplatz erklärt hat. Eines Tages bereitet Mumtaz mit donnernder Stimme der Sache ein Ende. Ebenso setzt er ein Rauchverbot in der Lobby durch, wo der einzige Fernseher des Hotels steht. Die Küche, in der nur ein einfaches Frühstück, Tee und Kaffee zubereitet werden, haben die Frauen übernommen. Teller, Tassen, Bestecke verschwinden, Wasserflaschen, Teebeutel, Toilettenpapier, das auf dem Markt nur noch zu Wucherpreisen zu finden ist, ebenso. »Nie haben wir Schränke oder Abstellräume abgeschlossen«, sagt ein erschöpfter Mitarbeiter des Hotels. »Jetzt müssen wir es tun.« Im Keller, der zwei Stockwerke unter Straßenniveau liegt und »im Notfall als Bunker dienen« soll, nähen zwei Mitarbeiter Laken und Kopfkissenbezüge.

Eine der Familien ist die von dem Fahrer Ruslan. Mit Frau und drei Kindern lebt er seit November vergangenen Jahres in einem Zimmer im zweiten Stock. Seine Wohnung in Daraya war damals durch eine Mörsergranate der Aufständischen schwer beschädigt worden. Die Kämpfer hatten versucht, über den Ort hinweg den nahe gelegenen Flughafen Mezzeh zu treffen. Solche Fehlschüsse sind häufig und kosten die Aufständischen Sympathie bei denen, die sie einmal sympathisch fanden. Die Frau von Ruslan und die Kinder waren allein zu Hause, als es passierte. Ruslan war mit seinem Bus unterwegs. Die Frau floh mit den Kindern so schnell sie konnte zu entfernten Verwandten in den Nachbarort. Erst vier Tagen später war die Familie wieder vereint, in diesem Hotelzimmer. Die Aufständischen quartierten sich in der verlassenen Wohnung und in den Nachbarhäusern ein, täglich beschossen sie den Flughafen. Versuche der Ortsältesten, die Bewaffneten zu einem Gespräch und zum Abzug zu bewegen, blieben ohne Erfolg. Nachdem es ihnen gelungen war, einen Hubschrauber abzuschießen, gab es auf Seiten der syrischen Streitkräfte kein Halten mehr. Kampfjets warfen ihre tödliche Fracht über der Häuserzeile ab, die von den Aufständischen zur Front gemacht worden war. »Nun ist unser Haus nur noch Geröll«, sagt Ruslan und zuckt mit den Schultern. »Was sollen wir tun?« Ala, der älteste Sohn ist 13 Jahre. Seit ihrer erzwungenen Umsiedlung nach Damaskus geht er nicht mehr zur Schule. Ersatzunterricht von staatlichen Stellen wird nicht angeboten. In den folgenden Tagen treffe ich Ala häufiger auf dem Markt in der Damaszener Altstadt. Mit einer Sackkarre, die ihm fast bis zum Scheitel reicht, bringt er Kunden ihre Einkäufe zum Auto. Am Abend trägt er stolz seinen Tageslohn zum Vater. Mal sind es 150, mal 200 syrische Pfund, umgerechnet 1,60 oder 2,10 Euro. »Es ist gut, daß er der Familie hilft«, sagt Hassan, ein Freund von Ruslan. Das Schlechte sei nur, daß der Junge mehr Interesse am Geldverdienen gewinnen würde, als am Lernen. »Wenn das alles hier vorbei ist, wird es schwer sein, ihn wieder in die Schule zu schicken«, meint Hassan nachdenklich. »Dieser Krieg zerstört seine Zukunft.«

Ich will mit einem Bekannten losgehen, um Fotos und Straßeninterviews zu machen, die den Alltag dokumentieren: Leute beim Einkaufen auf dem Bab Srijeh Markt, gesperrte Straßen, wartende Fahrzeuge und endlose Reihen von Plastikkanistern an einer Tankstelle, junge Männer, die vor einem Gebäude ausharren, um als »Volkskomitees« anzuheuern und so weiter und so fort. Als akkreditierte Journalistin habe ich die Genehmigung, doch der Bekannte winkt ab. Die Leute seien nervös und wollten nicht fotografiert werden. Es könnte auch sein, daß uns jemand für Spione hält oder jemand von irgendwoher auf uns schießt. Er habe Angst, gibt er dann unumwunden zu – zu viele Journalisten seien schon angeschossen oder entführt worden, Damaskus sei »nicht mehr wie früher«.

Eines Abends, ich habe mich gerade hingesetzt, um eine kurze Zusammenfassung der Tagesereignisse aufzuschreiben, explodiert mit großer Wucht ein Sprengsatz an der Kreuzung vor dem Hotel. Es ist das zweite Mal innerhalb einer Woche, gleiche Zeit, gleicher Ort. Dieses Mal sterben zwei junge Soldaten. Die Armee übernimmt bei Dunkelheit von der Polizei die Verkehrskontrolle in der Stadt. Jemand hatte sie auf eine Plastiktüte aufmerksam gemacht, die am Gitter vor einem Reisebüro hing. Als sie die Tüte untersuchen wollten, explodierte sie. Der Sprengsatz wurde vermutlich per Handy fern gezündet. Sofort sperren Sicherheitskräfte die Kreuzung ab, Fußgänger werden abgedrängt aus Angst, eine weitere Bombe könnte explodieren. Die verstümmelten Leichen werden abgeschirmt und wenig später von zwei Ambulanzfahrzeugen fortgebracht. Mohamed, ein junger Mann, hat den Vorfall beobachtet. Er arbeitet auf der anderen Straßenseite in einem Textilbekleidungsgeschäft. Wenig später treffe ich ihn in der Lobby vom Hotel. Sein Onkel, der im Hotel arbeitet, hat ihm eine dampfende Tasse Tee mit viel Zucker hingestellt. »Ich habe sie durch die Luft fliegen sehen«, sagt der junge Mann leise. Starr blicken seine Augen aus dem blassen Gesicht. »Trink«, sagt sein Onkel und schiebt den Tee näher zu ihm hin. Die einzigen Medien, die gegen Mitternacht von der Explosion berichten, sind die syrischen.

Die Macht der Bilder

Syrien befindet sich in einem Krieg, der nicht nur mit Waffen, sondern auch medial geführt wird. Die psychologische Kriegsführung ist gut zu beobachten, wenn man das Fernsehverhalten der Syrer verfolgt, die jeden Sender einschalten können, der über Satellit zu empfangen ist. Die einen glauben Al-Dschasira (Katar) und Al-Arabija (Saudi-Arabien) jedes Wort. Die anderen halten sich an die syrischen Medien. Viele haben aufgehört, die Nachrichten zu verfolgen. Sie sehen sich lieber Dokumentationen über Geschichte und Natur oder die allseits beliebten Seifenopern an. Dann gibt es diejenigen, die verschiedene Sender einschalten. BBC, Sky News, Russia Today, France 24, Al-Manar, Al-Alam, Al-Dschasira und Al-Arabija, Al-Ikhbarija decken so ziemlich jede Position in Syrien und außerhalb ab. Shooting Star ist der Sender Al-Mayadeen, der im Juni 2012 in Beirut erstmals auf Sendung ging. Frontmann des Senders ist der Journalist Ghassan bin Jiddo. Er hatte seine langjährige Arbeit bei Al-Dschasira aufgegeben, weil der Sender ihm zu sehr Kriegspartei – auf Seiten der Aufständischen – geworden war. Wer das Internet beherrscht und über einen Laptop verfügt, wie die meisten jüngeren Leute in den Städten, liest Blogs, verfolgt Ugarit News oder sieht sich Filme auf You Tube an. Ein Student erzählt mir, daß in dem Ort, wo er wohnt, sowohl die Aufständischen als auch die Armee – bzw. deren jeweilige Anhänger – eine Vielzahl von Blogs unterhielten. Wenn gekämpft würde, verbreiteten beide Seiten zeitgleich Informationen, wie in einem Wettstreit. Auf meine Frage, wen er für glaubwürdig halte, überlegt er einen Moment und sagt dann: »Die auf Seiten der Armee. Die anderen übertreiben zu sehr.«

Jihad, Lina, Mohammad, Amer, Salim, Julia und andere aus einem Freundeskreis haben sich seit April 2011 alle zwei, drei Monate mit mir getroffen, um über ihre Sicht der Ereignisse in Syrien zu sprechen. Alle waren auf die eine oder andere Art auf Seiten der politischen Opposition aktiv. Anfangs beteiligten sie sich an den friedlichen Protesten, einige organisierten kleine gewaltfreie Aktionen. Manche wurden festgenommen und bald wieder entlassen, eine junge Frau zog sich danach völlig zurück. Die anderen halfen später den ersten Inlandsvertriebenen, die Jungen richteten ein Fußballturnier aus, um Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen abzubauen.

Einige waren oder wurden Mitglieder der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP) und engagieren sich inzwischen bei lokalen und regionalen Dialogforen. Manche wurden Aktivisten der Bewegung »Den Syrischen Staat aufbauen« und organisieren landesweit Workshops über Mittel und Wege einer Bürgerrechtsbewegung. Andere wieder schlossen sich dem Nationalen Koordinationsbüro für demokratischen Wandel in Syrien (NCC) an, ein Bündnis von 13 Organisationen und Parteien.

Um zu erfahren, wie es ihnen geht und was sie über die Entwicklung denken, verabrede ich mit einem der Freunde ein weiteres Treffen. »Das wird schwierig«, sagt er gleich. Etliche verloren durch die Kämpfe ihr Zuhause. Julia und ihre Freundin wurden mit ihren Familien aus Jobar vertrieben, das vollständig von erzkonservativen, dogmatischen Islamisten und salafistischen Kämpfern übernommen wurde. Selim lebt mit seiner Familie in Qassa, doch fast alle seine Nachbarn aus dem christlichen Viertel in Damaskus sind geflohen. Jihad verlor sein Zuhause im Flüchtlingslager Yarmuk. Einige haben keine Arbeit mehr, andere konnten Prüfungen an der Universität nicht absolvieren. Alle haben große Mühe, ihren Alltag inmitten des wirtschaftlichen Niedergangs zu meistern. Die Kommunikation miteinander ist schwierig geworden, bis zu meiner Abreise kommt ein neues Treffen nicht zustande.

* Aus: junge Welt, Samstag, 16. März 2013


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