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Beistand für ein erwachendes Syrien

Auch im dritten Jahr des Aufstandes gegen das Baath-Regime ist ein rasches Ende der syrischen Krise nicht abzusehen

Von Martin Glasenapp *

Syrien versinkt jeden Tag tiefer in einem Bürgerkrieg, der keine Lösung verspricht. In Syrien gab es keinen zentralen Tahrir-Platz, keine unübersehbare Menge, die den republikanischen Monarchen Bashar al-Assad zum Abdanken zwingen konnte. Als jede Demonstration zu einem Begräbnis wurde und jedes Begräbnis eine Demonstration war, begann die Militarisierung und Barbarisierung einer ursprünglich sozialen Revolte. Durch die äußerst rücksichtslose Verfolgung der ersten Demonstrationen vor zwei Jahren hat das syrische Regime maßgeblich dazu beigetragen, den vormalig weitgehend friedlichen und mehrheitlich nicht bewaffneten Massenprotest in genau jenen Bürgerkriegsaufstand zu verwandeln, der Syrien nun an den Abgrund geführt hat und das Land endgültig zu zerreißen droht. Die menschliche Katastrophe hat mit geschätzten 100 000 Toten und Millionen von Flüchtlingen schon jetzt apokalyptische Züge angenommen.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Situation in Syrien mehr umfasst als nur die Situation in Syrien – dass heißt, der innersyrische Konflikt wird mit unterschiedlichen Absichten gezielt externalisiert und damit instrumentalisiert. Ein demokratischer Aufstand gegen ein repressives Regime wandelt sich zu einem konfessionalisierten Endkampf zwischen der sunnitischen Mehrheit und der alawitischen Minderheitsbevölkerung. Die religionspolitisch aufgeladene Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten hat einen sehr weltlich-rationalen Kern, in dem sich der Jahrzehnte alte Konflikt zwischen pro-iranischen Kräften und einer Negativkoalition niederschlägt, zu der die USA, Saudi-Arabien und Israel gehören. Würde das aktuelle Syrien zerfallen oder herausgelöst, wäre die schiitische Hisbollah im Libanon entscheidend geschwächt und das Filetstück, Iran, isoliert. Darüber hinaus deutet sich auf geopolitischer Ebene ein neuer »Kalter Krieg« an, der Russland, China und den Westen konfrontiert. Zugleich ist dieser mehrschichtige geopolitische Konflikt voller unerwarteter Widersprüche: etwa wenn eine formell eher säkulare syrische Exilopposition von absolutistischen Golfmonarchien gefördert wird, die ihrerseits radikalreligiöse Sunniten sind. Saudi-Arabien ist ohne Zweifel die hässlichste Kalifat-Diktatur der arabischen Welt, zugleich Großempfänger deutscher Waffen und Verbündeter der salafistischen Rebellenverbände in Syrien.

Weder Assad noch die Rebellen

Das Tragische dieser Gemengelage ist, dass es keinen Ausweg mehr zu geben scheint. Präsident Assad wird nicht gehen, und die Rebellen können nicht siegen. Es gibt aber auch keinen Weg mehr zurück in die alten Zeiten der syrischen »Berechenbarkeit«, die vor dem Hintergrund des US-gesponserten israelisch-palästinensischen »Friedensprozesses« von der internationalen Staatengemeinschaft jahrelang höher eingeschätzt wurde als die Kosten, mit denen die syrische Bevölkerung diese Stabilität bezahlen musste. Auch hier hat der umstürzlerische Freiheitswind des Arabischen Frühlings jede Rückkehroption zunichte gemacht.

Der syrische Aufstand gegen das Regime von Präsident Bashar al-Assad erhob sich in einer Gesellschaft, in der der Wohlstand nie zuvor derart ungleich verteilt gewesen war. 50 Prozent des Reichtums konzentrierten sich auf nur fünf Prozent der Bevölkerung. Eine ganze junge Generation war ohne wirtschaftliche Perspektive herangewachsen. All dies ist Folge dessen, dass Bashar al-Assad seit seiner Amtseinführung im Jahr 2001 die staatliche Wirtschaft dereguliert hat. Der ländliche Raum wurde vernachlässigt, der öffentliche Sektor abgebaut und die neu entstandene Privatwirtschaft von einer räuberischen Elite der New Economy kontrolliert. Dabei setzte die Baath-Partei, nachdem sie 1963 die Macht übernommen hatte, noch eine umfassende Bodenreform um. Größere Ländereien wurden enteignet, Pächter, landlose Bauern und Landarbeiter konnten den Boden preiswert erwerben. Es gehört somit zur historischen Ironie der syrischen Revolte, dass ein Regime seine erbittertsten Feinde unter den Nachkommen jener Bauernschaft findet, die vor 50 Jahren mit einem modernen Entwicklungsversprechen aus sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit worden war. Daher lag der Beginn der Protestbewegung 2011 nicht zufällig in jenem suburbanen Ballungsraum der größeren Städte Daraa, Hama, Homs und vor allem Damaskus, in dem sich in der Vergangenheit Hunderttausende von ehemaligen Bauern und nunmehr verarmten Neustädter niedergelassen haben.

Medico international solidarisierte sich von Beginn an mit den Protesten und versuchte Kontakte zu den Aktivistinnen und Aktivisten herzustellen, die für Freiheit, Demokratie und Würde demonstrierten. Bewusst begaben wir uns in eine praktische Suchbewegung, wie unsere Unterstützung von elementaren Bürgerrechten und der Idee von sozialer Gleichberechtigung im syrischen Geschehen manifest werden kann. Denn die universelle Idee der Aufklärung bedeutet auch, sich mit demokratischen Aufbrüchen zu solidarisieren, selbst wenn die Bewegungen nicht allein von einem säkularen oder klassisch »linken« Konsens geprägt sind. Jede entschiedene Kritik und politische Zurückweisung westlicher und saudischer Interventions- und Umsturzpläne muss daher notwendigerweise die Ablehnung der syrischen Gewaltherrschaft einschließen.

Für eine demokratische Gesellschaft streiten

Die linke Propagierung eines »Widerstands gegen den Imperialismus« zulasten einer ganzen Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe ist moralisch indiskutabel und wird zudem politisch scheitern. Eine solche Haltung kann mittelfristig nur ihr unbeabsichtigtes Gegenteil auslösen: So kann keine Perspektive der Freiheit verteidigt werden, sondern die bereits vorhandenen antiemanzipatorischen Tendenzen innerhalb der syrischen Opposition und der gesamten Region werden gestärkt. Die Menschen fordern ja nicht allein eine bessere Zukunft und ein gutes Leben, sie rebellieren auch gegen die monströse Ausgeburt einer autoritären Entwicklungsmoderne. Das galt für Tunesien, Ägypten und Jemen und gilt besonders für Syrien.

Konkrete Solidarität ist möglich und zugleich nötiger denn je. Noch immer gibt es Aktivistinnen und Aktivisten, die lokale Initiativen und medizinische Hilfsstrukturen unterstützen, die unbewaffnet für eine demokratische Gesellschaft in Syrien streiten. In den kurdischen Regionen des Landes haben sich autonome Strukturen gebildet, die nicht nur versuchen, eine kurdische Realität in ein zukünftiges demokratisches Syrien einzuschreiben, sondern lokale Strukturen der Verwaltung aufrechtzuerhalten. Trotz des eskalierenden Bürgerkriegs stehen sie weiter für eine dritte Handlungsoption, jenseits der bloßen Unterwerfung unter die herrschende Macht und den sich ausbreitenden konfessionalisierten Terror, jenseits der inneren wie äußeren Militarisierung – entgegen allen düsteren Zukunftsaussichten.

* Martin Glasenapp arbeitet für die Frankfurter Hilfsorganisation medico international. Er bereiste Syrien zuletzt im Mai 2013.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. Juni 2013

Neues Projekt: Unterricht bis zum Abitur

Die freien Schulen von Erbin

In den Städten und Dörfern, die nicht mehr unter Kontrolle des Regimes sind, organisieren die Menschen zunehmend selbstständig die sozialen Dienste. Besonders der durch die kämpferischen Auseinandersetzungen oft und für lange Zeit ausfallende Schulunterricht macht Sorge, da mit der Fortdauer der Auseinandersetzung die massiven Bildungsdefizite der Kinder ansteigen.

Erbin war eine der ersten Städte, die im Sommer 2012 unabhängig wurden, das syrische Militär zog sich vollständig zurück. Immer wieder kommt es aber zu Bombardierungen, über 600 Opfer sind in der früher 75 000 Einwohner zählenden Kleinstadt im Randgürtel der syrischen Hauptstadt Damaskus zu beklagen. Erbin liegt an der Autobahn nach Homs, auf der es immer wieder zu Gefechten zwischen Regierungstruppen und Aufständischen kommt.

In Erbin haben zivile Aktivisten einen Schulunterricht organisiert, der den Kindern von der ersten Klasse bis zum Abitur die Gelegenheit gibt, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten weiter zu entwickeln. Dies ist umso wichtiger, da von den Golfstaaten oder der Türkei unterstützte religiöse Stiftungen ebenfalls beginnen, Bildungsangebote wie Koranschulen und Kindergärten anzubieten.

Die Aktivisten wollen dem eine klare säkulare Perspektive entgegensetzen. Zugleich wird darauf geachtet, dass die Lehrinhalte und Schulbücher vom ideologischen Ballast des Baathregimes und der Assad-Verehrung befreit werden. Aktuell gibt es schon sechs solcher Schulen. Da etliche Familien wieder aus Jordanien oder Ägypten zurück nach Erbin kommen, weil ihre finanziellen Reserven zum Leben im Exil aufgebraucht sind, wächst der Druck auf die Initiative, noch mehr Räume für neue SchülerInnen bereitzustellen. Aus Schutzgründen findet der Unterricht in Untergeschossen größerer Häuser statt, die entsprechend den Bedürfnissen zum Schulbetrieb eingerichtet und ausgestattet werden.

Spenden für die solidarische Nothilfe von medico international unter dem Stichwort »Syrien«: Kontonummer 1800, Frankfurter Sparkasse, BLZ 500 502 01 oder online: www.medico.de/spenden




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