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Neues Massaker in Syrien

Trotz unklarer Faktenlage wird die Schuldfrage als geklärt behandelt

Von Roland Etzel *

Erneut wird aus Syrien von einem Massaker berichtet. In zwei Dörfern sollen mindestens 55 Frauen, Kinder und Männer bestialisch umgebracht worden sein. Die Exilopposition machte umgehend regierungsnahe Milizen verantwortlich. Damaskus weist das entschieden zurück.

Anderthalb Wochen nach dem Massaker von Hula ermordeten syrische Regierungstruppen Dutzende Einwohner der Nachbardörfer Al-Kubeir und Maasaraf nahe der Großstadt Hama, darunter Frauen und Kinder. So jedenfalls sagte es gestern Rami Abdel Rahman von der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Diese sitzt weit weg in London, meldet dennoch Ereignisse aus dem syrischen Bürgerkrieg häufig als erste, weil sie von den Regierungsgegnern direkt informiert wird und weil sich Syriens offiziöse Medien nach wie vor schwer tun mit einem zeitgemäßen Verständnis von politischem Journalismus. Die Dementis aus Damaskus erscheinen korrekt. Die Regierung lässt aber jenen entschiedenen Aufklärungswillen vermissen, der in der jetzigen Lage angebracht und zu erwarten wäre. Das macht es der medialen Öffentlichkeit hierzulande sehr leicht, die Meinung der anderen Seite, in diesem Falle die des offiziellen Syrien, unter den Tisch fallen zu lassen.

Die Beobachtungsstelle dagegen ist mit allen großen internationalen Agenturen vernetzt, was für eine zügige Verbreitung ihrer Statements sorgt - allerdings macht dies wohl auch anfällig, die Interessen- hin und wieder zu deutlich über die Faktenlage triumphieren zu lassen. Die Berater von CNN und Al-Dschasira haben offensichtlich ihre (erfolg)reichen irakischen oder libyschen Erfahrungen eingebracht.

Die Glaubwürdigkeit der Beobachtungsstelle hat das nicht erhöht. Sie ersetzt das aber durch einen Zuwachs an Lautstärke und Schlichtheit der Botschaft. Die Schuldzuweisung an Syriens Präsidenten Baschar al-Assad erfolgt, ohne dass auch nur dem geringsten Zweifel Raum gelassen wird. In den Berichten wird nicht nach dem Wie und Warum gefragt. Es gibt nur Mörder und Unschuldige; das alles, bevor die UN-Beobachter am Ort des Verbrechens waren.

Unterdessen sollen Letztere bei ihrer Untersuchung des neuen Massakers unter Beschuss geraten sein. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sagte am Donnerstag vor der Vollversammlung in New York, die Beobachter seien auf dem Weg zu den Nachbardörfern Al-Kubeir und Maasaraf angegriffen worden.

Der britische Premierminister David Cameron forderte, Assad müsse nun die Macht an eine Regierung abgeben, »die sich um ihr Volk kümmern kann«. US-Außenministerin Hillary Clinton ist das nicht genug. Sie verlangt: »Assad muss seine Macht abgeben und Syrien verlassen.«

Das syrische Fernsehen erklärte, das Verbrechen sei bewusst vor einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrates begangen worden, »um Druck auf Syrien auszuüben«. Dazu allerdings hat keiner der Politiker Stellung genommen.

* Aus: neues deutschland, Freitag 8. Juni 2012


Der böse Assad

Von Roland Etzel **

Der britische Premier Cameron und andere westliche Politiker nennen die Tötungsorgie in Syrien abscheulich und sinnlos. Abscheulich ist sie ganz gewiss, aber auch sinnlos? Camerons eigene Reaktion widerspricht dem. Er sagt, die UNO-Beobachter sollten das Massaker untersuchen, fordert aber noch im selben Satz, die »Staatengemeinschaft müsse die Regierung Syriens für ihre Taten verurteilen«.

Ganz ähnlich der durch den Nahen Osten tourende Westerwelle. Am Mittwoch wurde vom deutschen Außenminister kolportiert, er »werbe« für eine politische Lösung in Syrien, nach dem Massaker hieß es nun von ihm, er fordere »weltweite Sanktionen gegen das Regime von Assad«. Sehen so politische Lösungen aus? Die Äußerung legt nahe, dass das Ergebnis einer möglichen Untersuchung für Westerwelle eigentlich nicht von Interesse ist. Er verkriecht sich in unglaubwürdiger Naivität, nicht zu ahnen, wem diese Morde in die Karten spielen.

Dazu haben Cameron wie Westerwelle keine Fragen, sie zeigen sofort auf Assad bzw. seine Milizen. Aber warum sollten die das getan haben? Außer primitiver Bush-Terminologie - weil sie eben vom Reich des Bösen sind - fällt einem da nichts ein. Möglich, dass es Assads Truppen waren. Aber er müsste nicht nur »böse«, sondern auch politisch verblödet sein - ein Massaker, ausgerechnet am Vorabend des Annan-Berichts vor dem Sicherheitsrat. Dann könnte er auch gleich um seine Verurteilung dort betteln. Fällt das wirklich niemandem auf?

** Aus: neues deutschland, Freitag 8. Juni 2012 (Kommentar)



After earlier obstructions, UN observers reach reported site of massacre in Syria ***

8 June 2012 – After earlier obstructions, UN observers today reached the Syrian village of Mazraat al-Qubeir, where a massacre of civilians reportedly took place on Wednesday.

“We found the village empty of its local inhabitants, bmp [tank] tracks on the road, a house damaged from shelling, with a wide range of calibre types and grenades,” said the spokesperson for the UN Supervision in Syria (UNSMIS), Sausan Ghosheh. We found burned homes, and at least one burnt with bodies inside – there was a heavy stench of burned flesh.”

According to media reports, Syrian activists claim that Government troops and militiamen massacred at least 78 villagers in Mazraat al-Qubeir, located near the city of Hama, on Wednesday. The Syrian Government has said the accusations are false.

A group of 25 UNSMIS observers reached the village mid-afternoon on Friday, after having been obstructed in earlier attempts.

While trying to reach the location yesterday, UNSMIS observers were held up at Syrian Army checkpoints, and in some cases turned back; they were also stopped by civilians in the area, and received information from residents of the area that their safety was at risk if they entered the village. In addition, they were shot at with small arms.

“Residents from neighbouring villages came to speak to us, but none of them were witness to the killings on Wednesday,” Ms. Ghosheh said. “The circumstances surrounding this incident are yet not clear and we have not yet been able to verify the numbers.”

The spokesperson added that a team of experts from UNSMIS is in the village trying to ascertain the facts of what occurred.

The UN estimates that more than 10,000 people, mostly civilians, have been killed in Syria and tens of thousands displaced since the uprising against President Bashar al-Assad began some 15 months ago.

The Security Council established UNSMIS in April to monitor the cessation of violence in Syria, as well as monitor and support the full implementation of a peace plan put forward by the Joint Special Envoy of the United Nations and the Arab League for the Syrian Crisis, Kofi Annan.

The plan calls for an end to violence, access for humanitarian agencies to provide relief to those in need, the release of detainees, the start of inclusive political dialogue that takes into account the aspirations of the Syrian people, and unrestricted access to the country for the international media.

*** Quelle: UN News Centre, 8 June 2012; www.un.org



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