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Markttreiben im syrischen Bürgerkrieg

In Damaskus dauern Kämpfe an, das »normale« Leben aber auch

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

In Damaskus rücke die Armee in den umkämpften Stadtteil Barse ein, es gebe heftige Gefechte, melden ausländische Sender. Auch im Stadtteil Mezzeh werde gekämpft. Die Rebellen hatten am Dienstag eine Offensive in Damaskus gestartet, die von der Armee seit Freitag mit heftigen Attacken erwidert wird. Dennoch scheint sich das Leben zu normalisieren.

Die Nacht zum Sonntag war ruhig geblieben im Zentrum von Damaskus. In den frühen Morgenstunden, noch vor dem Morgengebet, war aus der Ferne ein Schusswechsel zu hören, der bald wieder verstummte. Am Morgen füllten sich Straßen und Fußwege, die kleinen Geschäfte in der Umgebung zogen ihre Rollläden hoch, ein gemeinhin untrügliches Zeichen dafür, dass die Leute in der syrischen Metropole entschlossen sind, ihre Stadt und ihren Alltag nicht aufzugeben. Es ist der zweite Tag des Fastenmonats Ramadan. Restaurants, Cafés und andere gastronomische Etablissements öffnen folglich erst am Abend, wenn die Familien das Iftar, das Fastenbrechen, nicht zu Hause, sondern in der großen Öffentlichkeit begehen wollen. Einheimische wissen, wo sie in den schmalen Gassen Brot und andere Lebensmittel erwerben können.

Die wichtigsten Gemüse- und Lebensmittelmärkte für das Zentrum, Bab Srijeh und Suk al-Hal, sind geöffnet. Bab Srijeh war vergangene Woche wie ausgestorben, nachdem eine Gruppe bewaffneter Kämpfer am Donnerstagnachmittag die in unmittelbarer Nähe liegende Zentrale der Damaszener Polizei angegriffen hatte. Einige Fenster weisen Brandspuren auf. Nun ist der Eingangsbereich mit einer zusätzlichen Mauer und einem gepanzerten Fahrzeug geschützt.

Auf dem Markt von Bab Srijeh herrschte am Sonntag wieder hektisches Treiben. Kleine Lieferwagen bringen und holen Güter, die Käufer betrachten die Preise, kaufen besonnen nur das, was sie wirklich brauchen. Vor der staatlichen Bäckerei, wo 1800 Gramm Brot weiterhin 15 Syrische Pfund kosten, haben sich Schlangen gebildet: Die letzten zwei Tage waren viele Bäckereien geschlossen geblieben, und die Brotpreise bei den privaten Bäckereien waren deutlich gestiegen. Das in den staatlichen Bäckereien verkaufte Brot ist subventioniert. »Das gilt für ganz Syrien«, erklärt Mahmud, der seit fast einer Stunde wartet. »1800 Gramm reichen uns einen Tag, wir sind acht Personen«, fügt er hinzu. Niemand kauft mehr als er in den nächsten Tagen wirklich verbrauchen kann.

Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Gurken, Fleisch und Käse sind auf den Märkten vorhanden, allerdings sind die Preise - wie es heißt auf Grund ausgebliebener Lieferungen - gestiegen. Das erläutert mir Hannan M., der für die Familie die Einkäufe tätigt. Der Großmarkt für Lebensmittel liegt im Osten der Stadt in Zablatani. Weil es auch in den östlichen Vororten Kämpfe gab, hätten viele Bauern ihre Güter nicht liefern können. »Von Zablatani gehen die Lebensmittel in die Golfstaaten und nach Irak«, erklärt er weiter. »Alle Händler hier in Damaskus holen frühmorgens vom Großmarkt, was sie in ihren Geschäften und an den Marktständen draußen auf der Straße verkaufen.«

Während unseres Gesprächs sind plötzlich heftige Detonationen zu hören. Im Osten der Stadt gibt es wieder Gefechte, weiß ein Mann zu berichten. In den engen Gassen von Bab Srijeh ist der Himmel kaum zu sehen, doch die Al-Thaura-Straße, die Straße der Revolution, gibt den Blick frei. Ein Hubschrauber ist zu sehen, der in großer Höhe über dem Osten von Rukn al-Din kreist. Der Verkehr fließt ungerührt weiter, Fußgänger sind unterwegs, fast trotzig gehen sie ihren Geschäften nach.

In Mezzeh, im Westen von Damaskus, bereitet die Armee derweil einen Großeinsatz vor. Die Hauptstraße und eine südliche Ringautobahn werden für den Verkehr gesperrt, Panzer und Soldaten rücken in die Felder südlich der Wohngebiete vor. Ihr Ziel sind bewaffnete Gruppen, die dort - offenbar mit Unterstützung der ortsansässigen armen Bevölkerung - Schutz für sich und ihre Waffenlager finden.

Später am Tag zeigt das Fernsehen Festnahmen von ärmlich gekleideten Männern. »Schreiben Sie nicht für eine sozialistische Zeitung?«, fragt ein Gesprächspartner aus Mezzeh, der die Anfänge des Einsatzes in dem Stadtteil gesehen hat. »Die bewaffneten Aufständischen tauchen bei den Habenichtsen unter.« Ob freiwillig, gegen Geld oder ob sie die Leute zwingen? Die könnten sich sowieso nicht wehren, meint der Mann. »Jetzt sprechen die Waffen. Doch wenn alles vorbei ist und wir eine Chance bekommen, müssen wir die wirklichen Probleme des Landes lösen.«

* Aus: neues deutschland, Montag, 23. Juli 2012


Flüchtlingswelle aus Syrien

Hilfeersuchen von Irakern an die UNO / 25. General desertiert **

In heftigen Gefechten haben Armee und Aufständische in Syrien um die Kontrolle der Hauptstadt Damaskus und der nordwestlichen Wirtschaftsmetropole Aleppo gerungen.

Heftige Kämpfe soll es in Syrien am Wochenende erstmals im Bereich von Aleppo, der zweitgrößten Stadt des Landes, gegeben haben. Nachrichtenagenturen wie AFP, die dies berichteten, verweisen aber darauf, dass die Quellen, auf die sie sich stützen, nicht sicher seien. Zum größten Teil wird auf sogenannte Aktivisten verwiesen - eine Umschreibung für Regimegegner, die mehr außer- als innerhalb des Landes sitzen und deren über Internet und Mobiltelefon übermittelte Informationen kaum überprüfbar sind. Auch in Damaskus, erklärte die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Sonntag, werde erbittert gekämpft. Nach Angaben von Aktivisten am Sonnabend und Sonntag setzte die reguläre Armee auch Hubschrauber und Panzer ein.

Unzweifelhaft hat sich die Zahl der aus dem Lande fliehenden Menschen erhöht. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge erklärte, binnen 48 Stunden seien etwa 30 000 Menschen aus Syrien geflohen. Tausende von ihnen versuchten, die Grenze zu Libanon und der Türkei zu überschreiten oder haben das bereits getan, unter ihnen offenbar auch bewaffnete Regierungsgegner. Aktivisten berichteten, die Rebellen kontrollierten zwei der drei wichtigsten Übergänge zu Irak. An der Grenze zur Türkei hielten sie zwei von zwölf Übergängen.

Einer davon, die Station Bab al-Hawa, sei später von »ausländischen Islamisten« übernommen worden, schreibt AFP. Darüber berichtete am Sonnabend auch ZDF-Korrespondent Luc Walpot. Die Anti-Assad-Kämpfer hätte zahlreiche dort wartende türkische Lastwagen in Brand geschossen oder geplündert. Einige der Fahrer seien entführt worden. Von türkischer Seite gibt es dazu in einer Erklärung vom Sonnabend keine Stellungnahme. Im türkischen Fernsehen hieß es, am Wochenende sei der inzwischen 25. General der syrischen Armee in die Türkei geflüchtet.

Nach Angaben der irakischen Regierung gibt es ein Hilfeersuchen irakischer Flüchtlinge in Syrien, die das Land verlassen wollen. Zehntausende Iraker, die nach dem Einmarsch der USA in Irak 2003 ins Nachbarland geflohen waren, darunter viele Christen, fühlten sich von den Kämpfen bedroht und leiden unter verschlechterter Versorgung. Sie baten laut Bagdad die UNO um Hilfe. Deren Generalsekretär Ban Ki Moon machte am Sonnabend in Zagreb Syriens Präsidenten Baschar al-Assad verantwortlich und warf ihm laut AFP vor, »Zivilisten nicht zu schützen«.

Nach einem »Spiegel«-Bericht versucht Berlin derzeit, China davon zu überzeugen, eine antisyrische Entschließung im UN-Sicherheitsrat mitzutragen. Grund der Initiative, sich Peking zuzuwenden, sei die »starre Haltung« Russlands. Laut AFP ist seit Sonntag auch der Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, Thomas Donilon, auf dem Wege nach Peking.

** Aus: neues deutschland, Montag, 23. Juli 2012


PKK-Fahnen auf Rathäusern

Syrien: Kurdische Volksverteidigungskomitees übernehmen Macht im Nordosten

Von Nick Brauns ***


Für die Regierung in Ankara wird ein Alptraum Realität. Kurz hinter der türkischen Grenze wehen auf Regierungsgebäuden nicht nur die rot-gelb-grünen Nationalfahnen der Kurden, sondern auch Flaggen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Im Nordosten Syriens übernahmen kurdische »Volksverteidigungskomitees« nach Kobani (Ain Al-Arab) und Afrin am Samstag auch die Macht im nur zehn Kilometer von der Grenze entfernten Derik. Die Sicherheitskräfte der in Damaskus regierenden Baath-Partei zogen sich widerstandslos zurück, als die kurdischen Milizen in die Regierungsgebäude eindrangen. Dominante Kraft in den »Volksräten«, die nun die Verwaltung des öffentlichen Lebens übernommen haben, ist die syrische PKK-Schwesterorganisation Partei der Demokratischen Union (PYD). Doch auch andere Organisationen sollen an der Verwaltung beteiligt werden, hieß es.

Nach monatelangen, zum Teil gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen Gruppen hatte der PYD-nahe »Volksrat von Westkurdistan« im Juni mit dem im nordirakischen Erbil sitzenden »Kurdischen Nationalkongreß« eine Zusammenarbeit vereinbart. Die dort zusammengeschlossenen Parteien stehen meist dem Präsidenten der kurdischen Autonomieregion im Irak, Masud Barsani, nahe. Dieser war zuvor allerdings mit dem Versuch gescheitert, den Nationalkongreß zu einer Kooperation mit dem in Istanbul gebildeten »Syrischen Nationalrat« (SNR) zu bewegen. Dieser von islamistischen Kräften beherrschte und vom Westen unterstützte Zusammenschluß weigert sich jedoch beharrlich, kurdische Autonomieforderungen zu unterstützen.

Einigkeit besteht zwischen der PYD und dem Kurdischen Nationalkongreß darin, die als bewaffneter Arm des SNR geltende Freie Syrische Armee (FSA) aus den kurdischen Gebieten fernzuhalten, um ein Übergreifen des Bürgerkrieges zu verhindern. So hinderten PYD-Milizen, die eine Vielzahl von Kontrollpunkten errichtet haben, FSA-Kämpfer am Eindringen in die Stadt Kobani. »Hinter der FSA stehen unterschiedliche Kräfte, darunter die Türkei, Saudi-Arabien und Jordanien«, begründete der Vorsitzende des Kurdischen Nationalkongresses, Ismail Hama, gegenüber der Zeitung Rudaw diese Haltung. »Wir lehnen ein Eindringen dieser Kräfte nach Kurdistan ab. In dieser Hinsicht unterstützen wir die PYD und glauben, daß eine eigene kurdische Kraft gebildet werden muß.«

Die größte kurdische Stadt in Sy­rien, Qamishlo (Qamischli), wird noch von den Sicherheitskräften der Regierung kontrolliert. Wie die kurdische Nachrichtenagentur Firatnews meldete, sollen diese am Freitag das Feuer auf Mitglieder eines Volksverteidigungskomitees eröffnet haben.

*** Aus: junge Welt, Montag, 23. Juli 2012


Tausende fliehen aus Damaskus

Syrien: Heftige Gefechte um Hauptstadt und Aleppo. Britische Spezialeinheit SAS bildet Aufständische aus ****

In Syrien haben sich Aufständische und Armee am Wochenende weiter heftige Gefechte um die Hauptstadt Damaskus und die im Nordwesten des Landes gelegene Wirtschaftsmetropole Aleppo geliefert. Dabei konnten die Regierungstruppen die Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« offenbar aus Vierteln der Hauptstadt zurückdrängen. Meldungen über eine Bombardierung von Teilen Damaskus’ aus Hubschraubern wies die staatliche Nachrichtenagentur SANA am Sonntag zurück. Derartige Berichte entbehrten »jeder Grundlage«. Tausende suchten unterdessen vor den Kämpfen Schutz in den Nachbarstaaten, vor allem im Libanon. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) flohen binnen 48 Stunden bis zu 30000 Menschen aus Damaskus.

Wie bereits im vergangenen Jahr während des Bürgerkriegs in Libyen sind die Spezialkräfte der britischen Armee offenbar tiefer in die Auseinandersetzungen in Syrien verwickelt, als dies London offiziell zugibt. Einem Bericht der Daily Mail vom Sonntag zufolge seien die in Damaskus eingedrungenen Aufständischen zuvor von formell aus dem aktiven Dienst ausgeschiedenen Soldaten der britischen Spezialeinheit SAS ausgebildet worden. Die offiziell von privaten Sicherheitsfirmen getragenen Trainings seien in Stützpunkten im Irak und in Saudi-Arabien durchgeführt worden, berichtete das Blatt.

In zwei Lagern für syrische Flüchtlinge in der Türkei ist es am Sonntag zu schweren Zusammenstößen zwischen Bewohnern und Polizisten gekommen. Augenzeugen zufolge wurden bei den Auseinandersetzungen zwei Menschen getötet. Auslöser der Gewalt war offenbar die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Geld. Zudem würden die Flüchtlinge von den türkischen Sicherheitskräften genauso schlecht behandelt wie in Syrien. Die meisten Flüchtlinge versammelten sich nach den Zusammenstößen vor den Lagern. Einige machten sich auf den Rückweg in ihre Heimat. (AFP/SANA/jW)

**** Aus: junge Welt, Montag, 23. Juli 2012


Aktivisten

Von Markus Drescher *****

Die Freie Syrische Armee hängt es bis jetzt nicht an die große Glocke, auf welchem Wege sie sich finanziert. Fest steht, dass nicht alle Waffen, über die sie verfügt, aus den Arsenalen von Assads Armee erbeutet wurden. Egal, hierzulande werden die syrischen Deserteure und aus der halben islamischen Welt eingesickerte Kämpfer medial zu »Aktivisten« verklärt. Allerdings lassen ihre Feuerangriffe auf wartende Lkw an der Grenze Syrien-Türkei fragen, was ihre Motive und ob diese überhaupt politischer Natur sind.

In Berlin und Paris, wo man eben noch die Einnahme von Grenzposten durch die vermeintlichen Freiheitshelden bejubelte, schweigt man betreten zu deren Angriffen auf türkische Trucker. Auch Ankara, das sich nach dem Luftzwischenfall vor wenigen Wochen wild entschlossen zeigte, den nächsten Konflikt an seiner Südgrenze mit Krieg zu beantworten, ist erstaunlich schweigsam. Für die Kämpfer trifft das um so weniger zu. Sie bekennen sich freimütig zu »Al Qaida im Islamischen Maghreb« und ähnlichen Banditennetzwerken zwischen Afghanistan und Libyen.

Deren Sponsoren in Katar und Saudi-Arabien ist das offenbar einerlei. Aber was sagt die deutsche Regierung dazu? Bisher konnte uns Innenminister Friedrich gar nicht genug vor islamistischen Übeltätern auch in Deutschland warnen. Falls es diese tatsächlich jemals in der behaupteten Weise gegeben hat und noch gibt - wenn sie jetzt erklären, sie rekrutierten Geld, Kämpfer und Waffen für die Freiheit in Syrien, gibt‘s von ihm vielleicht noch einen Bonus.

***** Aus: neues deutschland, Montag, 23. Juli 2012 (Kommentar)


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