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Einmal Krieg 2. Klasse und zurück

Jonathan Littell im syrischen Homs

»Dies ist ein Dokument, kein literarisches Werk!«, schreibt der Verlag im Klappentext, und so lautet auch der erste Satz. Ist es Drohung, Entschuldigung, ein bisschen »fishing for compliments«? Es steigert auf jeden Fall die Neugierde zu erfahren, was einer schreibt, der mitten im syrischen Bürgerkrieg war.

Jonathan Littell, in den USA geborener Franzose, unterwegs für die renommierte Pariser »Le Monde«, ist in der Branche kein Unbekannter. Ebenso wenig der Ort seines Aufenthalts. Baba Amr, ein Wohnviertel der Großstadt Homs, machte zu Jahresbeginn Schlagzeilen, weil sich dort der bewaffnete Widerstand gegen die syrische Staatsmacht erstmals zu einem wirklichen Krieg auswuchs.

Ein paar Wochen lang war Baba Amr, abends zur besten Fernsehzeit, die Hölle von Homs. Unbekannte Filmer gestatteten uns über ihre Handykameras und über Youtube, so oft man wollte, den Blick in den Abgrund einer Stadt im Krieg, wo gekämpft, gelitten, gestorben wurde. Wir hörten und sahen und lasen von getöteten französischen Journalisten, von Massakern der syrischen Armee, wahren Menschenjagden durch deren barbarische Scharfschützen. Und am Ende hörten wir reichlich oft den Nachsatz: »Eine unabhängige Überprüfung der Angaben gibt es nicht.«

Nun kommt also einer, der sagt: Ich war dort, habe überprüft, hier ist mein Bericht. Littell hat sich über die keine 50 Kilometer entfernte libanesische Grenze einschleusen lassen, hat zwei Wochen in den Verstecken der Rebellen von Homs gelebt, mit ihnen gegessen, geschlafen, sie zu ihren Kampfplätzen begleitet und vor allem alles das aufgeschrieben, was sie ihm in der Zeit so erzählt haben; zum Beispiel von einem jungen Mann, der ihnen - Littell ist stets mit seinem arabischsprechenden Fotografen unterwegs - beim Frühstück zwischen Käse und Oliven zugeführt wird. Er will »sofort eine Geschichte erzählen: Er hat einen Freund, der wegen eines Traums drei Monate im Gefängnis saß. Er hatte geträumt, dass er den Tross des Präsidenten fuhr. Er hat es Freunden erzählt, ein Spitzel hat ihn denunziert, und er wurde verhaftet.« (S. 61)

Weit schlimmer noch ist das, was Bilal, ein sogenannter Aktivist, ihm zu berichten weiß: »Das Opfer dieses Nachmittags«, so eine Geschichte des Aktivisten Bilal, »wird gelähmt bleiben. Er ging über die Straße zwischen Qussur und Khaldije und bekam eine Kugel ab. Einziges Opfer an diesem Ort, der Scharfschütze hat einfach so geschossen.« Oder Abu Adel. Der alte Mann erzählt, dass sein 50jähriger Bruder seit drei Monaten gefangen gehalten wird. Drei Personen, die mit ihm zusammen verhaftet wurden, sind tot zurückgebracht worden … Er wurde zu Hause verhaftet, für nichts. Hier in Syrien darf man nicht fragen, warum.« (S. 78)

Ein Gesetz des Schweigens, gibt es das in Syrien? Anscheinend schon, aber auch unser französischer Reporter hält sich bedauerlich oft daran. Littell fragt nicht. Lässt auch die abstrusesten Geschichten in all ihrer Scheußlichkeit im O-Ton kommentarlos stehen, wie sie ihm dargebracht wurden. Hatte er kein einziges Mal den Verdacht, dass ihm seine aktivistischen Freunde womöglich die Taschen vollhauen aus einem ihnen sicher völlig ehrenwert erscheinenden Motiv?

Die Vermutung dessen darf wohl erlaubt sein. Littell ist kein Neuling, war zuvor in Bosnien, Georgien, Tschetschenien, den europäischen Kriegsschauplätzen des ausgehenden 20. Jahrhunderts schlechthin. Hier gibt der Franzose dem Leser zumindest eine Ahnung davon, dass er nicht alles Gehörte für lügendetektorfähig hält. »Alle hier haben eine Geschichte«, reflektiert er an er einer Stelle, »und sobald sie einen Ausländer sehen, wollen sie sie ihm erzählen.« Und warum sie das tun, weiß er natürlich am besten.

Littell hat nicht die Pflicht, »seine« Aktivisten mit misstrauischen Fragen zu löchern. Es wäre auch nicht besonders klug gewesen, sie zu verärgern, schließlich möchte er den von ihm so beschriebenen Schlund der Hölle nicht als Märtyrer verlassen. Aber Littell quälen offenbar auch keine Zweifel, er macht aus seinen Sympathien für Assads Feinde überhaupt keinen Hehl. Mögen also andere andere Wahrheiten präsentieren. Schon möglich, dass es eine andere Seite der Münze gibt - Littell mag sie nicht umdrehen. Warum er? Wenn auf Assads Seite nur publizistische Tölpel am Werk sind, die seinen, Littells, Live-Berichten, veröffentlicht in einem der renommiertesten Blätter, der Welt nichts gleichwertiges entgegenzusetzen vermögen - was kümmert es den smarten Franzosen?

Seine Notizen jedenfalls lesen sich spannend; ein bisschen Scholl-Latour, ein bisschen »Under Fire«, selbst an Hemingway - doch, doch, doch - fühlt man sich beim Lesen dann und wann erinnert. Die Stunde schlägt ihm dennoch nicht. Nach zwei Wochen entsteigt er der Höllenmaschine Homs unbeschadet.

Littell macht uns in keiner Zeile vor, er sei in der Beurteilung der Dinge neutral. Er hat einen Auftrag, seine Reportage transportiert politische Botschaften, er hat uns auch versichert, absolut dokumentarisch zu bleiben. Freilich, hin und wieder muss man dem allzu verräterisch plaudernden syrischen Freund etwas in die Spur helfen. Auch daran lässt er uns ehrlicherweise teilhaben. Es ist sogar, ob freiwillig oder nicht, eine Szene voller Ironie, die Einblick in abstruse Weltbilder mancher der syrischen Widerstandshelden bietet. »Es ist wichtig«, so bemüht sich der Franzose einem seiner Helden begreiflich zu machen, »dass Sie der Welt beweisen, dass Sie anständig sind, Patrioten, dass Sie Ihre Feinde gut behandeln. Dass Sie nicht Al Qaida sind.«

Seinen Gesprächspartner Abderrazzaq Tlass, Überläufer aus einem der prominentesten syrischen Clans, ficht das aber nicht an: »Wenn es so weitergeht«, entgegnet er Littell, »werden wir Al Qaida. Wenn die Welt Assad unterstützt, werden wir Israel und andere Länder angreifen, den Konflikt internationalisieren, um die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen zu zwingen. Wir werden den Dschihad ausrufen …« Im Militärrat von Homs seien alle damit einverstanden.

Littell wusste also, welch politische Abenteurer er da auch vor sich hatte. Trotzdem lässt er sie unkommentiert auch den haarsträubendsten Unsinn absondern. Im Nachwort wäre Gelegenheit gewesen: Teilt er die Froschperspektive einiger der zitierten Aktivisten, in Syrien und darüber hinaus? Dass er uns darüber im unklaren lässt, ist schwer verzeihbar.

Jonathan Littell: Notizen aus Homs - 16 .1. bis 2. 2. 2012. Aus dem Franz. von Dorit Gesa Engelhardt. Hanser Verlag Berlin. 240 S., geb., 18,90 Euro

* Aus: neues deutschland, Samstag, 01. September 2012


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