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"Unsere Linie ist eine friedliche"

Selbstverwaltung und Selbstverteidigung: Kurden in Syrien unterstützen weder Assad-Regierung noch Aufständische. Versorgungslage wird mit wachsender Flüchtlingszahl immer schwieriger. Ein Gespräch mit Asia Abdullah Osman *



Im Juli begann die von der Partei der Demokratischen Einheit (PYD) angeführte Übernahme der Kontrolle der kurdischen Gebiete Syriens durch Volksräte. Wie groß sind die von der PYD heute kontrollierten Gebiete?

Es ist nicht die Philosophie unserer Partei, ein Gebiet zu beherrschen. Wir streben die Selbstverwaltung der Bevölkerung durch den Aufbau alternativer Rätestrukturen an. In Kobani und Efrin gibt es heute keine Kräfte des Baath-Regimes mehr. Hier liegen die Verwaltung, die Politik und auch die militärische Verteidigung ganz in der Hand der Kurden. Die Bevölkerung ist in diesen Städten sehr gut organisiert und verteidigte sie selber. Als rund um die Städte Gefechte zwischen der syrischen Armee und der »Freien Syrischen Armee« (FSA) ausbrachen, haben sich diese Städte für autonom erklärt. In der Region Hasaka leben in fünf oder sechs Städten neben Kurden auch Armenier, Assyrer und Araber. Anstatt dort eine rein kurdische Kontrolle durchzusetzen, ist es notwendig, auf diese Minderheiten Rücksicht zu nehmen und sie ebenfalls für die Selbstverwaltung zu gewinnen. Sensibilität ist insbesondere angebracht, weil das Regime einige arabische Stämme mit Waffen versorgt hat und wir nur durch Rücksicht und Dialog eine Eskalation vermeiden können. Wir haben dort »Versammlungen der Geschwisterlichkeit« organisiert und versuchen, alle ethnischen Gruppen in die Entscheidungsgremien einzubeziehen.

Wie ist die Versorgungslage in den kurdischen Gebieten?

Als der Aufstand in Syrien begann, haben wir Maßnahmen getroffen, um eine längere Phase durchzuhalten. Wir haben Komitees für alle Bereiche gebildet. So sind wir trotz der Auswirkungen des syrischen Aufstandes auf die kurdischen Gebiete und einer allgemeinen Knappheit bislang durchgekommen. Aber in Zukunft werden wir wohl auf äußere Hilfe angewiesen sein. Es sind ja viele Kurden aus anderen Landesteilen wie Aleppo, aber auch viele arabische Familien in die bislang von den Kämpfen verschonten kurdischen Städte geflohen, die wir ebenfalls versorgen müssen. Wir haben zwar genug Ärzte, aber einen Mangel an Medikamenten und technischen Geräten in den Krankenhäusern. Es fehlt auch Milch für die Kinder.

Ein Großteil der kurdischen Bevölkerung sind Bauern. Doch diese haben keinen Diesel mehr für ihre Traktoren und können die Felder deswegen nicht bestellen, so daß die Ernte im nächsten Jahr gefährdet ist. Die Probleme bei der Grundversorgung werden in den nächsten Monaten massiv zunehmen.

Wie ist das Verhältnis Ihrer Partei zu den syrisch-arabischen Oppositionsgruppen?

Zuerst einmal ist es wichtig, daß die PYD sich nicht als eine kurdisch-nationalistische Partei versteht. Was wir für die Kurden wollen, wollen wir auch für die anderen Völker Syriens. Wir haben uns zu Beginn des Aufstandes in Syrien dazu entschieden, uns weder auf die Seite des Regimes noch auf die Seite der arabischen Opposition zu stellen, sondern einen dritten Weg einzuschlagen. Beide Seiten weigern sich, die kurdische Realität anzuerkennen, daher blieb uns nur die Möglichkeit der Selbstorganisation. Wir sind nicht gegen Kontakte mit der syrischen Opposition, aber wir kritisieren ihre Unterordnung unter die Türkei in der Kurdenfrage. Wenn die syrische Opposition ganz Syrien repräsentieren will, muß sie auch die drei Millionen Kurden anerkennen. Wir waren in den letzten zehn Jahren vor Beginn des syrischen Aufstandes die einzigen, die gegen das Baath-System gekämpft haben. Tausende Kurden waren in den Gefängnissen, zwei Führungskader der PYD, Mamosde Osman und Ahmet Hussein, wurden zu Tode gefoltert.

Neben dem »Syrischen Nationalrat« und der bewaffneten Opposition um die »Freie Syrische Armee« gibt es doch noch das »Nationale Koordinierungskomitee für Demokratischen Wandel«, also die aus linken und laizistischen Parteien gebildete Opposition, die gegen eine Einmischung des Auslandes, gegen religiös-sektiererische Spaltung und für einen friedlichen Wandel eintritt. Wie ist ihr Verhältnis zu dieser Gruppierung?

Wenn ich von der syrischen Opposition spreche, meine ich die vom Ausland unterstützten Kräfte wie den Syrischen Nationalrat. Wir gehören als PYD selbst dem Nationalen Koordinierungskomitee an – als einzige kurdische Partei, da die anderen kurdischen Parteien dort ausgetreten sind.

Das Nationale Koordinationskomitee lehnt die Gewalt von beiden Seiten ab. Inwieweit verfügt die PYD dennoch über bewaffnete Kräfte?

Wir Kurden wollen nicht Teil dieses Konfliktes sein. Unsere Linie für die Revolution ist eine friedliche. Wir haben keiner Seite den Krieg erklärt. Aber natürlich behalten wir uns das Recht auf Selbstverteidigung vor, wenn wir angegriffen werden. Die PYD ist eine zivile politische Partei, die selbst keine bewaffneten Kräfte unterhält. Aber in Westkurdistan gibt es zwei Arten von bewaffneten Einheiten. Da gibt es zum einen die »Asaish« (Sicherheit), das ist eine Zivilverteidigung, die Polizeiaufgaben unter der Bevölkerung in den Städten wahrnimmt. Die »Asaish« ist den örtlichen Volksräten untergeordnet. Außerdem gibt es die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die sich in ihrer Gründungserklärung als Schutzeinheit für die Kurden in ganz Syrien bezeichnet haben. Die YPG wahren gleichen Abstand zu allen Parteien und haben sich dem Hohen Kurdischen Rat als politischer Führung unterstellt.

Seit Ende Oktober kam es mehrfach zu Angriffen der »Freien Syrischen Armee« auf Kurden. Kämpfer der von kleineren kurdischen Parteien unterstützten Saladin-Brigade der FSA drangen gegen den Willen der Bevölkerung in ein kurdisches Viertel von Aleppo ein. Bei anschließenden Gefechten mit der YPG gab es Dutzende Tote auf beiden Seiten, Hunderte Kurden wurden von der FSA als Geiseln verschleppt. Eine andere Gruppe der FSA griff ein Dorf von ezidischen Kurden in Efrin an. Was steckt hinter diesen Auseinandersetzungen?

Es gibt viele Spielchen und Szenarien gegen Westkurdistan. Hinter den jüngsten Angriffen steckt die Türkei. Die türkische Regierung will die Kurden vom Wandel in Syrien ausschließen. Ankara profitiert davon, daß die syrische Opposition die Kurden nicht anerkennt. Bei den Aktionen in Aleppo handelt es sich um einen gezielten Angriff auf die Einheitsstrukturen der kurdischen Bevölkerung. Die daran beteiligten kurdischen Kräfte haben vorher erfolglos politisch agiert. Jetzt fungieren sie als Marionetten der Türkei, von der sie mit Ausrüstung versorgt werden. So gab es eine an die kurdische Presse gelangte Anweisung der türkischen Regierung an ihre Botschaft in Erbil, bewaffnete Gruppen um den Kurden Saleh Bedrettin nach Westkurdistan zu schicken.

Inzwischen soll es einen Waffenstillstand zwischen der FSA und den YPG geben ...

Es gab ein Treffen zwischen beiden Gruppen, auf dem die Freilassung aller Gefangenen vereinbart wurde. Der Termin dafür war am Montag, doch es fand keine Freilassung statt. Die FSA redete sich heraus, daß dies wegen laufender Gefechte mit der syrischen Armee nicht möglich wäre. Auch die verschleppte YPG-Kommandantin Nujin Derik, von der es zuerst sogar hieß, sie sei ermordet worden, ist noch nicht freigelassen worden. Die FSA hält sich also bislang nicht an das Abkommen.

Die türkische Regierung behauptet, die PYD sei ein Teil der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Stimmt das?

Wir sind eine eigenständige Partei, die demokratische Autonomie für Westkurdistan und Demokratie für Syrien anstrebt. Hinter dem Versuch, die PYD als PKK-Ableger zu diffamieren, steht die Absicht, ein Angriffsziel zu schaffen.

Sie wurden als bekannte Frauenrechtsaktivistin neben ihrem männlichen Kollegen Salih Muslim zur Kovorsitzenden der PYD gewählt. Welche Rolle spielt die Frauenfrage für Ihre Partei?

Das ist für uns eine strategische Frage, denn ohne die Befreiung der Frau wird es keine Befreiung der Gesellschaft geben. Wir haben eine 40prozentige Geschlechterquotierung und die Doppelspitze in allen Gremien der PYD und der Rätebewegung. Es gibt auch autonome Frauenstrukturen. Die Frauen sind die treibende Kraft in der westkurdischen Revolution.

Interview: Nick Brauns *

Asia Abdullah Osman (geb. 1971 in Hasaka) gehört zu den Gründungsmitgliedern der 2003 ins Leben gerufenen Partei der Demokratischen Einheit (PYD). Die heute mit Abstand größte kurdische Partei in Syrien repräsentiert nach eigenen Angaben drei Viertel der kurdischen Bevölkerung des Landes. Im Juni 2012 wurde Asia Osman zur Kovorsitzenden der PYD gewählt.

Aus: junge Welt, Freitag, 09. November 2012


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