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"Das militärische Eingreifen ist beschlossene Sache"

Russischer Nahostexperte Primakow: Dem Westen geht es um Iran, nicht um Syrien

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Russlands Premier Wladimir Putin hat den Westen am Montag (27. Feb.) erneut vor einem militärischen Einschreiten in Syrien gewarnt. Auch im UN-Menschenrechtsrat, der am Montag in Genf zu Syrien tagte, stellt sich Russland auf die Seite von Damaskus. Von russischen Nahostexperten erhalten die russischen Spitzenpolitiker Unterstützung.

Kein Geringerer als Jewgeni Primakow, in der Ära von Präsident Boris Jelzin Außenminister, Regierungschef und noch immer einer der international renommiertesten Nahostkenner, warnte den Westen im russischen Fernsehen vor einer weiteren Eskalation des Konflikts in Syrien. Die USA seien offenbar nicht lernfähig. In Ägypten habe der »arabische Frühling« faktisch die Islamisten an die Macht gehievt. Es sei daher falsch anzunehmen, dass in Syrien nach einem Rücktritt Baschar al-Assads Demokraten die Macht übernehmen würden. Nach Erkenntnissen russischer Geheimdienste kämpften in der »Freien Syrischen Armee« auch Söldner aus Libyen sowie Dschihadisten, die von westlichen Instrukteuren ausgebildet würden, allein an der Grenze zu Jordanien über 10 000. Al Qaida habe den Kämpfern bereits Unterstützung zugesichert. Die USA befänden sich daher, wenn auch unfreiwillig, faktisch in einem Boot mit der Terrororganisation, die sie zu gleicher Zeit in Afghanistan bekämpfen.

Der Westen sei auch sonst nur unzureichend über die Entwicklungen in Syrien informiert, konstatierte Primakow, und tendiere daher zu Fehleinschätzungen. Der größte Fehler bestehe darin, dass die »Freunde des syrischen Volkes« bei ihren Konsultationen am vergangenen Freitag die von Russland geforderten Verhandlungen zwischen Assad und der Opposition nicht einmal in Betracht gezogen hätten. Das lasse darauf schließen, dass ein militärisches Eingreifen wie in Libyen bereits beschlossene Sache sei. Dies wiederum hätte verheerende Konsequenzen, die weit über die Region hinausgingen.

Mit einem Regimewechsel in Syrien - Assad und die Mehrheit seiner Untertanen sind Aleviten und damit Anhänger einer Richtung des schiitischen Islams, der in Iran Staatsreligion ist - wolle der Westen ohnehin vor allem Teheran schwächen. Ein Angriff auf Iran sei nur eine Frage der Zeit.

Die Kämpfe würden sich für den Westen aber ungleich schwerer gestalten als in Irak. Teherans Atomanlagen befänden sich tief unter der Erde, allein mit Bombenschlägen aus der Luft könnten sie nicht zerstört werden. Eine Bodenoperation aber würde für die Angreifer in einem Fiasko enden. An Land würden der NATO 350 000 Soldaten, 125 000 Revolutionswächter, darunter auf Diversion spezialisierte Sondereinheiten, über 300 Kampfjets, die Luftabwehr, Küstenartillerie und etwa 1500 Panzer gegenüberstehen. Heer und Luftwaffe hätten erst vergangene Woche die Abwehr eines Angriffs in der Nähe des von Russland gebauten Kernkraftwerks Buschehr geübt.

Der Westen, so Primakow, hätte sich die für ihn ungünstige Ausgangslage selbst eingebrockt. Durch die Beseitigung von Diktator Saddam Hussein hätten die USA jenes Gegengewicht ausgeschaltet, das den Einfluss Irans in der Region stets neutralisierte. Der eigenen Stärke wohl bewusst, dränge Teheran jetzt auf eine Paketlösung für alle strittigen Fragen: Kernforschungsprogramm und Konfliktmanagement im Nahen Osten. Sollte der Westen bei Syrien einlenken, wäre Teheran zu Kompromissen bei seinem umstrittenen Kernforschungsprogramm bereit.

* Aus: neues deutschland, 28. Februar 2012


Blockaden, Boykott, Verbote

Sanktionen der EU gegen Syrien **

Die EU hat ihre Sanktionen gegen Syrien seit Anfang 2011 stetig verstärkt. Manche der Maßnahmen, wie ein 2002 beschlossenes Verbot von Waffenlieferungen, sind aber schon länger in Kraft.

Einreiseverbote: Seit Montag gibt es gegen 115 Personen Einreiseverbote. Zu ihnen gehören:
  • Zoulhima Chaliche, Cousin Baschar al-Assads und Befehlshaber des Sicherheitsdienstes des Präsidenten
  • Riyad Chaliche, Cousin Baschar al-Assads und Chef der präsidentiellen Leibgarde
  • Brigadegeneral Mohammad Ali Jafari, Angehöriger der iranischen Revolutionsgarden und abgeordnet zur Unterstützung der syrischen Regierung
  • Generalmajor Qasem Soleimani, Angehöriger der iranischen Revolutionsgarden und abgeordnet zur Unterstützung der syrischen Regierung
  • Khalid Qaddur, Geschäftspartner Mahir al-Assads, des Bruders des syrischen Präsidenten.
Wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen: Das Geld der syrischen Nationalbank in der EU wurde eingefroren. Frachtflüge nach Syrien sind verboten, ebenso der Handel mit Gold, Edelmetallen und Edelsteinen.

Mit 38 Unternehmen und Organisationen dürfen Firmen aus der EU keine Geschäfte machen. Schon seit Herbst sind die Einfuhren von Öl und Gas aus Syrien sowie Investitionen in diesem Bereich untersagt.

Schon seit Dezember sind Investitionen im Bausektor und in der Versicherungsbranche Syriens nicht mehr erlaubt. Die Ausfuhr von Ausrüstung für die Gas-/Ölförderung ist verboten. In EU-Ländern dürfen auch keine Geldscheine mehr für den syrischen Staat gedruckt werden.

** Aus: neues deutschland, 28. Februar 2012


Ein Muster ohne Wert

Standpunkt von Roland Etzel ***

Die EU-Staaten hatten das syrische Referendum bereits vor seinem Stattfinden zur Farce erklärt. Die demonstrative Missachtung des Resultats kulminiert darin, dass bereits vor seinem Bekanntwerden neue Sanktionen gegen Syrien verkündet wurden. Wer es sich so einfach macht, hat aber wohl kein objektives Urteil im Sinn.

Was die Fragwürdigkeit des Zeitpunktes der Abstimmung betrifft, kann man Brüssel kaum widersprechen. In Regionen und Städten, wo auch nur partiell Kriegszustände herrschen, kann keine freie Wahl stattfinden. Insofern kommt Assads Idee zur Unzeit. Was immer auch verkündet wird, entwertet sich selbst, weil es eben unter irregulären Bedingungen zustande kam.

Dabei spricht einiges dafür, dass Assad - etwa bis vor einem Jahr - locker eine Mehrheit für diesen Entwurf bekommen hätte, wenn er ihn denn, ohne den inzwischen immensen Druck der Straße, zur Abstimmung gestellt hätte. Denn der Entwurf enthält etwa mit seinen Passagen zu Parteien und Religionen Elemente, die im eigentlich gerade im Westen als demokratisch und fortschrittlich empfundenen Sinne weit über das hinausgehen, was die arabischen Nachbarn zu bieten haben. Syriens schärfste Feinde unter ihnen - von Kritikern zu sprechen ist längst zu wenig - wie Katar und Saudi-Arabien haben weder Parteien noch Religionsfreiheit, geschweige denn eine Verfassung. Das allerdings ändert nichts daran, dass Assads Demokratieversuch mindestens ein Jahrzehnt zu spät kommt.

*** Aus: neues deutschland, 28. Februar 2012 (Kommentar)


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