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Korridore in Kampfgebiete

Logistische Vorbereitungen für humanitäre Hilfe in Syrien / Damaskus: Roter Halbmond zuversichtlich

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Erneut hat sich der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen auf einer Dringlichkeitssitzung in Genf mit der Lage in Syrien befasst.

Auf Antrag von Katar, Kuwait, Saudi-Arabien und der Türkei traten die 47 Mitglieder des Rates am Dienstag (28. Feb.) zusammen, um über eine von diesen Staaten vorgelegte Resolution zu beraten. Die Resolution macht die syrische Führung für willkürliche Hinrichtungen, Tötung von Demonstranten, Folterungen und sexuelle Gewalt verantwortlich. Ob auch die Gewalt bewaffneter Gruppen gegen Streit- und Sicherheitskräfte, deren Angehörige und Zivilpersonen in der Resolution thematisiert wird, war zunächst nicht bekannt.

Eine am Montag (27. Feb.) verbreitete Agenturmeldung, wonach »68 syrische Zivilisten nahe Homs massakriert« worden sein sollen, konnte vom Rotkreuz-Sprecher in Damaskus, Saleh Dabbakeh, auf Anfrage nicht bestätigt werden. Offenbar basiert die Meldung auf einem unter Pseudonym veröffentlichten Youtube-Beitrag.

Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton forderte in Brüssel, die syrische Regierung müsse alle Angriffe auf Zivilisten einstellen und humanitäre Hilfe für Notleidende ermöglichen. Die EU unterstützt die von den »Freunden Syriens« geforderten »humanitären Korridore«, die von der Türkei nach Idlib, von Jordanien nach Deraa und von Libanon nach Homs eingerichtet werden sollen. Diese Routen sind seit Monaten bekannte Schmugglerpfade für Waffen und Kämpfer, die von Saudi-Arabien und Katar finanziert werden. Der Regierungschef und Außenminister von Katar, Scheich Hamid bin Jassim al-Thani, sagte in Oslo, Katar werde »Militärhilfe« an die Opposition schicken, damit diese »sich verteidigen« und »das Morden stoppen« könne.

Bei einem Besuch in Maddamiya, einem Vorort von Damaskus, wies ein Einwohner gegenüber der Autorin auf den Widerspruch in der Haltung der »Freunde Syriens« hin. »Einerseits wollen sie humanitäre Hilfe bringen, andererseits liefern sie Waffen«, sagte der Mann, der anonym bleiben wollte. Ein anderer Gesprächspartner erklärte, es sei die Aufgabe der syrischen Regierung, die Bevölkerung medizinisch und mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Es gebe genügend Vorräte, um den Menschen zu helfen. Das bewaffnete Vorgehen der Streitkräfte lehnte der Mann, der gleichfalls namentlich nicht genannt werden wollte, ebenso ab wie die Aktionen der bewaffneten Kämpfer. In Baba Amr werde die Zivilbevölkerung als »menschlicher Schutzschild« missbraucht. »Wenn sie meinen, kämpfen zu müssen, sollen sie es nicht in Wohngebieten tun«, so der Mann.

Zwischen den Fronten bemühen sich Freiwillige des Syrischen Roten Halbmondes (SARC) zu helfen. Allein in Damaskus sind rund um die Uhr bis zu 150 Freiwillige im Einsatz. Die Männer und Frauen verbringen seit Beginn der Unruhen im März 2011 fast ihre gesamte Freizeit im Einsatz. Die Notfallzentrale für Damaskus-Stadt und Umland ist provisorisch in der Garage eines SARC-Krankenhauses in Al Zahira im Stadtteil Midan untergebracht, das sich noch im Bau befindet. Auch der Süden des Landes, Deraa, Sweida und Kuneitra (Golan), gehören zum Einsatzgebiet. Früher sei der Freitag immer ruhig gewesen, nun sei es der Tag, an dem die meisten Einsätze gefahren würden, erklärt Hany Hawasly, der für die Kommunikationstechnik zuständig ist. Manche Leute hätten eine »Freitagsphobie« entwickelt und gingen an dem Tag gar nicht mehr auf die Straße, andere dagegen protestierten freitags nach dem Gebet gegen die politische Führung in Syrien. Innerhalb von 50 Sekunden müsse jedes Einsatzteam in den Rettungsfahrzeugen sein, um zum Einsatzort zu fahren. Jeder Freiwillige habe bis zu 100 Stunden theoretische Trainingsstunden hinter sich. Bevor sie die rote Uniform der SARC-Freiwilligen tragen dürften, müssten sie noch 50 Stunden in einem Krankenhaus arbeiten, so Hany.

Khaled Erksoussi, Generalsekretär des SARC in Damaskus, verwies im Gespräch mit der Autorin darauf, dass die humanitäre Lage lediglich in einzelnen Gebieten aufgrund anhaltender Kämpfe schwierig sei. Es gebe in Syrien genug zu essen und auch genügend Medikamente.

* Aus: neues deutschland, 29. Februar 2012


Auf der Flucht

Syrien: Unter den Kämpfen in Homs und Baba Amr leidet vor allem die Zivilbevölkerung

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Der UN-Menschenrechtsrat in Genf hat am Dienstag erneut über die humanitäre Lage in Syrien beraten. Der Versammlung lag ein Resolutionsentwurf von Katar, Kuwait, Saudi-Arabien und der Türkei vor, wonach Syrien wegen anhaltender Gewalt gegen die Opposition »scharf verurteilt« werden sollte. Europäische Staaten erwogen die Einrichtung »humanitärer Korridore«, um bedrängten Zivilisten in Syrien Hilfe zu bringen. Katar und Saudi-Arabien ihrerseits haben angekündigt, die Opposition in Syrien »zur Selbstverteidigung« bewaffnen zu wollen. Begründet wird dies alles mit der dramatischen Lage der Zivilbevölkerung. UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay erklärte, zahlreiche Menschen seien von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten abgeschnitten. Die syrische Regierung solle internationale Beobachter ins Land lassen und Hilfsorganisationen Zugang gewähren, forderte Pillay.

Eine »humanitäre Katastrophe« gäbe es in Syrien nicht, sagte demgegenüber der Sprecher des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Damaskus, Saleh Dabbakeh, gegenüber junge Welt. Die Lage im umkämpften Baba Amr werde allerdings von Tag zu Tag schlechter, die dortigen medizinischen Einrichtungen seien nicht in der Lage, schwere Verletzungen zu behandeln. Helfer des Syrischen Roten Halbmondes (SARC) hätten in der vergangenen Woche Hilfsgüter verteilt und 27 Personen von dort in Krankenhäuser in Homs evakuieren können. Die Hilfe werden fortgesetzt, sobald die syrischen Streitkräfte und die bewaffneten Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« freies Geleit zusicherten.

Der SARC hat bisher zwei Mitarbeiter verloren. So wurde sein Generalsekretär in Idlib Anfang des Jahres in seinem deutlich mit dem roten Halbmond gekennzeichneten Fahrzeug erschossen. »Man muß sehr, sehr vorsichtig sein«, berichtet der Leiter von SARC Damaskus, Khaled Erksoussi. »In einem so angeheizten Konflikt nehmen die Leute auch auf uns als neutrale Hilfsorganisation keine Rücksicht.«

Ein Arzt bestätigte, daß medizinisches Personal, das in privaten und staatlichen Krankenhäusern Patienten mit Schußverletzungen behandelt hatte, von Sicherheitskräften unter Druck gesetzt worden sei. Allerdings seien nicht nur in Syrien Krankenhäuser verpflichtet, Schußverletzungen und bewaffnete Patienten zu melden.

Baba Amr ist ein Vorort der zentralsyrischen Stadt Homs, die nahe der libanesischen Grenze liegt. Seit Monaten werden aus dem Nachbarland Waffen und Kämpfer nach Syrien geschleust, die in Baba Amr Stellung bezogen haben und den Ort kontrollieren. Um ihre Kontrolle auf die anderen Stadtteile von Homs auszuweiten, nutzten die Kämpfer friedliche Proteste, die auf dem zentralen »Uhrenplatz« stattfanden. In deren Schutz rückten sie immer weiter ins Zentrum von Homs vor, bedrohten Einwohner, die ihre Meinung nicht teilten und griffen Polizeistationen und Militärposten an. Das bestätigte gegenüber jW mindestens ein Dutzend Gesprächspartner in Homs und Damaskus. Zehntausende Einwohner haben ihre Wohnungen und Häuser verlassen, um nicht in das Kreuzfeuer von Armee und bewaffneten Kämpfern zu geraten. Sie flohen in die Dörfer in den Bergen westlich von Homs, in die Küstenstädte Banias und Tartous, nach Karyateyn, wo sich die Einwohnerzahl fast verdoppelt hat, sowie nach Damaskus.

Bei den Familien, die in Medienberichten in Flüchtlingslagern in Jordanien, in der Türkei oder im Libanon gezeigt werden, handelt es sich nach Einschätzung politischer Beobachter hingegen um Angehörige von Kämpfern, die in Syrien getötet, festgenommen oder im Einsatz seien. Es entspreche der arabischen Mentalität und Tradition, die eigene Familie in Sicherheit zu bringen oder weit von ihr entfernt zu kämpfen, sagte Mahmud K. im Gespräch mit jW. Der Mann wohnt in einer Satellitenstadt am Rande von Damaskus, in der es seit Monaten zu Protesten kommt. Daß bewaffnete Kämpfer in ihrem Ort aufgetaucht seien und inmitten von Wohnvierteln kämpften, wo Alte, Frauen und Kinder lebten, sei für ihn deshalb ein Beleg, daß es sich nicht um ursprüngliche Einwohner der Ortschaft handele, sondern daß diese für ihren bewaffneten Einsatz bezahlt würden.

** Aus: junge Welt, 29. Februar 2012


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