Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Kämpfe bei Azaz

Syrien: Viele Tote bei Gefechten zwischen FSA und Islamisten

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Nach Angaben der oppositionellen syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London liefern sich islamistische Gotteskrieger und Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« heftige Kämpfer im syrisch-türkischen Grenzgebiet bei Azaz. Auf Seiten der Islamisten soll die Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) Scharfschützen auf Dächern postiert haben, um ihren Kontrollanspruch zu behaupten. Die Kämpfe sollen bereits am Mittwoch begonnen und auf beiden Seiten mindestens 100 Tote gefordert haben. Ausgelöst worden seien sie durch den Versuch der Islamisten, deutsche Ärzte aus einem Krankenhaus zu entführen, berichtet die Nachrichtenagentur dpa. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht.

Anfang 2012 hatten in Azaz islamistische Kämpfer eine Gruppe von libanesischen Pilgern entführt, die auf dem Rückweg aus dem Iran in den Libanon waren. Neun Männer aus der Pilgergruppe sind bis heute nicht zurückgekehrt. In Deutschland wurde der Ort Azaz durch das Engagement der Organisation »Grünhelme« bekannt, die dort unter Leitung ihres Gründers und Vorsitzenden Rupert Neudeck bei der Wiederherstellung einer zerstörten Schule und eines zerstörten Krankenhauses geholfen hat. Nach der Entführung von drei Grünhelm-Mitarbeitern im Mai in einem anderen Ort im Grenzgebiet, hatte die Organisation vorerst ihr Engagement dort eingestellt. Alle drei Männer sind inzwischen wieder frei.

Die französische Nachrichtenagentur AFP meldete den Tod eines Mannes, der unter dem Pseudonym »Hazem Al-Azizi« für ausländische Medien aus Azaz berichtet hatte. AFP zufolge sollen die ISIS-Kämpfer Azaz »überrannt« und sich dabei mit ehemaligen Verbündeten schwere Feuergefechte geliefert haben. ISIS habe die vollständige Kontrolle von Azaz übernommen, sagte ein Mann, der sich »Abu Ahmad« nannte. Die Islamisten seien auf dem Weg zum nahegelegenen Grenzübergang in die Türkei, Bab Al-Salameh. Bisher wurde der Grenzübergang von verschiedenen Gruppen, darunter auch einer »Sturmbrigade des Nordens«, kontrolliert. Diese Brigade hatte im Oktober 2012 einen libanesischen Journalisten entführt und soll jetzt alle Kampfverbände in der Umgebung von Azaz aufgerufen haben, sich »sofort nach Azaz zu bewegen, um den Ort von ISIS zu befreien und zu schützen« .

Die Spannungen zwischen »FSA« und den Islamisten hätten seit Monaten zugenommen, berichtete ein ausländischer Diplomat gegenüber jW in Damaskus. Offenbar sei ein Verteilungskampf um Waffen und Kontrollpunkte im Gange. Im Vorfeld des erwarteten US-Angriffs auf Syrien hätten Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« offenbar Waffen- und Munitionslager der Islamisten mit elektronischen Chips als potentielle Ziele für US-Raketen markiert, sagte der Diplomat. Daraufhin seien die Kämpfe massiv aufgeflammt.

Mokhtar Lamani, Stellvertreter des UN-Sondervermittlers für Syrien Lakhdar Brahimi in Damaskus, wies im Gespräch mit jW auf die Unübersichtlichkeit der bewaffneten Gruppen hin. Bis zu 2000 derartige Gruppen unterschiedlicher Größe und Ausrichtung hätten er und sein Team bisher ausgemacht. Bei der »Freien Syrischen Armee« habe man es mit »Hunderten Gruppen« zu tun. Eine »Brigade« könne »nicht militärisch definiert werden«, so Lamani. »Es können fünf oder auch 5000 Leute sein«. Es gebe »Nationalisten«, die Demokratie wollten, »Extremisten« mit völlig anderen Zielen, jenseits von Syrien«. Und es gebe »Kriminelle, die die Situation ausnutzen, um ein Museum zu plündern, oder Leute entführen, um Geld zu erpressen«.

Bei der ferngezündeten Explosion einer am Straßenrand plazierten Bombe sind am Donnerstag morgen zehn Reisende eines Überlandbusses in der Provinz Homs getötet worden. Ein weiterer Bus wurde mit einer Mörsergranate angegriffen, dabei kam der Fahrer ums Leben. Beide Anschläge ereigneten sich auf der Straße zwischen dem Ort Masjaf und der Stadt Homs, viele Reisende wurden verletzt.

Die syrischen Streitkräfte haben derweil in der Gebirgsregion zwischen Homs und dem Mittelmeer, wo viele Inlandsvertriebene aus Aleppo, Hassakeh und Homs Zuflucht gefunden haben, massive Operationen gegen Stützpunkte von Aufständischen durchgeführt. Dabei wurden nach Armeeangaben viele Aufständische getötet.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. September 2013


Neue Töne zu Syrien

Manche Großsprecher plötzlich kleinlaut

Von Roland Etzel **


Haben sich die Verhältnisse umgekehrt, und Syriens Präsident Baschar al-Assad hat die politische Defensive verlassen, um jetzt seinerseits den Westen vor sich herzutreiben? Diese Aussage wäre gewiss übertrieben. Immerhin aber hören wir in der politisch bislang so festgefahrenen Syrien-Debatte Dinge, die noch vor wenigen Tagen unvorstellbar schienen.

Mit seiner Erklärung Mittwochnacht im US-Fernsehsender Fox, dass er die Bestände in seinem Lande an Chemiewaffen binnen eines Jahres zu eliminieren gedenke, hat Assad seinen Kritikern im Westen ziemlich den Wind aus den Segeln genommen. Technologisch ist dies selbst bei Frieden im Lande kaum zu schaffen, zumindest nicht ohne massive finanzielle und logistische Unterstützung der Großmächte. Assad sprach gestern von einer Milliarde Dollar an Kosten für die Vernichtungsaktion.

Syrien wird das mit eigenen Kapazitäten selbst bei bestem Willen nicht bewerkstelligen können. Wie aber dann? Die für die Umsetzung des Abrüstungsplans zuständige Organisation für das Verbot Chemischer Waffen scheint im Moment selbst ratlos zu sein. Jedenfalls hat sie ihre Tagung auf unbestimmte Zeit verschoben.

Derweil tun sich wunderliche Dinge in Berlin. Das Eingeständnis der Bundesregierung vom Mittwoch, Deutschland habe nach der Jahrtausendwende unter Rot-Grün und Schwarz-Rot Giftgas-Komponenten an Syrien geliefert, hat Syrien, an dessen Regierung bislang kein gutes Haar gelassen wurde, wieder zu einem ganz normalen Partner werden lassen. Der erstaunte Fernsehzuschauer erfuhr jedenfalls am Mittwochabend in der ARD von Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Wir gehen davon aus, dass die Substanzen für die zivile Nutzung genutzt wurden.«

Aber auch SPD und Grüne wirken merklich verklemmt, fallen die inkriminierten Lieferungen doch auch in ihre Regierungszeit. Klare Aussagen jedenfalls gab es nicht. Gert Weißkirchen, seinerzeit außenpolitischer Sprecher der SPD, behauptete am Donnerstag im Deutschlandfunk, die Lieferungen seien zwar von Bundesregierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung genehmigt worden. Damals sei das syrische Giftgas-Programm »in der heutigen Schärfe« aber noch nicht bekannt gewesen. Im Klartext heißt das also: Ja, es war bekannt.

Der Grünenpolitiker Frithjof Schmidt sagte gegenüber epd, sollten die Stoffe für die Herstellung von Chemiewaffen verwendet worden sein, hätte das deutsche Rüstungsexportkontrollsystem kläglich versagt. Das heißt also: Versagt hat nicht das Kontrollsystem, sondern die Kontrolleure, zu denen von den Grünen bis 2005 auf jeden Fall Joschka Fischer als Außenminister gehörte. All das klingt, wie das heimliche Flehen: Lieber, böser Assad, sag doch bitte, dass ihr nur Zahnpasta daraus gemacht habt.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 20. September 2013


Zurück zur Syrien-Seite

Zurück zur Homepage