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Wessen rote Linie?

US-Präsident Barack Obama warnte vor einem Jahr Syrien vor einem Giftgaseinsatz. Gegenüber Iran ist er vorsichtiger, obwohl Israel drängt

Von Knut Mellenthin *

Für seine Kriegsdrohungen gegen Syrien beruft US-Präsident Barack Obama sich auf eine »rote Linie«, die er selbst am 20. August 2012 – fast genau ein Jahr vor dem Giftgaseinsatz in der Umgebung von Damaskus – definiert hatte. Damals antwortete er während einer Pressekonferenz auf eine gezielte Frage nach Militärschlägen gegen Syrien: »Wir haben es dem Assad-Regime, aber auch anderen Akteuren in der Region, sehr klar gemacht, daß eine rote Linie für uns überschritten wäre, wenn wir sehen, daß größere Mengen von chemischen Waffen herumtransportiert oder eingesetzt werden. Das würde meine Einschätzung der Lage und mein Herangehen ändern.«

Normalerweise verkünden Politiker »rote Linien« nicht öffentlich, weil sie sich dadurch lediglich ohne praktischen Nutzen selbst in Zugzwang begeben und sich zum Gefangenen ihrer eigenen Rhetorik machen. Genau das scheint in diesem Fall wirklich passiert zu sein. In Wirklichkeit hätte es, wenn man Obamas Argumentation überhaupt ernst nehmen will, ausgereicht und die größtmögliche Wirkung erzielt, wenn amerikanische Diplomaten ihren russischen Kollegen vertraulich erläutert hätten, daß es für Obama hinsichtlich der syrischen Chemiewaffen eine absolut ernstzunehmende Grenze gibt und daß Rußland dies Assad eindringlich klarmachen solle.

Kommandoaktionen

Spricht Obama in Reden und öffentlichen Bemerkungen oft von »roten Linien«? Gehört das also zu seinem üblichen Stil? Nein, durchaus nicht. Es widerspricht sogar seiner starken Neigung, präzise Festlegungen zu vermeiden und sich immer mehrere Hinterausgänge offenzuhalten. Obama hat diesen Begriff vermutlich genau ein einziges Mal gebraucht, nämlich nur in bezug auf Syrien und nur am 20. August 2012 (und seither unter Berufung auf sich selbst).

Dagegen sprach und spricht Israels Premier Benjamin Netanjahu ständig von »roten Linien«, hauptsächlich in bezug auf das iranische Atomprogramm. Er tut das nicht etwa in dem Sinn, daß er die »rote Linie« seiner eigenen Regierung definiert. Das hat er bis heute nicht getan und beabsichtigt er wohl auch nicht. Sondern er verlangt konkrete Festlegungen nur von anderen – manchmal sogar von der gesamten Welt, besonders aber von den USA. Bis jetzt hat die US-Administration es de facto und sogar ausdrücklich abgelehnt, diesem Verlangen in bezug auf den Iran nachzukommen. Die damalige Außenministerin Hillary Clinton erklärte, direkt an Netanjahus Adresse gerichtet, am 10. September 2012 öffentlich und anscheinend prinzipiell gemeint: »Wir legen uns nicht auf rote Linien fest.«

Gerade das hatte Obama aber gegenüber Syrien schon getan. Zuvor hatte die israelische Regierung mehrmals mit sehr drastischen Drohungen operiert, sie werde sich in Kürze selbst der syrischen Chemiewaffen annehmen, da es offenbar sonst niemand tun wolle. Das Stichwort war »sicherstellen«. Gemeint war: durch Kommandoaktionen. Denn Chemiewaffendepots durch Luftangriffe zu zerstören, gilt wegen der Freisetzung von Giftstoffen als praktisch ausgeschlossene Option.

Warum gab Obama der Erpressung durch Netanjahu im Falle Syriens nach, widerstand aber bis heute der Forderung nach einer »roten Linie« gegenüber Iran? Eine mögliche und plausible Erklärung ist, daß Obama die israelischen Drohungen gegen Syrien für sehr viel realistischer und ernster hielt als die gegen Iran. Zugleich könnte es sich auch um eine Art Bauernopfer gehandelt haben: eine »rote Linie« gegen Syrien, um Ruhe vor dem ständigen Drängen Netanjahus zu haben und keine »rote Linie« gegen Iran aussprechen zu müssen.

Zweiter Versuch

Das bedeutet aber auch: Obama steht nach wie vor unter dem Zwang, seine Drohung vom 20. August 2012 einzulösen, da gegenüber der israelischen Regierung und der Pro-Israel-Lobby zugleich auch seine Zuverlässigkeit und seine viel beschworene »Glaubwürdigkeit« in bezug auf den Iran auf dem Spiel steht. Während in vermutlich allen anderen Ländern der Welt Obamas Kriegspläne gegen Syrien auf Ablehnung stießen, zeigen Umfragen, daß rund zwei Drittel der Israelis Militärschläge befürworten und »enttäuscht« über die Einschaltung des Kongresses sind. In den Medien des Landes erscheinen Kommentare, die den US-Präsidenten als »rückgratlos« und »ängstlich« beschimpfen und ihn als »schwachen und unzuverlässigen Verbündeten« bezeichnen. »Wenn der US-Präsident keine Unterstützung für Operationen gegen Syrien gewinnen kann, wie will er dann seine Versprechen bezüglich Irans einhalten?«, hieß es am 9. September in der auflagenstärksten israelischen Tageszeitung, Jediot Achronot.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die Berichte, wonach die frühesten und wichtigsten »Hinweise«, daß der Giftgaseinsatz vom 21. August auf Assads Konto gehe, von israelischer Seite gekommen seien. Der Fernsehsender Kanal 2 meldete bereits zwei Tage später, daß eine israelische Spezialeinheit entsprechende Gespräche abgehört habe, und nannte sogar exakt die syrische Brigade, die die Granaten angeblich abgefeuert hatte. Die israelischen Streitkräfte hatten schon einmal im März versucht, die syrische Regierung für einen im Umfang kleineren Giftgaseinsatz verantwortlich zu machen.

* Aus: junge welt, Montag, 16. September 2013


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