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Flüchtlinge im eigenen Land

Infolge der Kämpfe und schlechter Versorgung verließen Tausende ihre Zuhause

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Heute vor einem Jahr wurden in der südwestsyrischen Stadt Daraa willkürlich Kinder verhaftet. Die Folge waren friedliche Massenproteste, die blutig niedergeschlagen wurden, schießlich aber faktisch das ganze Land erfassten. Der 15. März 2011 gilt deshalb als Beginn der Erhebung in Syrien.

»Uns ist egal, wer Präsident ist, wir möchten nur eines: Frieden. Damit Sie und andere Ausländer uns endlich wieder besuchen kommen.« Die junge Frau zupft an ihrem farbenprächtigen Kopftuch und reicht ihre Hand zum Abschied. Mit Sohn und Tochter ist sie auf dem Weg nach Jemen, wo sie einige Wochen bei ihrer Mutter bleiben will. Ihr Ehemann arbeite in Saudi-Arabien, doch dort seien die Einreisebestimmungen für Angehörige so streng, dass sie keine Chance habe. Jemen sei noch gefährlicher als Syrien, habe ihre Tochter protestiert. Außerdem müsse sie sich dort in einem schwarzen Mantel verhüllen und könne sich nicht frei bewegen, wie sie es gewohnt sei. Doch es sei nur für einige Wochen, bis hoffentlich wieder Ruhe eingekehrt sei, habe sie den Kindern versprochen.

Obwohl durch Unruhen und Kämpfe in Syrien Tausende Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben, sucht man vergebens nach Flüchtlingslagern. Viele schließen einfach Wohnungen und Häuser zu und fahren mit dem Nötigsten zu Verwandten oder Bekannten. Andere haben ihre Wohnungen zum Verkauf angeboten, um aus Unruheorten - wie Harasta, Maadamiya oder Douma - weg zu kommen. Flüchtlinge aus Homs trifft man in den christlichen Dörfern um den Crac des Chevaliers, wo die Häuser »voll bis unters Dach« seien, wie ein Restaurantbesitzer erzählt. Wer kann, sucht Zuflucht in den Ferienorten an der Küste, selbst die Oasenstadt Qaryatayn, östlich von Homs, hat Tausende Flüchtlinge aufgenommen.

Für viele Teile des Landes beschreibt das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die Lage als »schwierig«, nicht zuletzt infolge der sich verschlechternden Wirtschaftslage. Gemeinsam mit dem Syrischen Arabischen Roten Halbmond habe das IKRK Tausenden von Menschen u. a. in Hama, Idlib und Daraa geholfen, heißt es in einer Stellungnahme. Lebensmittel, Decken und Medikamente würden verteilt, in Idlib täglich. Mitte Februar hat das Berliner Auswärtige Amt ein »Nothilfeprojekt für Menschen in Syrien« ins Leben gerufen, finanziert mit einem Volumen von rund drei Millionen Euro.

Internationale Medien berichten fast täglich von Flüchtlingsdramen und zeigen, wie Bulldozer in Jordanien Platz für neue Flüchtlingslager schaffen. Doch fliehen weit weniger Syrer, als vermittelt wird. »Wir haben nicht die Zahl syrischer Flüchtlinge gesehen, die wir erwartet haben«, sagt Sanna Johnson von der Kinderhilfsorganisation »Save the Children«.

»Humanitäre Korridore« stehen seit Monaten ganz oben auf der Forderungsliste der Vereinten Nationen und westlicher Regierungen. Doch so sehr Syrien darauf achtet, keine Kämpfer und Waffen ins Land zu lassen, so gibt es offiziell, keine Schwierigkeiten, das Land zu verlassen. Allerdings heißt es in einer Erklärung der Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch, Syriens Armee habe Landminen entlang seiner Grenzen zu Libanon und zur Türkei gelegt.

Das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge gibt die Zahl der registrierten syrischen Flüchtlinge im libanesischen Bekaa-Tal derzeit mit rund 4000 an, 295 Familien. Mehrere hundert Personen seien zuletzt »aus Homs und Umgebung« gekommen, offenbar sei diesen »der Grenzübergang erlaubt worden«.

Nordlibanon gilt, wie die türkische Grenzregion Hatay und das jordanische Grenzgebiet Ramtha als »Hinterland« der Aufständischen, von wo sie mit Kämpfern und Waffen versorgt werden. Als kürzlich US-Botschafterin Maura Connelly die libanesischen Behörden aufforderte, »alle unbewaffneten Syrer« zu schützen, »auch Mitglieder der Freien Syrischen Armee«, war die Ablehnung von Außenminister Adnan Mansour eindeutig. Libanon handele »nicht auf Anforderung, sondern aus Eigeninteresse für die Sicherheit des Landes.«

* Aus: neues deutschland, 15. März 2012


Das Volk hat zuerst eine Forderung: Rücktritt der Regierung

Die oppositionelle syrische Publizistin Mais Elkrydee hält die politischen Versprechen Assads nach wie vor für unglaubwürdig **

Auf Einladung der Bundestagsfraktion der LINKEN weilt seit dieser Woche die syrische Bürgerrechtlerin Mais Elkrydee in Berlin. Mit der Damaszener Publizistin (Jahrgang 1977), die für das Nationale Koordinierungskomitee für den demokratischen Wandel (NCB) aktiv ist und sich selbst als marxistisch bezeichnet, sprach für "neues deutschland" (nd) Roland Etzel.


Heute vor einem Jahr gab es noch kein NCB. Waren Sie schon immer eine Gegnerin der Politik von Präsident Assad? Waren Sie überhaupt früher schon politisch aktiv?

Seit 2009 ist bekannt, dass ich gegen das Assad-Regime tätig bin, also gegen seine Politik. Eigentlich ist das ganze syrische Volk in Opposition gegen dieses Regime, aber es verhält sich als schweigende Mehrheit. Die meisten Aufständischen in Daraa, wo die Revolution begann, gehörten ja sogar zur Baath-Partei (Regierungspartei, die auch heute noch alle wichtigen Positionen im Staat besetzt - R. E). Gegen mich lag seit 2010 ein Ausreiseverbot vor, weil ich in nichtstaatlichen Organisationen tätig bin.

Können Sie sich jetzt legal für das NCB betätigen?

In der jetzigen Situation in Syrien ist unsere Tätigkeit weitgehend öffentlich. Das betrifft aber nicht unsere Arbeit an den Brennpunkten z. B. mit Jugendlichen. Das ist unter diesem Regime nicht möglich. Es hält ständig die Pistole auf die Brust.

Wie können Sie da derzeit überhaupt publizistisch tätig sein?

Seit Beginn der syrischen Revolution schreibe ich nicht mehr, nirgendwo, in keiner Zeitung und keinen anderen syrischen Medien, die öffentlich sind. Ich äußere mich aber Websites, wo über die syrische Revolution berichtet wird. Und ich habe auch eine Seite auf Facebook, die von Jugendlichen sehr viel gelesen wird. Meine Seite wird ständig besucht von etwa 5000 Personen.

In der vergangenen Woche war UN-Vermittler Kofi Annan in Damaskus. Er hat sich nach seinen Gesprächen mit der Regierung verhalten positiv geäußert über die Friedensaussichten.

Unsere Erfahrung mit der syrischen Regierung ist, dass sie gegenüber Diplomaten immer Versprechen abgibt. Aber sie hat sich nie daran gehalten.

Schließen Sie Gespräche mit der Regierung aus? Was verlangen Sie jetzt von ihr?

Ich glaube, dass die syrische Regierung keine Zugeständnisse gegenüber den Forderungen der syrischen Opposition und des syrischen Volkes machen wird.

Würden Sie verhandeln, wenn Sie ein Angebot bekämen?

Um Verhandlungen zu führen, muss man auch ein Mandat des syrischen Volkes haben. Und das Volk hat zuerst eine Forderung: den Rücktritt der Regierung. Notwendig ist eine Übergabe der Macht. Verhandeln also Ja, aber erst nach Rücktritt von Staatschef Baschar al-Assad.

Ich vermute, Sie sehen deshalb auch in der neuen, am 26. Februar per Referendum angenommenen Verfassung keine Basis für einen Neubeginn in Syrien.

Sicher kann man Teile der Verfassung diskutieren, aber für uns ist die Verfassung gegenstandslos, weil sie von den Machthabern allein erarbeitet wurde. Weiterhin gehört nach ihrem Text alle Macht dem Präsidenten, einschließlich des Oberbefehls der Streitkräfte. Im Grunde genommen sehen wir nirgendwo Reformen. Unsere Organisation hatte deshalb zum Boykott aufgerufen.

Mit welchen oppositionellen Gruppen arbeiten Sie zusammen?

Unser Bezugspunkt ist das syrische Volk. Wir arbeiten daran, dass die gesamte Opposition sich einigt, und das ist auch die wichtigste Forderung, die unser Volk an uns hat.

Treten Sie auch für bewaffneten Widerstand und Hilfe von außen ein?

Diese Frage bekomme ich immer wieder gestellt. Wissen Sie, Bürger, die sich an friedlichen Demonstrationen beteiligen, wissen nicht, ob sie wohlbehalten oder ob sie in einem Sarg zurückkehren. Und wer ein Messer an der Kehle fühlt, der wird auch den Teufel rufen. Aber Fakt ist: Dieses Volk will seinen Kampf allein führen.

** Aus: neues deutschland, 15. März 2012

Die syrische Opposition

Nationales Koordinierungskomitee für den demokratischen Wandel (NCB):

Das von Hassan Abdel Asim geleitete NCB vereint arabische Nationalisten, Kurden, Sozialisten und Marxisten sowie unabhängige Persönlichkeiten wie den Wirtschaftsexperten Aref Dalila. Das Komitee gründete sich Mitte September in der Nähe von Damaskus und wählte als Führungsgremium einen Zentralrat. Die Gruppierung ist strikt gegen eine Militärintervention von außen, ein Versuch einer Annäherung an den SNC scheiterte. Das NCB boykottiert die Konferenz in Tunis aus Protest gegen den Plan, den Nationalrat als Repräsentanten der syrischen Opposition anzuerkennen.

Syrischer Nationalrat (SNC):

Der im August in Istanbul gegründete SNC gilt als größte syrische Oppositionsgruppe. Ihren Vertretungsanspruch bezieht sie auch daraus, dass Frankreich und die USA den SNC als Ansprechpartner bevorzugen. Auf der Konferenz in Tunis wurde der SNC von einigen westlichen Staaten als »legitimer«, wenn auch nicht als einziger Repräsentant der syrischen Opposition anerkannt. Im SNC sind Islamisten, vor allem Anhänger der Muslimbrüder, Liberale und Nationalisten vereint. Sein Vorsitzender ist der im französischen Exil lebende Oppositionelle Burhan Ghaliun, der sich für eine militärische Intervention in Syrien ausgesprochen hat. Seine Gegner werfen Ghaliun vor, er koordiniere seine Vorgehensweise nicht hinreichend mit den Kräften vor Ort.

Örtliche Koordinierungskomitees:

Die Komitees sehen sich als Bestandteil des Nationalrates, in ihnen sind die Protestbewegungen aus einzelnen Städten zusammengeschlossen. Die meisten ihrer Mitglieder sind junge Syrer ohne militante Vergangenheit, die sich über soziale Netzwerke organisieren, u.a. um Verletzte aus ihren Reihen außerhalb der von den Sicherheitskräften kontrollierten Krankenhäuser zu versorgen.

Darüber hinaus gibt es eine Syrische Koalition säkularer und demokratischer Kräfte, die sich u. a. auf die christlichen Minderheiten orientiert, sowie einen Syrischen Revolutionsausschuss, der sich Mitte August gegründet und als Ziel erklärt hat, die Reihen der Opposition zu schließen und gemeinsam den Sturz Assads zu erzwingen.
nd




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