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Proteste in Syrien werden vor allem aus dem Ausland angeheizt. EU diskutiert verschärfte Sanktionen gegen Damaskus

Von Karin Leukefeld *

Die Lage in Syrien bleibt weiter unübersichtlich. Für den gestrigen Freitag war zu einem landesweiten »Tag des Zorns« aufgerufen worden, die Menschen sollten sich nach dem Freitagsgebet vor den Moscheen versammeln, hieß es in einem Aufruf, der über die Facebookseite »Syrische Revolution 2011« verbreitet worden war. Deren Betreiber ist der in Schweden sitzende Fidaad-Din Tariif As-Sayyid Isa, der Vertreter der in Syrien verbotenen Muslimbruderschaft. Die Protestbewegung solle »mit einer Stimme nach Freiheit und Würde« rufen, hieß es in einem Aufruf, den die Agentur Reuters zitierte. Anwohner von Damaskus berichteten, daß viele Zugangsstraßen in die Hauptstadt gesperrt worden waren.

Staatliche Dementis

Westliche Medien berichteten unterdessen weiter über eine gewaltsame Niederschlagung der Protestbewegung und beriefen sich dabei auf Informationen, die sie aus Daraa erhielten. Einige Bataillone der syrischen Armee hätten sich geweigert, auf die Menschen zu schießen, sagte Ausama Mojdeed, der im Internet ein »Syrian Revolution News Round-Up« betreibt. Es gebe Auseinandersetzungen innerhalb der Armee, wird der in London lebende Aktivist von dapd zitiert. Aus Protest gegen das Vorgehen der Armee in ­Daraa sollen mehr als 200 Mitglieder aus der regierenden Baath-Partei ausgetreten sein. Auch in Banias habe die Partei Mitglieder verloren.

Sowohl die Kämpfe innerhalb des Militärs als auch Massenaustritte aus der Baath-Partei werden von der staatlichen Nachrichtenagentur SANA dementiert. Gleichzeitig wurden Berichte veröffentlicht, aus denen hervorgeht, daß Berichte ausländischer Fernsehkanäle gefälscht oder zumindest nicht hinterfragt wurden. Offenbar stammten einige der gezeigten Bilder aus Tunesien und Libyen, andere seien in »Chatrooms« wie »Paltalk« vorfabriziert worden. Der syrische Chirurg Ammar Agha aus Jableh berichtete, daß sich ein »Augenzeuge« gegenüber dem Fernsehsender Al-Dschasira als »Chirurg Ammar Agha aus Jableh« ausgegeben und über Ereignisse berichtet habe, die dort nicht stattgefunden hätten. Er selbst habe jedoch nie mit dem Sender telefoniert. Andere »Augenzeugen« telefonierten aus ihren Wohnungen oder von Hausdächern, ohne tatsächlich vor Ort die Geschehnisse zu verfolgen. Der Büroleiter von Al-Dschasira in Beirut, der tunesische Journalist Ghassan Ben Jeddo, ist aus Kritik an der Berichterstattung des Senders von seinem Posten zurückgetreten.

»Nachrichten« aus Maryland

Der Einfluß des Auslands auf die Geschehnisse in Syrien wird deutlich an dem Exilaktivisten Ammar Abdulhamid der aus dem US-Bundesstaat Maryland mit seiner Webseite »Syrian Revolution Digest« täglich neue »Berichte« in Umlauf bringt. Seinen Angaben zufolge habe man mindestens 100 Satellitentelefone, Hunderte von Kameras und Laptops an Mitstreiter in Syrien verteilt, die in jeder Provinz über ein Netzwerk von Leuten verfügten. Finanziert werde man von Geschäftsleuten. Abdulhamid selber betreibt eine Stiftung zur »Förderung der Demokratie im Größeren Mittleren Osten und in der Region Nordafrika«.

Unter Verweis auf die Lage in Syrien diskutierten in Brüssel EU-Botschafter über verschärfte Sanktionen gegen Damaskus. Vorgesehen sind Reisebeschränkungen, das Einfrieren von Vermögenswerten, ein Stopp von Wirtschaftshilfen sowie ein Waffenembargo. Die internationale Gemeinschaft müsse mit einer Stimme gegen Syrien sprechen, sagte Außenminister Guido Westerwelle vor dem Treffen in der ARD. Auch der UN-Menschenrechtsrat trat am Freitag zu einer Dringlichkeitssitzung über die Lage in Syrien zusammen. Aktivisten versuchen, die für den 20. Mai vorgesehene Wahl Syriens in das Gremium zu verhindern. In London wurde der syrische Botschafter Sami Khiyami von den königlichen Hochzeitsfeierlichkeiten am Freitag ausgeladen.

* Aus: junge Welt, 30. April 2011

Wer tötet die Sicherheitskräfte? **

Es sind traurige Zeiten in Syrien. Die hiesige Version des »Arabischen Aufstandes« dauert seit fünf Wochen und tritt in eine neue Phase ein. Menschenrechtsorganisationen schätzen, daß 453 Menschen getötet wurden. Die Ausweisung ausländischer Medien, die einseitige Berichterstattung der staatlichen Medien und die Beschränkung auf YouTube-Clips von den Protesten schränkt das lokale und internationale Verständnis von dem, was hier geschieht, erheblich ein. Eins ist klar, die Bewegung für mehr Demokratie hat es nicht geschafft, signifikante Menschenmengen auf die Straßen zu bekommen. (….) 98 Prozent der Bevölkerung bleiben zu Hause. Obwohl sie sich nach mehr Freiheiten, mehr Teilhabe und einer Lockerung des Polizeistaates sehnen, wollen sie doch kein Chaos, das ein Sturz des Baath-Regimes vermutlich mit sich bringen wird. Die Situation im Irak und im Libanon erinnert sie täglich an das, was geschehen könnte. (...)

Das staatliche Fernsehen berichtet seit drei Wochen ausführlich über Beerdigungen von Sicherheitskräften. Gestern (26.4.) wurden 25 beerdigt, ihre Namen verlesen und Familien interviewt. Heute waren es wieder 21. Offenbar wurden sie in Daraa getötet. Meiner Ansicht ist das ein ernst zu nehmender Beweis dafür, daß es tatsächlich Gruppen gibt, die Soldaten und Polizisten, Feuerwehrleute und die Fahrer von Rettungswagen erschießen. Schätzungsweise 60 von ihnen wurden bisher getötet. (...)

Wer tötet diese Sicherheitskräfte? Das Regime beschuldigt nicht die Demokratiebewegung, das ist wichtig. Wer also mögen diese bewaffneten Banden sein? Es gibt viele Verdächtige, Syrien hat viele Feinde. Libanesische Sunniten? Libanesisch-phalangistische Christen, radikale sunnitische Muslime, vielleicht von den Muslimbrüdern, kurdische Minderheiten, der israelische Mossad, abtrünnige Alawiten aus dem System wie der frühere Vizepräsident (Abdulhamid) Kaddam, Abtrünnige aus den Sicherheitskräften? Alles ist möglich. (...)


** Aus dem Beitrag eines in Damaskus lebenden pensionierten Diplomaten im Onlineportal Syria Comment. Dokumentiert in: junge Welt, 30. April 2011.




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