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Syrien-Diplomatie kommt auf Tour

Damaskus begrüßt Vorschlag zur Kontrolle seiner Chemiewaffen

Von Roland Etzel *

Russland hat Syrien zur Vernichtung seiner Chemiewaffen aufgefordert und den Beitritt zur Chemiewaffenkonvention nahegelegt. Zuvor hatten die USA verlangt, Syrien müsse seine Chemiewaffen innerhalb einer Woche abgeben. Die syrische Führung begrüßt den russischen Vorschlag.

Das hat es im aktuellen Syrien-Konflikt noch nicht gegeben: Russland und die USA stellen eine identische Forderung an die syrische Regierung. US-Außenminister John Kerry forderte Damaskus am Montag auf, sämtliche chemischen Kampfstoffe an die »internationale Gemeinschaft« zu übergeben, und zwar innerhalb einer Woche. Logistisch dürfte das schwer zu bewerkstelligen sein und ist überdies eine indirekte Aufforderung zur Teilkapitulation. Die Antwort auf Kerrys Ultimatum – das er selbst nicht so verstanden wisse wollte – kam nicht aus Damaskus, sondern aus Moskau. Dessen Außenminister Sergej Lawrow forderte eine »schnelle und positive« Antwort von der Regierung in Damaskus. Diese erhielt er nur Stunden später an Ort und Stelle, befindet sich doch Syriens Außenminister Walid al-Muallim derzeit in Moskau.

Schon vor dem Petersburger Gipfel war von Moskau ein »Angebot« erwartet worden, welches US-Präsident Barack Obama eine Chance gibt, gesichtswahrend von seiner Kriegsrhetorik auf eine konziliantere Gangart zu wechseln. Der jetzige Aufruf an Syriens Präsident Baschar al-Assad könnte so verstanden werden. Lawrow sagt es deutlich: Es sei eine Maßnahme, damit ein Militärschlag gegen Syrien, wie ihn die USA und Frankreich erwägen, verhindert werden könne. Eine Antwort von Assad selbst auf die Kerry/Lawrow-Forderung nach Abgabe der Chemiewaffen stand bis zum gestrigen Abend noch aus.

Ungeachtet dessen mehren sich die Stimmen, die einen Krieg der USA gegen Syrien in jedem Fall ablehnen. Die Kooperation für den Frieden, ein Zusammenschluss von 57 Organisationen und Initiativen aus der deutschen Friedensbewegung, verlangte, die Kriegsvorbereitungen sofort zu stoppen. »Wir fordern Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, die Unterschrift unter die Petersburger Erklärung zurückzunehmen und jede Beteiligung an einer militärischen Intervention in Syrien öffentlich auszuschließen, keine weiteren Waffen in das Konfliktgebiet Naher und Mittlerer Osten zu exportieren und sich für einen Waffenstillstand einzusetzen«, heißt es in einer Erklärung.

In den USA wandten sich zwölf ehemalige Angehörige der US-Streitkräfte von Geheimdiensten mit einem warnenden Brief an Obama. Darin heißt es: »Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass – entgegen den Behauptungen Ihrer Regierung – Assad für den Vorfall mit chemischen Substanzen NICHT verantwortlich ist, der am 21. August syrische Zivilisten getötet und verwundet hat, und dass britische Geheimdienstbeamte sich dessen bewusst sind. Mehrere unserer früheren Kollegen haben uns berichtet, dass absolut zuverlässige Geheimdienstinformationen dies eindeutig belegen.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013


Friedensversuch

Damaskus folgt russischem Vorschlag: Chemiewaffen kommen unter internationale Kontrolle. Washington bereitet Angriff auf Syrien weiter vor

Von Arnold Schölzel **


Syrien hat sich bereit erklärt, sein Chemiewaffenarsenal unter internationale Kontrolle zu stellen. Er begrüße den entsprechenden russischen Vorschlag, sagte Syriens Außenminister Walid Al-Muallim am Montag in Moskau. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hatte zuvor die syrische Führung dazu aufgefordert und zugleich verlangt, die Chemiewaffen zu vernichten. Er forderte eine »schnelle und positive« Antwort. Moskau erhoffe sich von der Maßnahme, daß ein möglicher Militärschlag gegen Syrien, wie ihn die USA und Frankreich erwägen, damit verhindert werden könne. Das Land müsse zudem »der Organisation für das Verbot chemischer Waffen beitreten«, verlangte Lawrow nach Gesprächen mit seinem syrischen Amtskollegen. Zugleich warnte Lawrow erneut vor einem Militärschlag. »Es gibt keine Alternative zu einer friedlichen Lösung des syrischen Konflikts«, betonte er in Anwesenheit Al-Muallims. Es gebe »mehr als ausreichend« Beweise, daß syrische Rebellen und nicht Regierungstruppen für den angeblichen Chemiewaffeneinsatz im August verantwortlich seien. Rußland werde sich auf keinen »Kuhhandel« mit den USA einlassen.

US-Außenminister John Kerry hatte zuvor in London erklärt, Syriens Staatschef Baschar Al-Assad könne einem Angriff entgehen, wenn er »sämtliche« Chemiewaffen »innerhalb einer Woche« der internationalen Gemeinschaft übergebe. Später ließ er jedoch mitteilen, dies sei »rhetorisch« gemeint gewesen und nicht als »Ultimatum« zu verstehen.

Assad selbst warf den USA vor, »nicht den kleinsten Beweis« für einen Chemiewaffeneinsatz seitens der syrischen Streitkräfte vorgelegt zu haben. In einem Interview des US-Senders CBS, das am Montag ausgestrahlt werden sollte, bekräftigte er zugleich, daß sein Land auf einen US-Militärschlag vorbereitet sei. Nach einem Vorabbericht des Senders sagte Assad: »Es gibt keine Beweise dafür, daß ich chemische Waffen gegen mein eigenes Volk eingesetzt habe (…), und wenn die (Obama-)Regierung tatsächlich Beweise hat, dann sollte sie diese zeigen.« Weiter erklärte er: »Sie sollten auf alles gefaßt sein (…) Rebellen oder Terroristen in der Region« könnten als Antwort auf einen US-Angriff zu Chemiewaffen greifen. In der Region stehe »alles kurz vor der Explosion«.

US-Präsident Barack Obama, der vor einem möglichen Militärschlag ein Votum von Abgeordnetenhaus und Senat einholen will, wollte am Montag in Interviews mit sechs US-Fernsehsendern um Zustimmung werben. Selbst der Stabschef im Weißen Haus, Denis McDonough, räumte aber am Sonntag ein, daß die USA keine hundertprozentig sicheren Beweise für eine Verbindung der syrischen Regierung zur mutmaßlichen Giftgasattacke vom 21. August haben. Allerdings sage der gesunde Menschenverstand, »daß das Regime das ausgeführt hat«, behauptete er im US-Sender CNN.

In Gesprächen mit mindestens 85 Senatoren und mehr als 165 Abgeordneten hat die Regierung in den vergangenen zwei Wochen versucht, die Kräfteverhältnisse im Kongreß zu ihren Gunsten zu verschieben. Laut einer Zählung der Washington Post haben mindestens 230 von 435 Abgeordneten signalisiert, daß sie gegen einen Militärschlag in Syrien stimmen würden oder zu einem »Nein« neigten. Die nötige Mehrheit für eine Billigung oder Ablehnung liegt bei 217 Stimmen.

** Aus: junge welt, Dienstag, 10. September 2013


Frei von Courage

Von René Heilig ***

US-Außenminister Kerry war gestern für Millisekunden Friedensstifter. Er sagte: Assad soll innerhalb einer Woche sämtliche Chemiewaffen der internationalen Gemeinschaft übergeben. Eine Wiederholung des 21. August wäre ausgeschlossen, sicher kann man Russland dafür gewinnen, eine Garantiemacht zu werden. Ein Militärschlag wäre überflüssig. Erschrocken über so viel eigene Courage, schoss Kerry seine Idee selbst als nicht durchführbar ab – zu früh, sogar aus Damaskus kamen zarte Zeichen möglicher Zustimmung.

Spätestens jetzt hätte man sich von Merkel und Westerwelle ein »Aber doch!« gewünscht. Und einen mutigen Schritt raus aus dem bisherigen verdrucksten Verzögern. Wer, wenn nicht Deutschland könnte Praktikables vermitteln zwischen Washington, Damaskus und Moskau?! Es wäre Gelegenheit, die BND-Indizien für Assads Giftgas-Täterschaft im Original auf den Tisch legen, statt es der Boulevardpresse zu überlassen, Vermutungen zu einer »Smoking Gun« zu veredeln.

Warum ruft Merkel nicht auch das Parlament zusammen, um nach Volkes Meinung über einen Krieg im Kriege zu fragen? Das Parlament muss Garantien schaffen, dass Deutschland nicht abermals – ohne einen Finger krumm zu machen – Mittäter wird. Also: Rückzug der Patriot-Soldaten aus der Türkei; Abzug der Spezialisten aus NATO-Gefechtsständen, einschließlich AWACS; Aussetzen des UNIFIL-Mandates vor Libanon; keine Weitergabe von geheimen Daten an eine Kriegspartei.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013 (Kommentar)


Dirty Tricks

Kerrys unmoralisches Angebot ****

Werner Pirker Um die Verantwortung für den von ihr geplanten Krieg gegen Syrien der Regierung in Damaskus zuzuschieben, ist der Obama-Administration kein Trick zu schmutzig. Und das läuft dann auch noch unter Bemühungen, eine kriegerische Auseinandersetzung doch noch abzuwenden. Das Ultimatum, das US-Außenminister John Kerry der syrischen Seite gestellt hat, binnen einer Woche alle chemischen Waffen abzuliefern, ist ein als »letzte Friedenschance« präsentiertes unmoralisches Angebot.

Kerry weiß, daß Damaskus auf seine Forderung nicht eingehen wird. Schon allein deshalb nicht, weil es das Schicksal des Iraks vor Augen hat, der sich dem Abrüstungszwang einer US-beherrschten »internationalen Gemeinschaft« unterworfen und dabei sein Verteidigungspotential weitgehend eingebüßt hatte. Das Zweistromland wurde militärisch überfallen, nicht weil es über Massenvernichtungswaffen verfügte, sondern weil es sich dieser entledigt hatte. Die syrische Regierung hingegen hat deutlich gemacht, niemals chemische Waffen gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, sie im Fall einer ausländischen Aggression aber zur Anwendung zu bringen.

Warum sollte es ausgerechnet in der Entscheidungsgewalt der USA liegen, über welche Waffen ein Land wie Syrien verfügen darf und über welche nicht? Ausgerechnet in der Entscheidungsgewalt eines Landes, das mit Abstand über die meisten international geächteten Waffen verfügt und solche auch immer wieder zum Einsatz gebracht hat: Napalm und Agent Orange in Vietnam, weißen Phosphor im irakischen Falludscha, uranangereicherte Munition in Jugoslawien – und das als erstes und bisher einziges das Megakriegsverbrechen eines Atombombenabwurfes zu verantworten hat? Die Antwort liegt in der Frage. Washingtons Entscheidungsmacht über anderer Länder Angelegenheiten ergibt sich nicht zuletzt aus der skrupellosen Anwendung seines militärischen Erzwingungsapparates.

Doch noch existiert wenigstens pro forma eine Weltordnung, die auf dem Völkerrecht beruht. Auch wenn der aus der Systemauseinandersetzung siegreich hervorgegangene Westen die gesamte internationale Gemeinschaft zu vertreten vorgibt und sich die Vereinigten Staaten zunehmend als Exekutivmacht der Vereinten Nationen aufzuspielen belieben. Die schleichende Ersetzung des auf der (formalen) Gleichberechtigung der Staaten beruhenden Völkerrechtes durch das offen exekutierte Recht des Stärkeren findet im Prinzip der »Schutzverantwortung« ihren Ausdruck. Die kriegerische Durchsetzung eigener Interessen erscheint als Übernahme von Verantwortung selbstermächtigter »Führungsmächte« für die »Schutzbedürftigen«.

Friedensnobelpreisträger Obama ist für diese Heuchelei genau der Richtige. Doch gegen die Kriegsmüdigkeit der US-Bevölkerung kommt auch er nicht mehr richtig an. Der Friedensnobelpreisträgerin EU ergeht es nicht besser. Die Friedensnobelpreisträgerbande stößt an ihre Grenzen.

**** Aus: junge welt, Dienstag, 10. September 2013 (Kommentar)


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