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Streitfrage: Wie kann das Töten in Syrien gestoppt werden?

Es debattieren: Heiko Wimmen, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), und Knut Mellenthin, freier Journalist


Seit fast einem Jahr fordert ein Teil des syrischen Volkes den Rücktritt des Präsidenten Baschar al-Assad. Der lässt Truppen aufmarschieren und unterdrückt den Widerstand mit Waffengewalt. Tausende sollen den Kämpfen bereits zum Opfer gefallen sein. Zugleich gibt es immer wieder Demonstrationen, die sich mit der Führung in Damaskus solidarisieren. Die syrische Gesellschaft scheint gespalten.

Wie kann eine Lösung in Syrien herbeigeführt werden? Was kann der Westen tun, nachdem er das Land bereits sanktioniert hat? Sollten sich die USA und Europa überhaupt einmischen oder besser die Finger von Syrien lassen? Und welche Rolle können Russland und China spielen, die kürzlich eine UNO-Resolution gegen Syrien im Sicherheitsrat verhindert haben?

Die im Folgenden dokumentierten Debatten-Beiträge erschienen im "neuen deutschland".


Friedliche Revolution statt nackter Gewalt

Von Heiko Wimmen *

Nahezu alle vorstellbaren und in der Öffentlichkeit diskutierten Szenarien zur Entwicklung der Lage in Syrien implizieren eine Fortsetzung oder gar eine kata-strophale Eskalation der Gewalt. Die Fortdauer der Repression bis zur endgültigen Zermürbung des Widerstandes - eindeutig die Strategie des Regimes - wird einen langen Atem und entsprechend viele Opfer fordern. Zu viele Menschen sind an dem Aufstand beteiligt und müssen mit dem Schlimmsten rechnen, sollten die Assads jemals wieder fest im Sattel sitzen.

Eine militärische Intervention von außen - das unwahrscheinlichste aller Szenarien, angesichts der Risiken und der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA - wird weite Teile der Bevölkerung sowie das Militär in Unterstützung des Regimes zusammenschweißen: Baschar al-Assad ist nicht Saddam Hussein und Syrien nicht Irak; die Anzahl der potenziellen Opfer von Krieg und Besatzung könnte um ein Vielfaches höher liegen. Eine Spaltung des Regimes schließlich, und in der Folge der Armee und der Sicherheitskräfte, könnte der Auftakt zu einem wahrhaft apokalyptischen Szenario sein: schwer bewaffnete Einheiten verschiedener Fraktionen, die sich mit direkter Unterstützung regionaler Mächte (Iran, Saudi-Arabien) in dicht besiedeltem Gebiet bekämpfen und auf religiöse und konfessionelle Solidarität zurückgreifen. Ein Szenario, das an Bosnien oder Libanon erinnert, aber mit einer fünfmal höheren Bevölkerungszahl und chemischen Waffen als weitere Zutaten.

Verhandlungen und nationaler Dialog zur Einleitung eines geordneten Übergangsprozesses mögen angesichts solcher Schreckensszenarien als die einzig vertretbare Alternative erscheinen. Allein ein nationaler Dialog setzt voraus, dass das syrische Regime seine Widersacher als legitime Vertreter wenigstens eines Teils der syrischen Gesellschaft akzeptiert (und entsprechend die Gewaltanwendung beendet), wofür es keinerlei Anzeichen gibt. Darüber hinaus müsste jeder ernstzunehmende Übergangsprozess unvermeidlich mit einem Ende des Machtmonopols des al-Assad-Clans beginnen - und würde damit einen rapiden und durch das Regime nicht steuerbaren Verfall seiner Herrschaftsstrukturen einleiten. Ob mit den Schlächtern von Damaskus überhaupt noch verhandelt werden kann oder darf, darüber mag man sich moralphilosphisch streiten - die praktische Wahrscheinlichkeit, dass es dazu kommt, ist unter Null.

Das einzige vorstellbare Szenario ohne massive Gewaltanwendung bleibt damit, dass weite Teile der politischen und administrativen Strukturen ab einem bestimmten Punkt dem Regime die Gefolgschaft verweigern und so seine Abdankung erzwingen. Solch ein Szenario mag unwahrscheinlich erscheinen, aber es ist nicht unmöglich: Laut Aussage des Anfang Januar nach Ägypten geflüchteten hochrangigen Funktionärs Mahmud Haj Hamad denken 80 Prozent seiner Kollegen darüber nach, genau diesen Schritt zu tun - und scheuen zumeist vor allem aus Furcht um ihre Familien davor zurück. Aber selbst wenn es nur 20 Prozent sein mögen: Historische Beispiele - etwa aus Osteuropa - belegen, dass eine kritische Masse von Bürgern und Funktionsträgern, die sich einem totalitären Regime verweigern, eine Kettenreaktion in Gang setzen können, die dann auch die vornehmlich um die eigenen Interessen besorgten Teile der Bevölkerung erfasst - und sei es aus purem Opportunismus.

Was kann getan werden, um eine solche Entwicklung zu befördern? Signale von der syrischen Opposition, dass es, anders als in Irak, in Syrien auch für ehemaligen Baathisten eine Zukunft geben kann, solange kein Blut an ihren Händen klebt, wären hilfreich. Dringend notwendig wären auch klare Botschaften an die Minderheiten - besonders an die Alawiten, aber auch an Christen und Kurden, um so der auf ethnische und religiöse Spaltung ausgerichteten Propaganda des Regimes entgegenzuarbeiten. Dazu gehört eine klare Abgrenzung von radikal-islamistischen Tendenzen in den eigenen Reihen und, soweit möglich, die aktive Bekämpfung jihadistischer Trittbrettfahrer, die dem Regime das Geschäft mit der Angst erleichtern.

Auf internationaler und diplomatischer Ebene schließlich führen alle Wege nach Moskau: russische Interessen müssen berücksichtigt werden, es muss klar sein, dass die Zeiten imperialer Alleingänge - etwa auch gegen Iran - endgültig vorbei sind. Nicht, weil durch eine Resolution im Sicherheitsrat das syrische Regime zu Fall gebracht werden könnte. Sondern weil der Verlust des wichtigsten noch verbliebenen Verbündeten ein entscheidendes Signal setzen würde, dass al-Assads Ende nahe ist. Genau solche Signale braucht es, um eben dieses Ende herbeizuführen - ohne Intervention, Krieg und ethnische Säuberungen.

* Heiko Wimmen ist Doktorand bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die unter anderem die Bundesregierung und den Bundestag in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik berät.


Warnung vor einer neuen Intervention

Von Knut Mellenthin **

Es ist vermutlich zu wenig und es kommt wahrscheinlich zu spät: Syriens Präsident Baschar al-Assad will am nächsten Sonntag, dem 26. Februar, in einem Referendum über eine neue Verfassung entscheiden lassen. Schon an der grundsätzlichen Frage, wie das technisch durchzuführen ist, werden sich die Geister scheiden. Es ist zu erwarten, dass die Opposition zum Boykott der Abstimmung aufruft und dass das Endergebnis eher nach propagandistischen Gesichtspunkten festgelegt als wirklich ausgezählt wird.

Immerhin, der vorgelegte Entwurf verabschiedet sich vom Ewigkeitsanspruch der Baath-Partei als »Führerin von Staat und Gesellschaft« und lässt anscheinend den Weg zu einem Mehrparteiensystem zu. Allerdings gibt es eine wesentliche Einschränkung: Die Bildung von Parteien auf regionaler, religiöser und berufsständischer Grundlage bleibt verboten. Das verspricht in einem Land, dessen Bevölkerung aus einer Vielzahl von Gruppen mit sehr unterschiedlichen Interessen und Traditionen besteht, keine Perspektive. Eher könnte es dazu dienen, die Fortsetzung von bürokratischer Willkür und politischer Repression in etwas veränderten Formen zu legitimieren.

Die Amtszeit des Präsidenten soll durch die neue Verfassung auf zwei Wahlperioden von jeweils sieben Jahren begrenzt werden. Das wäre immer noch sehr viel mehr, als in den meisten demokratischen Staaten der Welt üblich ist. Außerdem: Wird diese Bestimmung auch für Baschar al-Assad gelten, der den Posten schon seit fast zwölf Jahren hält, oder träumt er davon, noch einmal bei null zu beginnen? Sein Vater und Vorgänger übrigens, Hafiz al-Assad, regierte bis zu seinem Tod 29 Jahre.

Gut ein Jahr nach dem Beginn der Protestdemonstrationen in Syrien stellt sich nicht mehr die Frage, wie man einen Bürgerkrieg verhindern, sondern wie man ihn beenden kann. Dabei müssen mehrere Voraussetzungen berücksichtigt werden, an denen sich nichts oder zumindest nicht viel ändern lässt.

Erstens: Die Alleinherrschaft der Baath-Partei währt bereits viel zu lange. Das Regime bedient sich immer noch in großem Umfang polizeistaatlicher Methoden. Das schließt die massenhafte Inhaftierung aller Arten von Gegnern, die Anwendung der Folter und die gewaltsame Niederschlagung von Protesten ein. Baschar al-Assad und sein Staatsapparat haben selbst in jenem Teil der Opposition, der Interventionsaufrufe ans Ausland verachtet, kaum noch eine Glaubwürdigkeit, auf der sich eine nationale Versöhnung aufbauen ließe.

Zweitens: Die Bevölkerung besteht aus einer Vielzahl ethnischer, regionaler und religiöser Gruppen, deren Zusammenleben in einem demokratischen, pluralistischen Staat vermutlich ähnlich schwierig und konfliktträchtig werden würde wie im benachbarten Libanon. Die zentrale Deformation, die sich daraus ergibt, dass die Staatsführung hauptsächlich bei den Angehörigen einer kleinen religiösen Minderheit, der Alawiten, liegt, wird schwer evolutionär zu korrigieren sein. Viel mehr ist zu befürchten, dass diese Struktur einen gewalttätigen Machtwechsel wie in Libyen mit folgenden Racheakten und Menschenrechtsverletzungen begünstigen wird.

Drittens: Die US-Regierung und die Mehrheit der maßgeblichen europäischen Politiker sind nicht daran interessiert, dass es zu einer Politik der nationalen Versöhnung und Zusammenarbeit zwischen Teilen der traditionellen Führung einerseits und der Opposition andererseits kommt. Stattdessen streben sie einen gewaltsamen »Regimewechsel« an und nehmen dessen voraussehbare Folgen, ebenfalls wie in Libyen, schon im Vorweg in Kauf. Ihr bester Verbündeter auf diesem Weg ist die Arabische Liga, die in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht wesentlich mehr ist als ein Anhängsel Saudi-Arabiens und der anderen Golfstaaten.

Viertens: Auf diese Weise werden in Syrien alle Kräfte ermutigt und gestärkt, die von Verhandlungen absolut nichts wissen wollen, sondern nur danach streben, sich mit westlicher Waffenhilfe, vielleicht irgendwann auch mit »humanitären Korridoren« und Flugverbotszonen, zu einem totalen Sieg im Bürgerkrieg tragen zu lassen.

Vor diesem Hintergrund gibt es zur Politik Russlands und Chinas keine vernünftige Alternative. Sie besteht zum einen darin, vor einem neuen Interventionskrieg zu warnen und in allen internationalen Gremien entsprechend zu argumentieren und abzustimmen. Diese Haltung wird ergänzt durch die praktizierte Bereitschaft beider Staaten, den Kontakt zu allen Teilen der syrischen Oppositionen zu suchen, jede Gesprächsmöglichkeit wahrzunehmen und eine vermittelnde, versöhnende Rolle in beide Richtungen zu spielen.

** Knut Mellenthin ist freier Journalist und schreibt vorwiegend zum Nahen und Mittleren Osten und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, 18. Februar 2012 ("Debatte")



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