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Vom Bab Scharki zum Bab al Jabiya

Geschichten aus der "Geraden Straße" in der Altstadt von Damaskus

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Die Griechen legten das schachbrettartige Straßenraster der Altstadt von Damaskus an. Später bauten die ordnungsliebenden Römer die einzige Straße, die ohne Kurven und Winkel fast schnurgerade von West nach Ost verlief, zu einer imposanten Kolonnadenstraße aus, die sie »Via Recta« nannten, die »Gerade Straße«. Ein Streifzug durch diesen Teil der Hauptstadt Syriens ist immer ein Erlebnis.

»Dieses ist die 'Gerade Straße'. Sie ist sehr alt, sie stammt aus der Zeit der Römer.« Mohammad Fakir al-Their wählt seine Worte bedächtig, während er sich auf die Theke seines Ladens stützt. »Al Mustaqeem, wie wir die Straße im Arabischen nennen, geht vom Al Jabiya-Tor im Südwesten bis zum Scharki-Tor im Osten und ist 1500 Meter lang. Früher soll sie 26 Meter breit gewesen sein, doch es wurde so viel gebaut, dass sie heute viel schmaler ist.« Mohammad Fakir al-Their ist Händler auf der »Geraden Straße« in Damaskus. Sein kleiner Laden liegt nahe am Bab Scharki, dem Osttor der Altstadt. Seit 35 Jahren verkauft al-Their Schmuck und Antiquitäten, »Oriental Goods«, wie er sagt, Waren aus dem Orient. Ketten aus Korallen, Bernstein, Lapislazuli, Smaragd und Malachit hängen neben schwerem Geschmeide aus Silber. Darüber türmen sich in den Regalen kostbare Decken mit Spitzen oder Stickereien, Teppiche stehen eingerollt in den Ecken, in einer Vitrine strahlen prunkvolle Silberteller. Zwischen Vasen und Kerzenleuchtern sind Telefon und Computer auf der Verkaufstheke kaum zu sehen.

Spuren von Kulturen aus aller Welt

Kulturen aus allen Himmelsrichtungen hinterließen in Tausenden von Jahren ihre Spuren in der Altstadt von Damaskus. Den Aramäern folgten die Assyrer, die Neubabylonier, die Perser und schließlich griechische und römische Herrscher. Die Götterhuldigung in Tempeln wich dem Juden- und Christentum, es entstanden Synagogen, Kirchen und Basiliken. Schließlich wurde Damaskus die Hauptstadt der Araber und des Islam, und unter der Herrschaft der Ommayyaden-Dynastie erblühte sie zu einem wirtschaftlichen, politischen, geistigen und kulturellen Zentrum. In den Souks, den Märkten auf und um die »Gerade Straße«, entstand ein einzigartiges Mosaik von Menschen und Kulturen.

Die guten Zeiten sind vorbei, seufzt der Antiquitätenhändler Mohammad, und sein Freund und Nachbar Antoine Hamza, der Intarsienkunsthandwerk und Stoffe verkauft, stimmt ihm zu. Der eine ist Christ, der andere Muslim, seit Jahrzehnten leben sie friedlich nebeneinander, lacht Antoine Hamza: »Wir respektieren die Religion des anderen.« Die meisten der Kupfer- und Silberschmiede, Intarsien- und Möbelhändler, deren Läden und Werkstätten traditionell am östlichen Ende der »Geraden Straße« liegen, haben heute nur noch wenig zu tun, berichtet Hamza. Es fehlt an Nachwuchs für die mühsame Handarbeit, Käufer bleiben aus, und ohne Geschäft gibt es kein Brot. »Ich habe meine Kunden im Ausland und bin von dem Inlandsgeschäft nicht abhängig«, sagt Mohammad Fakir al-Their, dessen Kunden in London, in den USA und in Europa leben. »Wenn ich auf das Geschäft im Inland angewiesen wäre, hätte ich nichts zu essen.«

Auf dem Weg vom Osttor Bab Scharki zum Westtor Bab al-Jabiya, dort, wo die »Gerade Straße« unter einem hohen Dach aus Glas und Eisen verschwindet, liegt der kleine Gemüseladen von Khalid al Fawal. »Hier beginnt der Souk Midhat Pascha«, erklärt der Händler. »Die Türken haben Gasthäuser gebaut, die Khans, dazu Bäder und Schulen. Wir präsentieren mit unseren Geschäften sozusagen die Neuzeit. Und sehen Sie, wie schön die 'Gerade Straße' restauriert wurde! Damit wird die alte Zeit wiederbelebt, das ist ein sehr schöner Stil, ich bin wirklich stolz darauf.«

Mit der Armee des Herrschers Faisal aus Mekka, dem späteren König von Syrien und Irak, zog der britische Geheimagent T.E. Lawrence im Oktober 1918 in Damaskus ein. In seinen Erinnerungen hielt er den Jubel fest, der ihn -- nach eigener Darstellung -- auch auf der »Geraden Straße« empfing: »Wie eine Welle hub es bei uns an, rollte über die Plätze, den Markt, die lange Straße hinunter zum Osttor, rund um die Stadtmauer, kam vom Medina-Tor wieder zurück und wuchs bei der Zitadelle wie eine Mauer von Rufen um uns empor.«

Solche Jubelfeiern hat der 65-jährige Khalid al-Fawal auf seiner Straße nicht erlebt, obwohl er dort seit 40 Jahren Obst und Gemüse verkauft. Kundschaft schlendert vorbei. Einige bleiben stehen, erkundigen sich nach Preisen, kaufen das eine oder andere in kleinen Mengen. Das Leben ist teuer geworden, sagt der Gemüsehändler. »Heute muss ich pro Tag 600, 700 Lira (etwa zehn Euro) einnehmen, um alles bezahlen zu können. Früher reichten 50, 60 Lira. Die Leute kauften zum Beispiel Äpfel für 50 Lira und gingen mit drei oder vier Kilo nach Hause. Heute bezahlen sie 60 Lira und bekommen ein Kilo Äpfel dafür.«

Viele wollen raus aus der Altstadt

Khalid al-Fawal kennt seine Nachbarn seit Jahrzehnten. Auf der »Geraden Straße« beginnt und endet für ihn jeder Tag. Ein Leben anderswo kann er sich nicht vorstellen, auch wenn vieles sich geändert hat: »Früher wohnten in diesen Häusern große Familien. 15, 20 Personen lebten in einem Haus. Heute werden viele Häuser von den alten Leuten verkauft, weil ihre Kinder raus wollen aus der Altstadt. Der Sohn, die Tochter heiraten und ziehen woanders hin, in ein neues Viertel, in ein modernes Haus. In Damaskus leben heute viel, viel mehr Menschen als früher, aber hier in der Altstadt sind es weniger geworden. Die Alten sterben und die Jungen wollen weg.«

Nach den Griechen und Römern, den Ommayyaden und Osmanen scheinen heute Touristikunternehmen die Damaszener Altstadt zu erobern. Dem syrischen Staat ist das recht. Mit neuen Gesetzen und finanziellen Anreizen werden touristische Investitionen so großzügig gefördert, dass mancher Alteingesessene sich inzwischen fremd fühlt. Touristen bevölkern Hotels, Pensionen und Cafés. Reisegruppen pilgern in spiritueller Andacht auf den Spuren des Apostels Paulus über die »Via Recta« oder stöbern in dem reichhaltigen Angebot von Teppichen, Silberschmuck, intarsiengeschmückten Holzarbeiten und begeistern sich für den berühmten Damaszener Brokat, der schon die Königin von England bei ihrer Hochzeit prachtvoll kleidete.

Mit solchen Kunden macht Khalid al-Fawal keinen Umsatz. »Viel Gewinn wirft der Laden nicht ab, das war schon früher so. Es reicht grade so zum Leben. Früher war das Leben aber einfacher als heute, es war ruhiger, gemütlicher. Es gab keine Autos auf unserer Straße. Heute ist es hektisch und laut.«

Der Tag geht zu Ende auf der »Geraden Straße«. Mit Lachen und Scherzen packen die Händler ihre Sachen und machen sich auf den Nachhauseweg. Aus einer schmalen Seitengasse tritt ein gewichtiger Mann mit einem niedrigen Schemel unter dem Arm und setzt sich zu einem anderen, der unaufhörlich eine Perlenkette durch seine Finger gleiten lässt. Abu Hani, stellt der gewichtige Mann sich vor, er ist Nachtwächter im Souk Midhat Pascha: »Ich bin hier der Hausmeister, der Nachtwächter, seit 20 Jahren. Ich passe auf, dass nichts geschieht. Ich habe die Schlüssel für die Lager, die in den Mauern da hinten sind. Dort sind wertvolle Waren gelagert, darauf passe ich auf. Ich sorge für Sicherheit, wie die Polizei, verstehen Sie? Jede Nacht bin ich hier, von acht Uhr abends bis acht Uhr morgens.« Abu Hani, was so viel heißt wie »Der Vater von Hani«, ist 50 Jahre alt und mag seine Arbeit. Er kennt die Leute und sie vertrauen ihm.

Da ergreift sein Freund Mohammed Kusa das Wort: »Es kommen viele Touristen hierher, die syrischen Märkte sind weltweit bekannt für ihre Waren. Für uns sind die Ausländer, die hier vorbeischlendern, keine Touristen, sie sind unsere Gäste. Syrien ist sehr gastfreundlich, wir freuen uns über jeden, der kommt.« In den Ohren von Fremden klingt das wie auswendig gelernt, doch Abu Hani stimmt sofort zu. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Religionen und Kulturen, sagt er. Muslime, Christen, Juden -- Syrien ist ein Mosaik. Auch wenn die meisten Juden jetzt in Israel leben, fügt er fast bedauernd hinzu.

Selbst ein Papst war schon da.

Einmal war ein besonders hoher Gast zu Besuch, erinnern sich dann beide: »Papst Johannes Paul II. kam 2001 nach Damaskus und hier ist er entlanggegangen. Auf der 'Geraden Straße', auf den Spuren des heiligen Paulus.« Dann ist es Zeit für seinen ersten Rundgang. Die meisten Läden sind geschlossen, es wird still auf der »Geraden Straße«. Mit einem alten, arabischen Gruß für die Reisenden verabschieden sich der Nachtwächter und sein Freund: »Wir wünschen Ihnen eine gute Reise und mögen Sie in Ihrer Heimat gesund und glücklich wieder ankommen.«

* Aus: Neues Deutschland, 3. Juni 2009


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