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Genf: "Glaubwürdige Hinweise"

Menschenrechtsausschuss erhielt Syrien-Bericht über Giftgas-Einsatz

Von Roland Etzel *

Wieder einmal wurde über einen tatsächlichen oder vermutlichen Einsatz chemischer Kampfstoffe im syrischen Bürgerkrieg debattiert. Diesmal erstattete eine UN-Untersuchungskommission Bericht vor dem Genfer Menschenrechtsausschuss.

Nach dem ersten vor zwei Monaten geäußerten Verdacht, dass die syrische Armee bei ihrem Vorgehen gegen Rebellenverbände Giftgas eingesetzt haben könnte, hatten vor allem die westlichen Staaten Inspektionen gefordert. Syriens Regierung hatte den Vorwurf zwar energisch bestritten, schmälerte allerdings ihre Glaubwürdigkeit in dieser Frage, als sie Inspektionsteams der UNO ablehnte – jedenfalls was deren Bewegungsfreiheit im Lande betraf. Inspektionen »am Gängelband« wiederum lehnten die Inspektoren ab.

Eine Untersuchungskommission wurde von der UNO trotzdem berufen. Ihr Vorsitzender Paulo Pinheiro hat nun gestern in Genf seinen ersten Bericht vorgelegt. In Ermangelung von Vor-Ort-Untersuchungen stützt er sich jedoch lediglich auf Befragungen von Flüchtlingen sowie Messungen und Untersuchungen in der Nachbarstaaten Syriens. In den Flüchtlingslagern bekamen die Inspektoren dabei durchweg schwere Anschuldigungen gegen Syriens Armee zu hören.

»Wir haben Interviews von Opfern, Flüchtlingen und medizinischem Personal«, sagte Pinheiro, am Dienstag laut AFP vor dem UN-Menschenrechtsausschuss in Genf. Die Kommission hat demnach Hinweise auf einen Einsatz von Chemiewaffen im März und April in Chan al-Assal bei Aleppo, in Uteibah bei Damaskus, im Viertel Scheich Maksud in Aleppo und in der Stadt Sarakeb. Allerdings seien weder die Art der Kampfstoffe, der Typ der Waffensysteme noch die Urheber bekannt.

Dennoch bekräftigten die UN-Ermittler, sie hätten »glaubwürdige Hinweise für den Einsatz von Chemiewaffen durch beide Konfliktparteien«. Es gebe »gute Gründe für die Annahme«, dass Chemiewaffen bei mindestens vier Gelegenheiten in begrenzter Menge eingesetzt wurden. Kommissionsmitglied Carla del Ponte aus der Schweiz, auch bekannt als frühere Oberste Richterin am Haager Jugoslawien-Tribunal, legte Wert auf die Feststellung, die Opfer durch Einsätze von Chemiewaffen seien im Vergleich zur Gesamtzahl gering. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien in Syrien an der Tagesordnung, beklagte die Kommission. Beide Konfliktparteien begingen Massaker und Folter. Del Ponte zeigte sich auch beunruhigt vom zunehmenden Einsatz von Kindern bei den Kämpfen.

Del Ponte hatte nach Bekanntwerden der ersten Vorwürfe über einen Einsatz des Giftgases Sarin durch die syrische Armee den Verdacht geäußert, die Rebellen hätten ein erhebliches Interesse daran, die syrische Armee mit der Anwendung international geächteter Waffen in Verbindung zu bringen, um so die »internationale Gemeinschaft« zum von ihnen erstrebten militärischen Eingreifen zu nötigen. Nach wütenden Protesten relativierte sie ihre Äußerung. Aber auch andere Kommissionsmitglieder trauen manchen Protokollen von Rebellenaussagen offenbar nur begrenzten Wahrheitsgehalt zu, nicht zuletzt Kommissionschef Pinheiro selbst. Gestern bei der Präsentation des Berichts unterließ er jegliche Bewertung. Zuvor bei anderer Gelegenheit hatte er jedoch mit seiner Meinung diesbezüglich nicht hinter dem Berg gehalten. Den Anti-Assad-Kämpfern sei offenbar jedes Mittel recht, so Pinheiro, um ihre Ziele zu erreichen.

Die Ursache sieht er darin, dass »ausländische Kämpfer die Rebellen radikalisiert haben«, wie er im Deutschlandradio Berlin sagte. »Die Mehrheit der Aufständischen hat keine demokratischen Gedanken oder Ziele.« Die Brutalität habe neue Höhen erreicht. Das allerdings gelte für alle Seiten in dem Krieg.

Human Rights Watch (HRW) erhob indes schwere Vorwürfe gegen die Regierungstruppen. Die Leichen von 147 Männern, die zwischen Ende Januar und Mitte März aus einem Fluss bei Aleppo gezogen wurden, seien wahrscheinlich in Gebieten unter Kontrolle der Regierung ermordet worden, erklärte die Organisation. Viele Opfer hätten Kopfschüsse aufgewiesen, zudem seien ihnen die Hände gefesselt und der Mund zugeklebt worden, berichtete HRW unter Berufung auf Anwohner und Hinterbliebene.

Derweil gehen die Kämpfe um die strategisch wichtig Stadt Kusseir nahe der libanesischen Grenze weiter. Laut der oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte seien in dem Dorf Kfar Hamra bei Aleppo am Dienstag 26 Menschen, darunter sechs Frauen und acht Kinder, getötet worden, nachdem dort Raketen eingeschlagen waren. Die USA entsenden, so erklärte ein Sprecher ihrer Militärführung am Montag, F-16-Kampfjets und ein Patriot-Raketenabwehrsystem zu einem Militärmanöver in Syriens Nachbarstaat Jordanien.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Juni 2013


Fabius ausgebremst

Von Roland Etzel **

Es ist eine verkehrte Welt. Frankreichs Außenminister Fabius tobt, Syrien habe die »rote Linie« überschritten, und verlangt »Konsequenzen«. Fabius meint Krieg, und er tobt vor allem deshalb, weil Obama mit dem Kopf schüttelt: Was Paris da vorlegt, reicht mir nicht als Beweis für einen Einsatz von Giftgas durch Assads Armee.

In der Tat tragen die bisher der Öffentlichkeit präsentierten Belege dafür, dass Sarin eingesetzt worden sein soll, alle das blauweißrote Siegel der Trikolore, erbracht von Medien wie »Le Monde« oder sonstigen französischen Aktivisten, die ihre Beweise von Flüchtlingen erhalten haben wollen. Selbst Großbritannien, sonst Frankreichs enger NATO-Verbündeter in der Syrien-Kampagne, bleibt auf Distanz: »Der Raum für Zweifel am Giftgas-Einsatz hat sich zweifellos verkleinert«, ließ ein Londoner Regierungssprecher in vollendeter Diplomatie verlauten.

Fabius - Frankreich - muss diese kunstfertige diplomatische Ohrfeige zur Kenntnis nehmen und versichert nun, Frankreich wolle sowieso keine Entscheidung im Alleingang; allerdings vor allem deshalb, weil ihm dazu Möglichkeiten fehlen. Und das ist im Moment der Unterschied zur Konstellation vor dem Irak-Krieg 2003. Damals zog sich Frankreichs Außenminister de Villepin den Zorn des US-Präsidenten zu, weil er das Bush-Märchen von Saddams fahrbaren B- und C-Waffen Lafetten nicht glauben wollte. Bush griff ohne Paris an, und Champagner landete in New Yorks Rinnsteinen. Wie wird die Rache von Fabius aussehen?

** Aus: neues deutschland, Donnerstag, 6. Juni 2013 (Kommentar)

Die offizielle Zusammenfassung des Reports: **

Summary

The conflict in Syria has reached new levels of brutality. This report documents for the first time the systematic imposition of sieges, the use of chemical agents and forcible displacement. War crimes, crimes against humanity and gross human rights violations continue apace. Referral to justice remains paramount.

This report covers the period 15 January to 15 May 2013. The findings are based on 430 interviews and other collected evidence.

Government forces and affiliated militia have committed murder, torture, rape, forcible displacement, enforced disappearance and other inhumane acts. Many of these crimes were perpetrated as part of widespread or systematic attacks against civilian populations and constitute crimes against humanity. War crimes and gross violations of international human rights law – including summary execution, arbitrary arrest and detention, unlawful attack, attacking protected objects, and pillaging and destruction of property – have also been committed. The tragedy of Syria’s 4.25 million internally displaced persons is compounded by recent incidents of IDPs being targeted and forcibly displaced.

Anti-Government armed groups have also committed war crimes, including murder, sentencing and execution without due process, torture, hostage-taking and pillage. They continue to endanger the civilian population by positioning military objectives in civilian areas. The violations and abuses committed by anti-Government armed groups did not, however, reach the intensity and scale of those committed by Government forces and affiliated militia.

There are reasonable grounds to believe that chemical agents have been used as weapons. The precise agents, delivery systems or perpetrators could not be identified.

The parties to the conflict are using dangerous rhetoric that enflames sectarian tensions and risks inciting mass, indiscriminate violence, particularly against vulnerable communities.

War crimes and crimes against humanity have become a daily reality in Syria where the harrowing accounts of victims have seared themselves on our conscience.

There is a human cost to the increased availability of weapons. Transfers of arms heighten the risk of violations, leading to more civilian deaths and injuries.

A diplomatic surge is the only path to a political settlement. Negotiations must be inclusive, and must represent all facets of Syria’s cultural mosaic.

** Das ganze Dokument (englisch) ist als pdf-Datei hier herunterzuladen:
Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republic [externer Link, lange Ladezeit!]





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