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Kriegsgrund gesucht

Westen wirft Damaskus vor, chemische Waffen gegen seine Gegner einzusetzen

Von Karin Leukefeld *

Die Frage, ob und, wenn ja, von wem Chemiewaffen in Syrien eingesetzt wurden, wird seitens der US-Regierung immer mehr zur Erpressung an. Präsident Barack Obama hatte die Verwendung der international geächteten Kampfmittel in Syrien als »rote Linie« für ein Eingreifen der Vereinigten Staaten bezeichnet und bisher ein größeres militärisches Engagement ausgeschlossen. Die USA unterstützen die Aufständischen in Syrien mit Ausbildung, Ausrüstung und Logistik, die CIA kontrolliert deren Bewaffnung durch die US-Partner Katar, Saudi-Arabien, Türkei und Jordanien, um eine Aufrüstung radikaler islamistischer Gruppen zu vermeiden. Doch die Stimmen, die ein offenes militärisches Eingreifen der USA fordern, mehren sich.

Vergangene Woche bestätigte der israelische Militärgeheimdienst Behauptungen von britischen Agenten und der CIA über den Einsatz chemischer Kampfstoffe in Syrien. Man habe »Informationen«, daß das »Regime mehrmals tödliche Chemiewaffen eingesetzt« habe, verlangte Brigadegeneral Itai Brun. Am Freitag forderte der stellvertretende Außenminister Israels, Zeew Elkin, die »Kontrolle über die syrischen Chemiewaffenbestände zu übernehmen«. Regierungschef Benjamin Netanjahu forderte inzwischen das Kabinett auf, sich zu Syrien nicht mehr öffentlich zu äußern. Der israelische Armeerundfunk berichtete am Sonntag, daß Netanjahu den Eindruck vermeiden wolle, daß Israel die westlichen Verbündeten zu einem Eingreifen in Syrien dränge.

»Schnelles Handeln« forderte auch die oppositionelle syrische Nationale Koalition in Istanbul. Assads Streitkräfte hätten »mehr als einmal in der Ghuta (Provinz Damaskus), in Damaskus, Homs und Aleppo (…) Giftgas gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt«, hieß es am Freitag. »Seit Wochen« habe man das beobachtet, daher sei es »ein Muß« für den UN-Sicherheitsrat und die USA »einzuschreiten«. Zumindest eine Flugverbotszone müsse umgehend eingerichtet werden.

Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) forderte eine unabhängige Untersuchung der Vorwürfe über den Einsatz von Giftgas in Syrien. Das Giftgasprogramm Syriens sei bekannt, deutsche Unternehmen hätten in den 1970er und 1980er Jahren »durch Lieferungen entsprechender technischer Gerätschaften« an dessen Aufbau »wesentlich mitgewirkt«. Das Grundproblem in Syrien läge sowieso in der »gewaltförmigen Art der Konfliktaustragung«. Nicht militärische Eskalation, sondern Verhandlungen und ein Ende von Waffenlieferungen seien geboten, forderte die Vorsitzende der deutschen Sektion, Susanne Grabenhorst.

Der Sprecher des russischen Außenministeriums, Alexander Lukaschewitsch, kritisierte derweil die Politisierung der UN-Inspektorenmission, die ursprünglich von der syrischen Regierung zur Untersuchung eines Angriffs am 19. März in der Provinz Aleppo angefordert worden war. Durch den Einfluß verschiedener Staaten habe sich der Auftrag der Mission »drastisch gewandelt«. Die weitreichenden Befugnisse, die für sie inzwischen gefordert würden, ähnelten denen, die zuletzt im Irak in den 1990er Jahren gegolten hätten. Anders als Syrien habe der Irak damals unter UN-Sanktionen gestanden.

Die Vereinten Nationen hatten am Donnerstag erneut den »bedingungslosen und ungehinderten Zugang« zu allen Teilen Syriens für das Untersuchungsteam gefordert. Russische und chinesische Experten sind in der Mission nicht vertreten, was Syrien aber als vertrauensbildende Maßnahme fordert. Die oppositionelle Nationale Koalition lehnt genau dies entschieden ab.

US-Verteidigungsminister Chuck Hagel hatte sich am vergangenen Freitag sehr vorsichtig geäußert. Die syrischen Streitkräfte könnten »in geringen Mengen« Giftgas, möglicherweise das Nervengas Sarin, eingesetzt haben, sagte er. Die vorliegenden Informationen der Geheimdienste stimmten nicht überein, würden aber weiter geprüft. Unbestätigten Berichten (Russia Today unter Berufung auf französische Quellen) zufolge plant das Pentagon, in Zusammenarbeit mit der jordanischen Armee einen Luftkorridor für israelische Drohnen einzurichten, die das Chemiewaffenarsenal ­Syriens überwachen sollen. Das könnte möglicherweise mit dem jordanischen König Abdullah II. erörtert worden sein, der am vergangenen Freitag in Washington mit Präsident Obama zusammentraf. Offiziell ist lediglich die Rede von einem »spezialisierten Kommando- und Kontrollzentrum« in Jordanien, um den möglichen Einsatz von Chemiewaffen zu registrieren.

Etwa 300 Jordanier demonstrierten am Freitag in Amman gegen die Stationierung US-amerikanischer Soldaten in ihrem Land. Der von Linken und parteiunabhängigen Aktivisten organisierte Protestmarsch wandte sich gegen ein entsprechendes Abkommen zwischen Jordanien und den USA. Die Präsenz von US-Truppen sei »nicht in unserem nationalen Interesse«, riefen die Demonstranten. Unter dem Vorwand, den Umgang mit den geächteten Kampfmitteln in Syrien zu beobachten, könnte die Stationierung von US-Truppen in Jordanien zu einer Invasion des Landes führen – wie im Irak 2003 geschehen.

* Aus: junge Welt, Montag, 29. April 2013

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Wie beim Iran gibt es bei Syrien Auffassungsunterschiede zwischen Israel und den USA, wo die "rote Linie" verläuft. Von Gudrun Harrer, DER STANDARD, Wien (29. April 2013)



Chronik der Eskalation

Von Karin Leukefeld **

Seit Anfang 2012 hat die israelische Regierung wiederholt davor gewarnt, daß das chemische Waffenarsenal, über das Damaskus vermutlich verfügt, in den Wirren des Krieges in Syrien wohlmöglich außer Kontrolle gerät könnte. Es könnte in die Hände von Aufständischen oder der Hisbollah gelangen. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon mahnte alle Kampfparteien in Syrien auf keinen Fall »Massenvernichtungswaffen« einzusetzen.

Im Juli 2012 räumte der (damalige) Sprecher des syrischen Außenministeriums, Dschihad Makdissi, vor Journalisten in Damaskus erstmals öffentlich deren Existenz ein. »Chemische oder biologische Waffen werden niemals zum Einsatz kommen, ich wiederhole, sie werden niemals zum Einsatz kommen (…) egal, wie die Lage sich in Syrien entwickelt«, sagte der Sprecher. Diese Art von Waffen sei unter direkter Kontrolle der syrischen Streitkräfte und sicher. Sie könnten lediglich benutzt, sollte »Syrien einer Aggression von außen« ausgesetzt sein. Das Thema dieser international geächteten Kampfmittel werde in die Öffentlichkeit gezerrt, um eine »Militärintervention der internationalen Gemeinschaft in Syrien vorzubereiten und mit dem Verweis auf Massenvernichtungswaffen zu rechtfertigen«, so Makdissi.

Im Oktober 2012 verlegte das US-Verteidigungsministerium 150 Soldaten in das jordanische Grenzgebiet mit Syrien. Ihr offizieller Auftrag lautete, Hilfe für die Flüchtlinge zu leisten und Jordanien für den Fall zu sichern, daß das Chemiewaffenarsenal Syriens außer Kontrolle gerate.

Im Dezember 2012 wies Damaskus darauf hin, daß bewaffnete Gruppen unweit von Aleppo eine Fabrik gestürmt hätten, die Chlor zur Trinkwasseraufbereitung produziert habe. Dem UN-Generalsekretariat und dem Sicherheitsrat teilte das Assad-Kabinett mit, es bestehe die Gefahr, daß die Aufständischen Giftgas einsetzen könnten, um dann die syrischen Streitkräfte dafür verantwortlich zu machen.

Am 19. März 2013 wurden bei einem Raketenangriff auf den Ort Khan Al-Assal (Provinz Aleppo) 26 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Die syrische Regierung wandte sich noch am selben Tag an die UNO und forderte den Einsatz einer »unabhängigen, neutralen technischen Spezialistenmission«, um die Attacke zu untersuchen. Die Rakete habe »chemische Substanzen« enthalten, man wolle, daß »Einzelheiten dieses Verbrechens« aufgeklärt würden. Vertreter der oppositionellen Milizen erklärten, die syrischen Streitkräfte hätten Chemiewaffen eingesetzt und aus Versehen »eigene Leute« getroffen. Die UNO sagte die Untersuchung des Raketenangriffs zu und stellte eine Mission zusammen. Frankreich und Großbritannien legten daraufhin »Beweise« vor, daß die syrischen Streitkräfte in der Umgebung von Damaskus Giftgas eingesetzt hätten, auch das müsse von den Inspektoren untersucht werden. Der Mission müsse daher »freier und ungehinderter Zugang im ganzen Land« gewährt werden. Das lehnte die syrische Führung ab.

Am 13. April 2013 meldete die kurdische Nachrichtenagentur ANF, daß bei nächtlichen Luftangriffen auf Scheich Maksud, einem vorwiegend von Kurden bewohnten Stadtteil von Aleppo, »chemische Waffen zum Einsatz gekommen sein könnten«. Augenzeugen hätten bei der Attacke um drei Uhr in der Nacht gesehen, daß »Bomben in Form von Konservendosen« abgeworfen worden seien. Eine Frau und zwei Kinder starben, die Verletzten hätten »anhaltend gezittert«, seien halb bewußtlos gewesen, »weiße Flüssigkeit« sei aus Mund und Nase geflossen. Ärzte sprachen vom Einsatz von Zyanid.

Kurz darauf meldeten verschiedene Geheimdienste Israels, Großbritanniens und der USA, »Spuren von Sarin« im Blut von Opfern von Giftgasangriffen durch die syrische Armee nachgewiesen zu haben. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte die syrische Führung erneut auf, das Inspektorenteam einreisen zu lassen.

Die Bedingungen, unter denen diese Gruppe in Syrien arbeiten soll, werden von Damaskus abgelehnt. Die Untersuchung werde in einem »irakischen Szenario« enden, sagte Informationsminister Omran Al-Subi. Nur wenn russische Inspektoren in das Team aufgenommen würden, könne man der Mission vertrauen. Al-Subi wiederholte, daß die syrische Führung solche Waffen »nie einsetzen« würde. »Nicht nur, weil es gegen das Völkerrecht und das Kriegsrecht verstößt, sondern auch aus humanitären und moralischen Gründen.«

** Aus: junge Welt, Montag, 29. April 2013


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