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Fakten zu C-Waffen manipuliert

Journalist wirft Washington verlogene Syrienpolitik vor

Von Fabian Köhler *

Die Vorwürfe erinnern an die Geheimdienstberichte vor dem Irakkrieg. Dieses Mal sind es anstatt erfundener zurückgehaltene Beweise über Massenvernichtungswaffen: Rebellen in Syrien könnten für den Giftgasangriff vom 21. August verantwortlich sein. Geheimdienstinformationen, die dies belegen, sollen von der US-Regierung vertuscht worden sein.

Der US-amerikanische Enthüllungsjournalist Seymour Hersh berichtete über Informationen, die die Version vom Chemiewaffenangriff des Assad-Regimes ins Wanken bringen können. Grundlage für Hershs Anschuldigungen ist ein vierseitiges Dokument des US-Militärgeheimdienstes DIA vom 20. Juni. Aus diesem gehe hervor, dass die oppositionelle und von Saudi-Arabien unterstützte Al-Nusra-Front in der Lage sei, in großen Mengen Sarin-Gas herzustellen. Ähnliche Berichte soll es zudem im Mai von der CIA gegeben haben. »Die syrische Armee«, ist sich Hersh deshalb sicher, sei nicht »die einzige Bürgerkriegspartei mit Zugang zu Sarin gewesen.« Sarin ist jenes Nervengift, welches laut UN-Ermittlern am 21. August in der syrischen Stadt Ghouta zum Tod von bis zu 1300 Menschen führte. In Erklärungen machte die US-Regierung Tage später die syrische Armee und Syriens Präsidenten Baschar al-Assad verantwortlich für den Angriff. Dessen Täterschaft, so Außenminister John Kerry damals, sei »unleugbar«.

In der »London Review of Books« beschuldigt Hersh die US-Regierung, »in einigen Fällen wichtige Geheimdienstinformationen übergangen, in anderen Vermutungen als Fakten präsentiert« zu haben. »Als sich der Angriff ereignete, hätte Al-Nusra ebenfalls verdächtigt werden müssen, aber die Regierung pickte sich die Rosinen aus den Geheimdienstinformationen, um einen Angriff auf Assad zu rechtfertigen.« Hersh widerspricht auch Angaben der US-Regierung, sie habe Tage vor dem Giftgaseinsatz Hinweise auf einen Angriff der syrischen Armee erhalten. So hätten dem Militärgeheimdienst NRO, der mit Überwachung der syrischen Chemiewaffendepots betraut ist, keine verdächtigen Informationen vorgelegen. Erst die »Manipulation von Informationen« habe US-Präsident Barack Obama den Grund für einen möglichen Angriff liefern können.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. Dezember 2013


Obamas Sarin-Märchen

Laut US-Administration setzte die syrische Regierung Giftgas ein. Ein Journalist zeigt, daß der US-Präsident von Chemiewaffen in den Händen der Aufständischen wußte

Von Arnold Schölzel **


Washington wußte, daß die syrischen Aufständischen in der Lage sind, Waffen mit dem chemischen Kampfstoff Sarin herzustellen und einzusetzen. Dennoch beschuldigte die US-Administration ausschließlich Präsident Baschar Al-Assad, er sei Urheber des Gasangriffs vom 21. August in Ghuta. Und sie bereitete Luftschläge vor. Der US-Journalist Seymour Hersh enthüllt nun, daß Präsident Barack Obama und sein Außenminister John Kerry dabei nicht »die ganze Geschichte« erzählten, sondern teilweise wichtige Geheimdiensterkenntnisse unterschlugen oder Vermutungen als Tatsachen darstellten.

Hershs Text wurde am Sonntag auf der Internetseite der London Review of Books veröffentlicht. Zuvor hatten das Magazin The New Yorker und die Washington Post, in denen der Journalist zumeist publiziert, einen Abdruck verweigert. Hersh wurde 1969 weltbekannt, als er während des Vietnamkrieges das Massaker an Zivilisten durch US-Truppen in My Lai (Son My) aufdeckte. 2004 war er maßgeblich daran beteiligt, die Folter im irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis bekanntzumachen.

Hershs Nachforschungen zu Syrien ergaben, daß eine Serie streng geheimer Berichte der US-Nachrichtendienste Monate vor dem Gasangriff vorlag mit Beweisen, »daß die Al-Nusra-Front – eine an Al-Qaida angeschlossene Dschihadgruppe – die Produktionstechnik von Sarin beherrschte und in der Lage war, es in Mengen herzustellen«.

Am selben Tag, an dem der Chemiewaffenangriff stattfand, kamen UN-Inspektoren in Damaskus an, um Beschuldigungen wegen früherer Sarin-Attacken nachzugehen. Die von verschiedenen Seiten angegebenen Zahlen der Opfer vom 21. August reichten von einigen hundert bis zu über 1400, wie Obama und Kerry behaupteten. Zuvor hatte die US-Regierung mehrfach den Einsatz von Kampfstoffen als »rote Linie« bezeichnet, deren Überschreiten zu einer US-Intervention in den Krieg führen könne. Hersh schreibt nun, ihm habe ein leitender US-Geheimdienstler bereits Ende Mai berichtet, »daß die CIA die Obama-Administration über Al-Nusra und deren Beschäftigung mit Sarin unterrichtete«. Bei seinen Anschuldigungen gegen die syrische Armee habe Obama »Rosinenpickerei betrieben, um einen Militärschlag gegen Assad zu rechtfertigen«. Das sei dem Verfahren ähnlich, das zur Begründung des Irak-Krieges 2003 von der damaligen US-Regierung unter George W. Bush genutzt worden sei.

Zu den Ursachen der Abkehr von den US-Kriegsplänen gegen Syrien schreibt Hersh: »Jede Möglichkeit einer Militäraktion wurde am 26.September abgewendet, als die Administration sich mit Rußland auf den Entwurf einer UN-Resolution einigte, in der die Assad-Regierung aufgefordert wurde, ihr chemisches Arsenal zu beseitigen. Obamas Rückzug rief bei vielen höheren Offizieren Erleichterung hervor.«

Der Sprecher des nationalen Koordinators der US-Geheimdienste, Shawn Turner, wies die Aussagen von Hersh zurück und behauptete gegenüber dem Internetdienst Buzzfeed: »Jede Unterstellung, es habe Bemühungen gegeben, Informationen über eine nichtexistente alternative Erklärung zu unterdrücken, ist falsch.« Der Publizist warnt dagegen, daß Al-Nusra und ihre Verbündeten die einzige Fraktion in Syrien mit der Fähigkeit sein könnten, Sarin zu produzieren, während von den Vorräten an chemischen Ausgangsstoffen auf seiten der Regierung nichts übrigbleibe. Die Frage, welches Motiv die Assad-Regierung gehabt haben sollte, Kampfstoffe einzusetzen, erörtert Hersh nicht.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 10. Dezember 2013


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