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Die Tabus gelten nicht mehr

Das Herrschaftssystem von Präsident Assad sieht sich von den Ereignissen überrollt

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Aus sporadischen und lokal begrenzten Demonstrationen gegen Polizeiwillkür und andere Folgen eines seit 48 Jahre geltenden Ausnahmezustandes haben sich in der Republik Syrien binnen eines Vierteljahres Protestbewegungen in vielen Städten entwickelt. Obwohl die Lage unübersichtlich ist, dürfte nicht zu leugnen sein, dass Hunderte Todesopfer zu beklagen sind. Zum ersten Mal in der elfjährigen Amtszeit von Präsident Baschar al-Assad befindet sich sein Regime in einer veritablen Krise.

Drei Tabus haben Syrien seit Jahrzehnten zusammengehalten: 1. Niemand darf die Rolle der Baath-Partei in Frage stellen. 2. Niemand darf die Religion zu politischen Zwecken benutzen. 3. Niemand darf die Zugehörigkeit einer Volksgruppe politisieren und über die nationale Identität Syriens erheben.

Die Unruhen der letzten drei Monate haben das Land von Grund auf erschüttert, die Tabus zerbrechen. Mit der Diskussion über ein neues Wahl- und Parteiengesetz und über eine neue Verfassung wird die Unantastbarkeit der Baath-Partei in Frage gestellt, die in Artikel 8 der syrischen Verfassung festgeschrieben ist.

Die Unruhen wurden ausgelöst durch arrogantem Umgang von Provinzbehörden mit jugendlichen Rebellen in Daraa an der jordanischen Grenze. Vermutlich inspiriert von der Fernsehberichterstattung über die Aufstände in Tunesien und Ägypten, hatten sie regierungsfeindliche Parolen geschrieben und waren inhaftiert und misshandelt worden. Die Situation geriet außer Kontrolle, eine Regierungsdelegation aus Damaskus konnte den Zorn der Bevölkerung nicht mehr bremsen. Vermutlich mit ausländischer Hilfe aus Jordanien kamen bald Waffen und Kommunikationstechnologie ins Spiel, aus friedlichen Protesten wurden bewaffnete Auseinandersetzungen. Während die syrische Regierung noch zwischen Dialog und militärischem Eingreifen schwankte, haben sich die meisten ausländischen Medien auf Syrien eingeschossen. Ähnlich wie in Tunesien, Ägypten und Libyen nehmen sie Partei auf Seiten der »Proteste gegen die Despoten«.

Die syrische Regierung mauerte und berief sich auf das Recht, als souveräner Staat »interne Probleme« ohne Einmischung zu lösen.

Täglich wurden neue Reformen verkündet, Geldgeschenke und Dialogangebote gemacht, die bisherigen Tabus wurden weitgehend ausgesetzt. Gefangene der Muslimbruderschaft kamen ebenso frei wie kurdische Gefangene und Gefangene der säkularen Opposition. Präsident Baschar al-Assad lud kürzlich zwölf Vertreter von verbotenen kurdischen Parteien ein, um mit ihnen über Reformen zu reden. Nach Gesprächen mit dem irakischen Präsidenten Jelal Talabani, einem irakischen Kurden, könnte Assad, wie verlautete, zu weitreichenden Zugeständnissen bereit sein. Ein Autonomiestatus, wie ihn die Kurden in Nordirak genießen, sei nicht ausgeschlossen. Talabani genoss einst in Syrien politisches Asyl.

In den Medien und von den Regierungen Westeuropas werden Assads Reformschritte und politische Angebote allerdings ignoriert oder heruntergespielt. Hier dominiert das »schlechte Image« Syriens als »Terrorhelfer und Folterstaat«, dem alles zuzutrauen ist. Wenig bekannt ist, dass nicht nur Russland und China, sondern auch asiatische und lateinamerikanische Staaten das Geschehen in Syrien viel unaufgeregter verfolgen.

Im Schatten westlicher Mediendominanz haben sich Kämpfe mit hohen Opferzahlen entwickelt. Unklar bleibt – auch für viele Syrer –, wer eigentlich gegen wen kämpft. Die Rede ist von dogmatisch-muslimischen Salafisten oder von Anhängern der Muslimbruderschaft, manche sprechen von legitimer Bürgerwehr. Unbestritten sind Tote und Verletzte bei der Zivilbevölkerung und auf Seiten von Armee und Sicherheitskräften. Inoffiziell ist die Rede von mehreren tausend gut bewaffneten Aufständischen. Informanten westlicher Medien beharren darauf, dass Armee und Sicherheitskräfte sowohl Zivilpersonen töten als auch eigene Kollegen, die sich Marschbefehlen widersetzen.

Zerrieben zwischen den Fronten bleibt die ursprüngliche, intellektuelle und säkulare Oppositionsbewegung Syriens zurück. Einige von ihnen lehnen inzwischen wegen der hohen Opferzahlen jeden Dialog mit der Regierung ab. Ohne Dialog aber bleibt nur Bürgerkrieg.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2011

Chronologie - Proteste 2011 in Syrien

Vor rund drei Monaten ist der Funke des Aufstandes in der arabischen Welt auch auf Syrien übergesprungen.

18. März: Nach kleineren Kundgebungen in den Tagen zuvor fordern in Damaskus, Daraa und weiteren syrischen Städten Tausende Demonstranten politische Reformen. Bei Zusammenstößen zwischen mit der Polizei werden in Daraa mindestens fünf Menschen getötet.

24. März: Die syrische Führung kündigt umfassende Reformen an. Da in den folgenden Tagenkeine Taten folgen, gehen die Proteste gehen weiter.

29. März: Die Regierung von Ministerpräsident Nadschi Otri tritt zurück. Adel Safar wird fünf Tage später zum neuen Ministerpräsidenten ernannt.

30. März: Präsident Assad hält vor dem Parlament seine erste Rede seit Beginn der Proteste. Er verkündet nicht die geforderte Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustandes. Neue Proteste sind die Folge.

21. April: Assad hebt den Ausnahmezustand auf.

22. April: In ganz Syrien demonstrieren insgesamt 100 000 Personen. Nach nicht überprüfbaren Berichten von. Menschenrechtsgruppen sollen von Sicherheitskräften mindestens 110 Demonstranten getötet worden sein. Sie sprechen vom »Karfreitagsmassaker«.

25. April: Soldaten rücken mit Panzern in Daraa ein, laut Protestbewegung werden mindestens 39 Menschen getötet.

29. April: Bei weiteren Freitagsdemonstrationen gibt es nach Oppositionsangaben Dutzende Tote, allein in Daraa 33.

30. April: Die USA fordern ein Ende der Gewalt und verhängen Sanktionen gegen Syrien.

31 Mai: Assad verkündet eine Amnestie für Angehörige »politischer Gruppen«.

6. Juni: Die Führung wirft Regierungsgegnern vor, im Ort Dschisr al-Schogur rund 120 Soldaten und Polizisten getötet zu haben.Die Opposition bestreitet das.

10. Juni: Schwerbewaffnetes Militär geht gegen die Bewohner von Dschisr al-Schogur und anderen Orten in der Provinz Idlib vor. Tausende fliehen über die nahe türkische Grenze.




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