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Eine neue Runde im "vierten Weltkrieg"?

Syrien im Visier der USA und Israels

Nach dem Angriff israelischer Kampfflieger auf ein vermeintliches Ausbildungslager palästinensischer Terroristen in Syrien am 5. Oktober 2003 rätseln Experten, inwieweit die USA hierbei Pate gestanden und haben und ob hier offenbar handfeste Absichten auf weitere Interventionen in diesem und anderen Ländern des Nahen Ostens bestehen. In der "jungen Welt" vom 11.Oktober befand sich hierzu ein anregender Artikel, den wir im Folgenden dokumentieren.


Von Knut Mellenthin

Der israelische Luftangriff auf ein Ziel in der Nähe der syrischen Hauptstadt Damaskus am Sonntag, dem 5. Oktober, markiert eine neue Stufe in der amerikanisch-israelischen Strategie, mit militärischer Gewalt einen »Regimewechsel« in sämtlichen Ländern der arabischen Welt zu erzwingen. Seit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973, dessen Beginn sich am 6. Oktober zum 30. Mal jährte, hatten israelische Kampfflugzeuge nicht mehr so tief im Inneren des Nachbarlandes zugeschlagen.

Was sich im Ziel des Luftangriffs befand – ein Ausbildungslager des palästinensischen Islamischen Dschihad, wie Israel behauptet, oder ein verlassenes ehemaliges Lager des PFLP-Generalkommandos, wie Palästinenser und Syrer sagen – ist für die Deutung des Vorgangs unerheblich. Der Angriff stellte nicht nur eine völkerrechtswidrige Aggression gegen Syrien dar, sondern war, gemessen an seinem angeblichen Zweck, auch absolut sinnlos. Begründet wurde er mit dem vorausgegangenen Selbstmordanschlag in Haifa, bei dem 19 israelische und arabische Gäste eines Restaurants getötet worden waren. Die Attentäterin, die offenbar den Tod mehrerer Angehöriger rächen wollte, soll dem Dschihad angehört haben. Aber solche Anschläge gehen nicht von Lagern in Syrien aus, ganz gleich, ob sie nun leerstehen oder noch genutzt werden. Weder der Islamische Dschihad als Organisation noch gar potentielle Attentäter konnten durch diesen Luftangriff getroffen, abgeschreckt oder eingeschüchtert werden.

Luftangriffe wie einst auf Libanon

Aber darauf kam es auch gar nicht an. Denn Israels Luftschlag galt nicht ihnen, sondern der syrischen Regierung. Der Anschlag von Haifa war für diesen Angriff nicht der Grund, sondern nur ein zeitlich sehr gelegen kommender Vorwand. Die israelische Aktion war zum einen abgestimmt auf die unmittelbar bevorstehende Beschlußfassung über antisyrische Maßnahmen in den USA und zum zweiten auf den 30. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges, der letzten großen militärischen Konfrontation zwischen Israel und Syrien. Dieses Datum gab Scharon einen Tag nach dem Luftangriff auf Syrien Anlaß, in einer Rede zu erklären, daß Israel sich stets so verhalten müsse, als ob der nächste Krieg vor der Tür steht.

Israelische Stellen begründeten den Angriff mit dem Argument, daß der Dschihad und andere terroristische Organisationen von Ländern in der Region Unterstützung und Rückhalt bekommen, »vor allem von Iran und Syrien«. Vor allem, aber nicht ausschließlich. Das heißt, daß nach der Logik der israelischen Regierung neben Syrien jederzeit auch der Iran und andere Länder der Region das Ziel israelischer Luftangriffe werden könnten.

Mit genau derselben Begründung, nämlich die Unterstützer des palästinensischen Terrorismus zu treffen, hatte Israel in den 1970er und 1980er Jahren immer wieder Ziele im Libanon bombardiert. Auch der Einsatz israelischer Mordkommandos gegen PLO-Funktionäre in Beirut, aber auch in anderen arabischen Hauptstädten und in Europa, war damals an der Tagesordnung.

Die spektakulärste Militäraktion war am 1. Oktober 1985 die Zerstörung des PLO-Hauptquartiers, das sich damals in Tunis befand, durch israelische Kampfflugzeuge. Der Angriff kostete 150 Menschen das Leben. Regierungschef war damals der Sozialdemokrat Schimon Peres, und sein Verteidigungsminister war der später als vermeintlicher Friedenspolitiker von einem rechtszionistischen Fanatiker ermordete Jitzchak Rabin.

Israel hat von seinem proklamierten und bis heute nie in Frage gestellten Anspruch, seine Gegner an jedem Punkt der Welt jederzeit ohne Rücksicht auf internationales Recht und politische Folgen zu töten, seit den 1990er Jahren außerhalb der besetzten Palästinensergebiete kaum noch Gebrauch gemacht. Der Luftangriff auf das angebliche Ausbildungslager in Syrien signalisiert den Willen, zur zeitweilig unterbrochenen Praxis zurückzukehren. Darin liegt seine eigentliche politische Bedeutung.

Das Interesse Washingtons

Die israelische Regierung hat explizit erklärt, daß sie Syrien jederzeit erneut angreifen wird, falls Damaskus »seine Politik nicht ändert«. Sie hat zugleich mit ähnlichen Luftschlägen gegen Iran und Libanon gedroht. »Wir werden die Fortsetzung der Achse des Terrors zwischen Teheran, Damaskus und Gaza nicht dulden«, drohte Regierungssprecher Raanan Gissin. Ziel des Angriffs vom 5. Oktober sei es gewesen, »diese Botschaft an Syrien zu schicken«. Scharon proklamierte am 7. Oktober das Recht Israels, »seine Feinde zu treffen – überall und mit allen Mitteln«.

Ebenfalls am 7. Oktober veröffentlichte die israelische Regierung einen Stadtplan von Damaskus, auf dem angebliche Wohnungen und Büros palästinensischer Funktionäre und Organisationen eingezeichnet waren. Militärkreise erklärten dazu: »Niemand, der mit Terror zu tun hat und das Leben israelischer Bürger gefährdet, ist immun.« – Das ist eine nicht mißzuverstehende Ankündigung von gezielten Mordaktionen im Herzen der syrischen Hauptstadt, durch Raketen oder durch auf dem Boden agierende Killerkommandos.

Die israelische Tageszeitung Ha’aretz zitierte am 5.Oktober eine anonyme Armee- oder Geheimdienstquelle mit der Behauptung, das bombardierte »Terroristenlager« bei Damaskus sei vom Iran finanziell unterstützt worden. Sachlich ist diese Aussage wahrscheinlich ohne Wert. Politisch betrachtet deutet sie aber darauf hin, daß Scharon schon in allernächster Zeit auch einen Luftangriff auf iranisches Gebiet anordnen könnte. Die strategische Logik spricht dafür, daß er tatsächlich genau dies tun wird. Der Zweck einer solchen Militäraktion wäre im wesentlichen, das israelische »Recht« auf diese Handlungsweise zu manifestieren und durch Gewöhnung die internationale Akzeptanz der israelischen Aggressionsakte zu erhöhen. Das Ausbleiben ernsthafter Proteste nach dem Luftschlag gegen Syrien hat Scharon zweifellos als Signal interpretiert, daß er ohne große politische Risiken so weitermachen kann.

Das Bemerkenswerteste war die völlig offene Unterstützung des israelischen Angriffs durch die US-Regierung. Präsident Bush sagte am 7. Oktober auf Fragen von Journalisten, die Entscheidung der israelischen Regierung, »ihr Volk zu verteidigen«, sei richtig gewesen. »Wir würden genau dasselbe tun.« Israel brauche sich bei der »Selbstverteidigung« keine Beschränkungen aufzuerlegen.

Tatsächlich wird der amerikanische Spielraum, überhaupt noch Kritik an der israelischen Politik zu üben, immer geringer, je mehr die USA selbst zur repressiven, gewalttätigen Besatzungsmacht im Nahen Osten werden. Es dürfe nicht mit zweierlei Maß gemessen werden, bügelt die amerikanische Pro-Israel-Lobby jede Kritik ab. Soll heißen: Was die USA selbst im »Krieg gegen den Terrorismus« praktizieren und als ihr Recht in Anspruch nehmen, dürfen sie fairerweise auch Israel nicht verwehren. Aus dieser Logik ergibt sich auch, daß die israelische Regierung und die Pro-Israel-Lobby ein großes Interesse daran haben, daß sich die USA immer tiefer in nahöstliche Aggressionskriege verstricken.

Wieder Kriegsgründe konstruiert

Hinter der Zustimmung Washingtons zum israelischen Luftschlag gegen Syrien steckt aber noch mehr. Der Angriff erfolgte wohlberechnet zu einem Zeitpunkt, wo im US-Kongreß die Beschlußfassung über verschärfte Sanktionen gegen Syrien ansteht. Seit mehreren Jahren liegt beiden Häusern des Kongresses ein Gesetzentwurf vor, der sogenannte Syria Accountability Act, der einen langen Forderungskatalog an Damaskus formuliert. Bei Nichterfüllung soll der Präsident verpflichtet werden, weitere Sanktionen gegen Syrien – zusätzlich zu den schon bestehenden – zu verhängen. Dazu könnte vor allem das Verbot amerikanischer Technologieexporte und von Investitionen gehören.

Gefordert wird in der Gesetzesvorlage: 1. Syrien soll »sofort und bedingungslos« seine Unterstützung für den Terrorismus einstellen, seinen »Verzicht auf alle Formen des Terrorismus« öffentlich erklären und die Büros von Hamas, Hisbollah, PFLP und PFLP-Generalkommando schließen. 2. Syrien soll sofort seine Bereitschaft erklären, seine Truppen aus dem Libanon abzuziehen und sich auf einen Zeitplan für den Rückzug verpflichten. 3. Syrien soll die Entwicklung und Aufstellung von Kurz- und Mittelstreckenraketen beenden. 4. Syrien soll die Entwicklung und Produktion biologischer und chemischer Waffen einstellen. Daß es überhaupt solche Waffen besitzt oder anstrebt, ist nie bewiesen worden. In einem CIA-Bericht heißt es dennoch, Syrien habe einen Vorrat des Nervengases Sarin und versuche jetzt, noch giftigere chemische Kampfstoffe zu entwickeln. Es sei außerdem »hochwahrscheinlich«, daß Damaskus an der Entwicklung biologischer Angriffswaffen arbeitet. In einer parlamentarischen Anhörung am 16. September warf John R. Bolton, Staatssekretär im Außenministerium, Damaskus zusätzlich vor, Atomwaffen produzieren zu wollen. Insgesamt sind die amerikanischen Vorwürfe gegen Syrien jetzt schon schwerwiegender als die Kriegsgründe, die gegen Irak gelten gemacht wurden. Sie zu entkräften ist, wie das Beispiel des Irak gezeigt hat, praktisch unmöglich.

Initiatoren des Syria Accountability Act waren ursprünglich bekannte Akteure der Pro-Israel-Lobby: der republikanische Fraktionsführer im Abgeordnetenhaus, Tom DeLay, die republikanische Abgeordnete Illeana Ros-Lehtinen und der demokratische Abgeordnete Elliott Engel, sowie im Senat der Republikaner Rick Santorum. Inzwischen haben drei Viertel der Senatoren und fast zwei Drittel der Abgeordneten ihre Unterstützung für den Gesetzentwurf erklärt, dem damit eine solide Mehrheit sicher ist.

Bisher wurde das Gesetz auf Drängen der Regierung jedoch noch nicht verabschiedet. Begründet wurde das insbesondere mit der Kooperationsbereitschaft der syrischen Regierung bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Ein noch wichtigerer Grund war vermutlich, daß die permanent schwebende Drohung des Gesetzes ein weit stärkeres Instrument darstellt als es die Sanktionen, wenn sie denn beschlossen würden, überhaupt sein könnten. Denn der Anteil der USA an den Wirtschaftsbeziehungen Syriens ist minimal. Sanktionen wären also nur effektiv, wenn Washington die Haupthandelspartner der Syrer – in erster Linie Deutschland, Italien und Frankreich – zum Mitziehen veranlassen könnte. Dafür jedoch standen die Chancen bisher nicht gut.

Seit Ende des Irak-Krieges zeichnet sich ab, daß die US-Regierung ihre bisherige Zurückhaltung aufgibt und immer stärkeren Druck auf Syrien ausübt. Auch das Außenministerium hat offenbar seinen hinhaltenden Widerstand gegen die Verschärfung der Sanktionen aufgegeben. Ministeriumssprecher Richard Boucher erklärte am 9. Oktober, Strafmaßnahmen seien jetzt geboten, da Syrien trotz mehrfacher Ermahnungen nicht bereit sei, gegen die »terroristischen Gruppen« vorzugehen.

Am selben Tag stimmte der außenpolitische Ausschuß des Abgeordnetenhauses dem Syria Accountability Act mit der Riesenmehrheit von 33 gegen zwei Stimmen zu. Tom Delay erklärte dazu: »Es ist zunehmend klargeworden, für welche Seite im Krieg gegen den Terror sich Syriens Regierung entschieden hat.« Damaskus helfe immer noch Terroristen, die Grenze zum Irak zu überqueren, um amerikanische Soldaten anzugreifen.

Diese auch von der amerikanischen Militärverwaltung im Irak zu hörende Behauptung ist angesichts wachsender Verluste der Besatzungstruppen von starker propagandistischer Bedeutung an der »Heimatfront«. Sie wurde allerdings bisher nicht in einem einzigen Fall bewiesen. Das Abgeordnetenhaus wird sich nun voraussichtlich in den allernächsten Tagen mit dem Syria Accountability Act befassen und das Gesetz dann voraussichtlich mit großer Mehrheit annehmen. Der Senat wird bald darauf folgen. Anschließend wird die US-Regierung versuchen, ihre europäischen Verbündeten und Rußland in eine Boykottfront gegen Syrien einzubinden.

Staatssekretär Bolton, der zu den »neokonservativen« Hardlinern gehört, hat in der parlamentarischen Anhörung am 16. September auch die Möglichkeit gewaltsamer Eingriffe erwähnt, »interdiction and seizure«, wie er es nannte. Also beispielsweise die Aufbringung und Beschlagnahme von Handelsschiffen auf hoher See, die Waffen, Waffenteile oder auch Hochtechnologie für Syrien an Bord haben. Bolton sprach in diesem Zusammenhang die denkwürdige Drohung aus: »Negative Konsequenzen müssen nicht nur diejenigen Staaten treffen, die den Besitz von Massenvernichtungswaffen anstreben, sondern auch die Staaten, die sie beliefern.«

Als nächstes Ziel Iran?

Eine weitere Konfliktfront zeichnet sich gegenüber dem Iran ab. Die Internationale Atomenergiebehörde, IAEA, hat Teheran eine Frist bis zum 31. Oktober gesetzt. Bis dahin soll die iranische Regierung zustimmen, eine vollständige Erklärung über ihr Atomprogramm abzugeben, die Rechte der internationalen Inspektoren erheblich auszuweiten und die Arbeiten an einer Anreicherungsanlage – bei der waffenfähiges Plutonium produziert werden könnte – einzustellen. Nach Ablauf der Frist könnte die IAEA erklären, daß Teheran den Atomwaffensperrvertrag verletzt. Dann müßte sich der UNO-Sicherheitsrat mit der Angelegenheit befassen und würde wahrscheinlich Sanktionen beschließen.

Die Möglichkeiten Teherans, diesem Risiko durch Zugeständnisse zu entgehen, sind gering. Selbst wenn Iran die Forderungen der IAEA vollständig akzeptieren würde, würde die amerikanische Regierung ihre Anschuldigungen aufrechterhalten. Sie würde die Vollständigkeit und Richtigkeit der angeforderten Erklärung über das iranische Atomprogramm anzweifeln, und sie würde sich um die Erkenntnisse der internationalen Inspektoren so wenig kümmern wie im Falle des Irak.

Israel oder vielleicht sogar die USA selbst könnten zu einem späteren Zeitpunkt des Konflikts versuchen, die iranische Atomanlagen durch Bomben- und Raketenangriffe zu zerstören. Die israelische Regierung hat das bereits offen angedroht – und hat es mit dem Angriff auf den irakischen Reaktor von Osirak am 7. Juni 1981 schon einmal praktiziert. Möglich ist aber auch, daß Israel zuerst, und das vielleicht schon sehr bald, einen oder mehrere angebliche Stützpunkte der schiitischen Hisbollah im Iran angreifen wird. Der Vorteil wäre, daß das militärische und außenpolitische Risiko geringer wäre als bei einem Angriff auf die iranischen Atomanlagen, für den beim jetzigen offenen Stand der Dinge wenig internationale Akzeptanz zu erwarten wäre. Eine andere israelische Option wäre, zunächst Hisbollah-Stützpunkte im Libanon anzugreifen und auf diesem Weg die Eskalation voranzutreiben.

In jedem Fall ist davon auszugehen, daß die israelische Regierung in engem Einvernehmen mit Washington vorgehen wird. Das Anheizen militärischer Spannungen ist, wie die Umfrageergebnisse zeigen, für Präsident Bush der sicherste Weg, von allen innen- und wirtschaftspolitischen Problemen abzulenken und die im November 2004 anstehende Wahl zu gewinnen.

Aus: junge Welt, 11.10.2003


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