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Verlustreicher Kampf um Aleppo

Zahlreiche Einwohner zuvor aus der Großstadt geflüchtet / Aufständische wollen westliche Unterstützung

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Seit Samstag geht die syrische Armee in Aleppo mit schweren Waffen gegen Aufständische vor, die sich in der nordsyrischen Wirtschaftsmetropole festgesetzt haben. Die Armee setzt dabei auch Artillerie und Maschinengewehre aus Hubschraubern ein.

Nach Angaben der Aufständischen sind den Regierungstruppen »schwere Verluste« zugefügt worden. Das behauptete umgekehrt nahezu wortgleich die offizielle syrische Seite über ihre Kriegserfolge. Berichten von Einwohnern zufolge - im Gespräch mit der Autorin per Telefon - sollen sich die Kämpfe vor allem in Randgebieten im Nordosten und im Südwesten der Stadt abspielen.

Aleppo ist wie alle syrischen Städte in den letzten zehn Jahren aufgrund massiver Landflucht von neuen Wohnvierteln umgeben. Die dort lebende Bevölkerung gilt als arm, die meisten mussten infolge einer Jahre langen Dürre ihre Dörfer und Bauernhöfe aufgeben. In diesen Vierteln hatten sich die Aufständischen niedergelassen und rückten von dort weiter in die Innenstadt vor. Das wiederum hatte das massive Eingreifen regulärer Streitkräfte ausgelöst. Deren Truppen dringen offenbar von verschiedenen Seiten sternförmig in die von Aufständischen besetzten Wohnviertel vor. Die Zivilbevölkerung soll sich zu großen Teilen vorher im Umland von Aleppo in Sicherheit gebracht haben.

Der im Ausland befindliche Syrische Nationalrat warnte vor einem Massaker an der Zivilbevölkerung und forderte zum wiederholten Male ein militärisches Eingreifen des Auslands, um eine Pufferzone einzurichten.

Die Kämpfe sollen sich auf den im Südwesten der Stadt liegenden Bezirk Salaheddin konzentrieren. Dort sollen sich die bewaffneten Aufständischen in Häusern verschanzt haben, die von ihren Bewohnern zuvor verlassen worden waren. Die Straßen in den von den Aufständischen gehaltenen Vierteln werden als menschenleer beschrieben. In anderen Stadtvierteln allerdings gingen die Menschen fast wie gewohnt ihrer Arbeit nach.

Politisch und medial wird die »Schlacht um Aleppo« zu einer Entscheidungsschlacht stilisiert, bei der sich das Schicksal der syrischen Führung entscheide. Tatsächlich sind weder die regulären Streitkräfte noch die Aufständischen bereit nachzugeben. Die Aufständischen erhoffen sich mit Hilfe internationaler Unterstützung die Einrichtung einer Pufferzone im Norden Syriens. Hier wollen sie ihre Anhänger sammeln, neue Kämpfer ausbilden, bewaffnen und neue Angriffe starten. Für die syrische Führung indes ist ein Eindringen bewaffneter Kämpfer in die großen Städte des Landes inakzeptabel. Beobachter gehen davon aus, dass die Armee - wie in Damaskus vor etwa zehn Tagen - die Oberhand gewinnen und die Aufständischen vertreiben wird. »Es ist ein ungleicher Kampf«, sagte ein Gesprächspartner in Damaskus. Die Auslandsopposition und ihre Unterstützer trieben die Kämpfer in den Tod.

Auch auf Seiten der syrischen Streitkräfte ist der Preis hoch. Dutzende Soldaten werden täglich Opfer der zunehmend besseren Bewaffnung der Aufständischen, sagte ein Beobachter im Gespräch mit der Autorin in Damaskus. Die Kämpfer verfügten über moderne Granatwerfer und tragbare Anti-Panzer-Raketen. Diese Waffen, die ein Gewicht von wenig mehr als 20 Kilogramm haben und sowohl in Afghanistan als auch Irak von der US-Armee eingesetzt wurden, funktionierten nach dem Prinzip »Schießen und vergessen«: Nach dem Abschuss findet ein im Sprengkopf installierter Sucher das Ziel automatisch. Nach Angaben russischer Militärs soll die syrische Armee auf diese Weise mehr als 100 Panzer verloren haben.

In jedem Fall führt der Einsatz schwerer Waffen zur Zerstörung privaten und öffentlichen Eigentums und zur Vertreibung unbeteiligter Zivilbevölkerung. Der UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Kofi Annan, rief beide Seiten zur Einstellung der Gewalt auf. Die Lage in Aleppo mache erneut deutlich, dass nur eine politische Lösung dem Land Frieden bringen könne, sagte Annan. Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow appellierte erneut an die USA und ihre Verbündeten, ihre Unterstützung für die Aufständischen einzustellen und sie zu einer politischen Lösung zu drängen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 30. Juli 2012


Warnung vor Tragödie

Rußlands Außenminister Lawrow: Unterstützung des Westens für Aufständische verlängert Blutvergießen. Oppositioneller Syrischer Nationalrat fordert Intervention

Von Karin Leukefeld, Damaskus **


Die Lage in der umkämpften nordsyrischen Metropole Aleppo bleibt weiter angespannt. Mit drastischen Schlagzeilen wurde die westliche Öffentlichkeit auf eine dramatische Schlacht um die »wirtschaftliche Hauptstadt Syriens« vorbereitet. Der Vorsitzende des Syrischen Nationalrates (SNR), Abdulbaset Saeeda, forderte die westlichen Staaten zu einer militärischen Intervention auf, um ein »Massaker an der Zivilbevölkerung in Aleppo« zu verhindern.

Die UN-Formel »Verpflichtung zum Schutz« (Responsibility to Protect) führte in Libyen zunächst zur Einführung einer »Schutzzone« und anschließend zu monatelangen NATO-Luftangriffen. Das fordert der SNR seit Monaten auch für Syrien.

Der UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Kofi Annan, drängte beide Seiten zu einem Waffenstillstand. Nur eine politische Lösung könne den Konflikt beenden, so Annan.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow warnte vor einer »Tragödie« und warf dem Westen vor, die Aufständischen zu unterstützen und damit »das Blutvergießen in Syrien zu verlängern«. Lawrow bezeichnete es als unrealistisch, von den syrischen Streitkräften zu erwarten, daß sie tatenlos zusähen, wie Aufständische wichtige Städte einnähmen.

Die bewaffneten Gruppen hatten ihren Sturm auf Aleppo Anfang der vergangenen Woche begonnen und damit einen massiven Aufmarsch der regulären syrischen Streitkräfte provoziert. Wie bereits in Homs, Hamas, Idlib und Damaskus bezogen die Kämpfer in den ärmeren Wohnvierteln an der Peripherie Aleppos Quartier, von wo sie zu einzelnen Nadelstichoperationen starteten. Während sie sich Berichten zufolge zunächst auf das Viertel Salaheddin konzentrierten, blieb es nach Angaben von Einwohnern in zahlreichen Bezirken ruhig. Ein Aktivist hingegen berichtete der Nachrichtenagentur Reuters, daß »auch in anderen Teilen der Stadt Kämpfe toben«. Der Mann, der seinen Namen mit Mohammed Said angab, sagte, weitere tausend Mann der »Freien Syrischen Armee« seien nach Aleppo gezogen, um ihre Mitkämpfer zu unterstützen.

Eine Besetzung des Zentrums mit der Zitadelle und dem historischen Markt, konnte offiziellen Angaben zufolge von Sicherheitskräften verhindert werden. Die Altstadt von Aleppo gehört zum von der UNESCO (UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur) anerkannten Weltkulturerbe. In der Stadt leben heute bis zu drei Millionen Menschen.

Am Wochenende hatten die Streitkräfte begonnen, die Basen der Aufständischen unter Feuer zu nehmen. Dabei setzten sie Schnellfeuergewehre aus Hubschraubern und Artillerie ein, auf einen Vormarsch aber zunächst verzichtet. In syrischen Medien hieß es, die Truppen hätten »Gruppen von Terroristen« – so die offizielle Bezeichnung der Aufständischen – schwere Verluste beigebracht. Die private syrische Tageszeitung Al-Watan beschrieb das Vorgehen der Armee in Aleppo als eine »delikate Operation gegen Terrorismus und zur Wiederherstellung von Recht und Gesetz«.

Ein Oberst der »Freien Syrischen Armee« erklärte dagegen, daß seine Kräfte den regulären Truppen »schwere Verluste zugefügt« hätten. Mehr als 100 Soldaten seien getötet und drei Panzer zerstört worden, sagte Abdel Jabbar Al-Oqaidi der Nachrichtenagentur Reuters. Das Schicksal von mehr als 100 von den Aufständischen entführten Angehörigen der syrischen Armee ist unklar.

Seit Monaten begleiten westliche Journalisten die bewaffneten Gruppierungen, die von der Türkei her weitgehend ungehindert einsickern. Über deren »Sturm auf Aleppo« war von einem Reporter der britischen BBC teilweise live berichtet worden. Der niederländische Fotograf Jeroen Oerlemans und sein britischer Kollege John Cantlie waren allerdings von einer Gruppe Aufständischer entführt und nach einer Woche wieder freigelassen worden, nachdem andere Oppositionelle offenbar interveniert hatten. Oerlemans sagte dem niederländischen Radiosender Business News am Freitag, daß es sich bei den Entführern nicht um Syrer gehandelt habe. »Sie gaben alle an, aus Länder wie Pakistan, Bangladesch und Tschetschenien zu kommen und daß an der Spitze der Gruppe eine Art ›Emir‹ stehe«, sagte der Fotograf.

Reuters bestätigte derweil am Wochenende, daß es bei Adana in der Türkei ein Ausbildungslager gebe, in dem Kämpfer für einen Einsatz in Syrien ausgebildet und bewaffnet werden. Das Camp stehe unter der Kontrolle der Türkei, Saudi-Arabiens und Katars, hieß es. Der saudische König Abdullah rief zu einer Spendenaktion für »unsere Brüder in Syrien« auf. Die amtliche saudiarabische Nachrichtenagentur meldete am Samstag, es seien schon mehr als 72 Millionen Dollar (knapp 59 Millionen Euro) eingegangen.

** Aus: junge Welt, Montag, 30. Juli 2012

Syria: UN humanitarian chief urges avoidance of civilian casualties in Aleppo fighting

29 July 2012 – Amidst reports of heavy fighting in the city of Aleppo and elsewhere in Syria, the United Nations top humanitarian official today urged all parties in the Middle Eastern country to avoid civilian casualties and allow humanitarian access to people caught up in the violence.

“I am extremely concerned by the impact of shelling and use of tanks and other heavy weapons on people in Aleppo, Syria's most populous city, as well as in the capital Damascus and surrounding towns,” the Under-Secretary-General for Humanitarian Affairs and Emergency Relief Coordinator, Valerie Amos, said in a news release.

“I call on all parties to the fighting to ensure that they do not target civilians and that they allow humanitarian organizations safe access to bring urgent and life-saving help to people caught up in the fighting,' she added.

According to media reports, Aleppo has been the centre of intense combat between Government and opposition forces over recent days. Syria has been wracked by violence, with more than 10,000 people, mostly civilians, killed since the uprising against President Bashar al-Assad began some 16 months ago. In addition to Aleppo, there have been reports of an escalation in violence in many towns and villages, as well as Damascus.

In her statement, Ms. Amos noted that the International Committee of the Red Cross and the Syrian Arab Red Crescent estimate that some 200,000 people have fled fighting in Aleppo and surrounding areas over the last two days.

“It is not known how many people remain trapped in places where fighting continues today,” Ms. Amos said. “Many people have sought temporary shelter in schools and other public buildings in safer areas. They urgently need food, mattresses and blankets, hygiene supplies and drinking water.”

The humanitarian official said that the security situation in cities and along main transport routes has made it very difficult for humanitarian agencies to reach displaced families in Aleppo, Hama and other areas.

“Despite the very dangerous situation, the Red Crescent, UN agencies and partners have continued to deliver food, blankets and hygiene kits whenever and wherever they can, and are dispatching thousands more items” Ms. Amos said.

Also over the weekend, the Joint Special Envoy for the UN and the League of Arab States for the Syrian Crisis, Kofi Annan, expressed his concern over reports of the concentration of troops and heavy weapons around Aleppo.

“I remind the parties to the conflict of their obligations under international humanitarian law and human rights law, and urge them to exercise restraint and avoid any further bloodshed,” Mr. Annan said in a statement issued on Saturday.

“I believe that the escalation of the military build-up in Aleppo and the surrounding area is further evidence of the need for the international community to come together to persuade the parties that only a political transition, leading to a political settlement will resolve this crisis and bring peace to the Syrian people,” he added.

On Friday, the UN High Commissioner for Human Rights (OHCHR), Navi Pillay, expressed “deep alarm” over the increased threat to civilians in Syria, and urged the country's Government and armed opposition to protect civilians and abide by their obligations under international human rights and humanitarian law – or face the consequences.

“Civilians and civilian objects – including homes and other property, businesses, schools and places of worship – must be protected at all times. All parties, including the Government and opposition forces, must ensure that they distinguish between civilian and military targets,” she added, while also expressing particular concern about the likelihood of a major confrontation in Aleppo.

Source: UN News Centre, 29 July 2012; www.un.org




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