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Gewalt nimmt zu

Schwere Kämpfe in Aleppo. Neuer Chef der UN-Mission für Syrien bezeichnet Lage als schwierig

Von Karin Leukefeld, Damaskus *

Mit der Verlängerung der UN-Mission für Syrien (UN-Sicherheitsratsresolution 2059) für weitere 30 Tage hat der senegalesische General Babacar Gaye die militärische Leitung in Damaskus übernommen. In einer kurzen Stellungnahme an die Presse bezeichnete Gaye die Lage als »sehr schwierig«, doch die »Vernunft« werde letztlich »Erfolg haben«. Der stellvertretende Generalsekretär für UN-Friedensmissionen, Hervé Ladsous, sagte, in den nächsten Tagen werde man mit den Vermittlern vor Ort und mit Regierungsvertretern diskutieren. Die Hälfte der militärischen UN-Beobachter hätte das Land verlassen, doch seien weiterhin in verschiedenen Provinzen UN-Teams vor Ort. Auf jW-Nachfrage, ob die Mission sich nun verstärkt der Bildung einer Übergangsregierung widmen werde, wie es die Vereinbarung von Genf vorsehe, antwortete der französische Diplomat ausweichend. Alle Seiten hätten der Bildung einer Übergangsregierung zugestimmt, und die Aufgabe der UNSMIS sei es, entsprechende Gespräche zu vermitteln. »Schlüsselfrage« dafür bliebe jedoch weiterhin »ein Nachlassen der Gewalt«.

Die hat derweil in verschiedenen Teilen des Landes noch zugenommen. Während sich die Lage in und um Damaskus seit einigen Tagen aufgrund massiver Militäroperationen gegen die bewaffneten Aufständischen eher beruhigt hat, nahmen die Auseinandersetzungen vor allem in und um Aleppo zu. Regierungsgegner und mit ihnen sympathisierende Journalisten berichteten, die syrische Luftwaffe habe in die Kämpfe eingegriffen und »Stellungen der Aufständischen« bombardiert (BBC). Eine Razzia im Gefängnis von Aleppo und die Ermordung von Gläubigen, die auf dem Weg zum Iftar (Fastenbrechen) in einer Moschee von regierungstreuen Milizen getötet worden sein sollen, wurden von unabhängiger Seite nicht bestätigt.

Seit Beginn der Unruhen im März 2011 war es in Damaskus, der politischen, und in Aleppo, der ökonomischen Metropole Syriens, weitgehend ruhig geblieben. Mehrfach waren die Einwohner beider Städte bei Protesten in Homs, Idlib oder außerhalb Syriens beschimpft und aufgefordert worden, sich dem Aufstand gegen die Regierung anzuschließen. Wie zuvor Damaskus scheint nun auch Aleppo den Preis dafür zu zahlen, daß es versucht hat, sich aus dem militarisierten Konflikt um die Zukunft des Landes herauszuhalten.

Die staatliche syrische Nachrichtenagentur SANA berichtete ihrerseits von schweren Kämpfen in Aleppo, in der Provinz von Lattakia, bei Tall Kalach nahe der Grenze zum Libanon sowie in der Provinz von Kamischly im Nordosten des Landes. Nach offi­zieller Darstellung seien die Armee und Sicherheitskräfte gegen »bewaffnete terroristische Gruppen« vorgegangen, »die Einwohner angegriffen und privates und öffentliches Eigentum in den Wohnvierteln von Aleppo zerstört« hätten, dabei seien »Dutzende« getötet worden. Das Eindringen von bewaffneten Gruppen aus dem Libanon und der Türkei sei ebenfalls verhindert worden. Auch im Süden Syriens, an der Grenze zur Jordanien, wurden bewaffnete Kämpfer getötet, die versucht hatten, nach Syrien zu kommen. Aus Sicht der syrischen Führung befindet die Armee sich in einem »Verteidigungskampf« mit irregulären Kampfgruppen, die vom Ausland unterstützt werden.

Der ehemalige syrische General Manaf Tlass, der vor knapp drei Wochen Syrien verlassen hatte, ist mittlerweile zur Pilgerfahrt (Ummra) in Mekka eingetroffen. Der saudische Nachrichtensender Al-Arabiya zeigte Tlass in offizieller Begleitung im Pilgergewand. »Exklusiv« verbreitete der Sender zudem, wie Tlass eine vorbereitete Erklärung verlas. Darin forderte er alle Syrer auf, für die Einheit eines demokratischen Syriens zusammenzustehen. Das neue Syrien dürfe »nicht auf Rache, Ausschluß oder Alleinvertretungsansprüchen« aufgebaut werden.

Die Türkei schloß am Mittwoch morgen die letzten drei Grenzübergänge nach Syrien. Ein Beamter der türkischen Grenzbehörden erklärte, daß nur noch Transitgüter die Grenze passieren dürften. Der türkisch-syrische Handel, der in den letzten Jahren mit Zollerleichterungen enorm zugenommen hatte, ist damit gestoppt. Für die Zivilbevölkerung beider Seiten ist die Grenze dicht, lediglich syrische Flüchtlinge sollten noch einreisen dürfen. Seit Monaten läßt die Türkei jedoch auch in ihrem Land ausgebildete und bewaffnete Kämpfe nach Syrien eindringen.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. Juli 2012


Aufmarsch an den Grenzen

Nach kurdischer Machtübernahme in Nordwestsyrien machen Ankara und Erbil mobil

Von Nick Brauns **


Nachdem kurdische Volksverteidigungskomitees die Kontrolle über Städte in Nordwestsyrien übernommen haben, machen sowohl die türkische Regierung als auch der Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak, Masud Barsani, mobil. Mit der Kleinstadt Girke Lege übernahmen die kurdischen Komitees am Dienstag bereits die fünfte Stadt nach Kobani, Derek, Amouda und Afrin. Die kurdischen Parteien rechnen damit, daß ihnen bald auch die größte syrisch-kurdische Stadt Qamischlo mit 400000 Einwohnern von der Baath-Administration übergeben wird. Entsprechende Verhandlungen laufen bereits.

200 Kleinbusse brachten am Dienstag türkische Soldaten in die auf türkischer Seite direkt an Qamischlo grenzende Stadt Nusaybin, während Kampfhubschrauber zur Aufklärung über dem Grenzgebiet flogen. Ein von der Nachrichtenagentur Dogan ausgestrahltes, mit einem Mobiltelefon aufgenommenes Video zeigte außerdem kilometerlange Marschkolonnen kurdischer Soldaten in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Einige der unbewaffneten Soldaten riefen: »Wir sind auf dem Weg, Qamischlo einzunehmen.« Es handle sich um nachträglich im Nordirak ausgebildete kurdische Deserteure der syrischen Armee, erklärte Barsani gegenüber dem Sender Al-Dschasira. Nur wenn der Hohe kurdische Rat sein Einverständnis erklärte, würden die Soldaten nach Syrien geschickt, um das »Sicherheitsvakuum« in den kurdischen Städten nach Abzug der Regierungskräfte zu füllen.

Dem im Juni in Erbil gebildeten Rat der syrischen Kurden gehören jedoch sowohl zahlreiche von Barsani finanzierte Oppositionsgruppen als auch die Partei der Demokratischen Einheit, PYD, an. Diese Schwesterpartei der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gilt als die dominante Kraft unter den syrischen Kurden. Durch syrisch-kurdische PKK-Guerillakämpfer verstärkt, verfügt sie bislang als einzige kurdische Partei über eine nennenswerte Zahl bewaffneter Kräfte in Syrien. Ein Einmarsch der im Nordirak ausgebildeten Soldaten würde das innerkurdische Kräfteverhältnis zugunsten Barsanis verbessern. Dies wäre im Interesse Ankaras. Nachdem sich die Beziehungen zwischen der Türkei und dem lange als »Terroristenunterstützer« geschmähten Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Irak aufgrund von Erdölgeschäften verbessert haben, hofft Ankara, mit seiner Hilfe den Einfluß der PKK zurückzudrängen.

»Damaskus hat die Region der PYD überlassen, um Truppen für den Kampf mit der Freien Syrischen Armee in das Innere des Landes abzuziehen und gleichzeitig die Türkei einzuschüchtern«, hieß es am Mittwoch in der Zeitung Hürriyet Daily News unter Berufung auf »glaubwürdige türkische Quellen«.

Ankaras Vertreter zeigten sich gegenüber der regierungsnahen Tageszeitung Todays Zaman zudem zuversichtlich, daß die syrische Opposition keine kurdische Autonomie unter Mitwirkung PKK-naher Kräfte dulden werde. »Wir haben die Anweisung gegeben, daß in Syrien keine andere als die syrische Fahne gehißt wird«, versicherte in diesem Sinn der Vorsitzende des Syrischen Nationalrates, Abdel Baset Seid, gegenüber der Presse. Zuvor hatte es Bilder gegeben, die zeigten, daß auf öffentlichen Gebäuden in den kurdischen Städten sowohl die kurdische als auch PKK-Fahnen gehißt wurden. Vertreter der Freien Syrischen Armee erklärten, niemals die Bildung eines kurdischen Staates in Syrien zu erlauben.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 26. Juli 2012


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