Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Freiheit braucht Beistand" - Kein Friedens-Appell

Kommentiert und dokumentiert: Der umstrittene Aufruf "zur Unterstützung des zivilen Widerstandes in Syrien"


Editorische Vorbemerkung:

Chronistenpflicht verlangt von uns die Dokumentation eines Aufrufs, dessen Unterzeichnung für uns aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kommt. Einige Gründe hat Mohssen Massarrat genannt. Weitere sind an anderer Stelle, z.B. in Artikeln der "jungen Welt" und des "neuen deutschland" aufgeführt worden. Und einige Gründe hat der Bundesausschuss Friedensratschlag implizit schon seit Monaten vorgetragen, etwa in seinem Aufruf Hände weg von Iran und Syrien". Es sind inhaltliche und politische Erwägungen, welche die Friedensbewegung und die friedensorientierte Friedensforschung (es gibt ja auch die weniger friedensorientierte "Friedensforschung", die sich von der Kriegsforschung kaum noch unterscheidet) bewogen haben, sich im Syrien-Konflikt nicht auf die Seite einer der vielen Konfliktparteien zu schlagen und schon gar nicht auf das Spiel der ausländischen Mächte hereinzufallen. Von Anfang an überwog demnach auch die Skepsis gegenüber der Initiative "adopt the revolution". War denn in Syrien tatsächlich eine "Revolution" ausgebrochen? Und kann eine Revolution überhaupt so einfach von außen "adoptiert" werden? Und schließlich: Verbirgt sich hinter der Vorstellung, eine "Revolution zu adoptieren", die Revolutionäre also an die Hand zu nehmen und sie auf "unseren" richtigen Weg zu führen, nicht ein neokoloniales Überlegenheitsgefühl (noch dazu aus einem Land, das mit eigenen erfolgreichen Revolutionen nicht gerade reich gesegnet ist)?

Es mag aber auch sein, dass manche Unterzeichner/innen im guten Glauben handeln, auf diesem Weg das Blutvergießen in Syrien beenden oder wenigstens abkürzen zu können. Ein Blick auf die Erstunterzeichnerliste zeigt aber schon, dass die "Friedenskräfte" oder, wie Massarrat schreibt, "viele namhafte Persönlichkeiten aus dem Lager der Friedensbewegung" gar nicht so zahlreich vertreten sind. Vielmehr tauchen ganz andere "Persönlichkeiten" auf, die man nie und nimmer mit der Friedensbewegung in Zusammenhang bringen würde. Mit dieser Einschätzung tut man ihnen auch subjektiv keineswegs Unrecht. Oder wollte etwa ein Tom Koenigs (Grüne), eine Andrea Nahles (SPD), ein Ruprecht Polenz (CDU) oder eine Claudia Roth (Grüne) mit der Friedensbewegung in einen Topf geworfen werden? Dazu hätten sie Jahre lang Gelegenheit gehabt. Doch immer wenn über Auslandseinsätze der Bundeswehr abgestimmt wurde (z.B. in der Afghanistan-Frage) haben sie für den Krieg die Hand gehoben.

Soweit es den "Friedensratschlag" betrifft - der vor kurzem auf seinem Kongress wieder sehr intensiv über die Situation in Syrien und den angrenzenden Ländern debattiert hat - kann von einer "Verunsicherung der Friedensbewegung" auch nicht die Rede sein. Weder der unten stehende Aufruf noch die vielen Einflüsterungen von Seiten der Mainstream-Medien und der Politik sind geeignet, uns vom Pfad des Völkerrechts und der Verhandlungslösung abzubringen und einer Gewalt"lösung" oder einer bewaffneten Intervention das Wort zu reden. Geeignete Schritte von Deutschland wären dagegen ein konsequentes Waffenambargo gegenüber den Konfliktparteien, die Verhinderung der Patriot-Stationierung im türkisch-syrischen Grenzgebiet sowie die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus Syrien.

Im Folgenden also der Aufruf, dem wir uns - wären wir gefragt worden - selbstverständlich verweigert hätten.
(P. Strutynski)

Dokumentiert:

FREIHEIT BRAUCHT BEISTAND

Aufruf zur Unterstützung des zivilen Widerstandes in Syrien

Betroffenheit, Ohnmacht, Tragödie – das sind die Schlagworte der medialen Berichterstattung über Syrien. Eine politische Rettung ist nicht in Sicht. Was können wir tun, wenn wir nicht wegschauen und schweigen wollen?

Wie schon zuvor in Tunesien und Ägypten begann der Arabische Frühling auch in Syrien mit einem Fest der Hoffnung. Allwöchentlich versammelten sich die Menschen, um friedlich für ihre Freiheit zu demonstrieren. Aber die demokratischen Proteste verwandelten sich in Aufstände öffentlicher Trauer und Empörung. Nahezu jede Demonstration wurde ein Begräbnis und jedes Begräbnis eine Demonstration. Das Regime von Baschar al-Assad setzte von Anbeginn auf unerbittliche Härte, verweigerte jeden ernsthaften Dialog, jede einvernehmliche politische Lösung. Die AktivistInnen der lokalen Bürgerkomitees wurden verhaftet und gefoltert, tausende friedlicher DemonstrantInnen erschossen, KünstlerInnen und JournalistInnen gezielt ermordet.

Nach Monaten des friedlichen Widerstandes desertierten Soldaten. Sie weigerten sich, auf unbewaffnete Protestierende zu schießen und bildeten die oppositionelle Freie Syrische Armee (FSA). Die Shabbiha-Sondereinsatzgruppen des Regimes begingen gezielte Massaker, ausländische Kämpfer kamen ins Land. Es begannen Häuserkämpfe um ganze Stadtviertel und Ortschaften; blutige Anschläge und tägliche Luftangriffe des Regimes forderten ungezählte Tote. Die Armee schreckte nicht vor dem Einsatz von Streubomben in Wohngebieten zurück. Heute gleichen große Landstriche Syriens einem Alptraum im Wachzustand: Idlib, Homs, Serê Kaniyê (Ras Al Ain), Aleppo, die Vorstädte von Damaskus, Daraa. Ausgelöschte Lebenswelten. Zwischen den Trümmern Menschen, die ihrer Gegenwart, ihrer Vergangenheit und Zukunft beraubt werden. Hunderttausende fliehen vor der ethnisch-religiösen Gewalt des Regimes wie vor der bewaffneter salafistischer Milizionäre. Eine Apokalypse.

In Syrien droht die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Gewaltherrschaft, die ihren Sturz auf unabsehbare Zeit hinauszögern will, und durch eine militärische Gegengewalt, deren Sieg nicht absehbar ist. Auch deshalb ist die fragmentierte politische Opposition im Exil aufgefordert, ihren Beitrag zu einem unabhängigen und pluralistischen Syrien zu leisten. Doch liegt die syrische Tragödie auch darin, dass die Zukunft des Landes längst nicht mehr allein in den Händen seiner BürgerInnen liegt: In Syrien kreuzen sich nicht nur türkische, iranische und saudi-arabische Interessen, sondern auch „östliche“ und „westliche“ Außenpolitik. Das fand seinen Ausdruck im Scheitern der UN-Friedensmission von Kofi Annan und der anhaltenden Selbstblockade im UN-Sicherheitsrat.

Die Lage in Syrien erscheint hoffnungslos. Kein Dialog ist in Sicht und niemand scheint das andauernde Töten stoppen zu können. Jede Waffenlieferung – ob aus Russland, den USA, dem Iran, Europa, der Türkei oder den Golfstaaten – wird die ohnehin bestehende humanitäre Katastrophe verschlimmern. Jede militärische Aufrüstung der Anrainerländer birgt die Gefahr einer Regionalisierung des Krieges. Jede andere Form der offenen militärischen Intervention wird die politischen Kräfte an den Rand drängen und die Opposition in Syrien weiter spalten. Abwarten und Zuschauen droht aber zu ähnlich verheerenden Resultaten zu führen.

Wir, die UnterzeichnerInnen, hoffen weiterhin auf eine friedliche Lösung. Wir wissen, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind. Doch wir können versuchen, verantwortungsvoll zu handeln.

Vor anderthalb Jahren hat eine junge Generation in Syrien ihren Willen zur Freiheit erklärt. Für diese mutigen Frauen und Männer gibt es keinen Weg zurück in die alte Republik der Angst. Unbewaffnete lokale Bürgerkomitees, kurdische Initiativen, Studentengruppen, aber auch palästinensische Jugendliche verweigern sich der militärischen Logik der Zerstörung und verteidigen den demokratischen Aufbruch. Sie helfen nicht nur Verwundeten und Ausgebombten, sondern verteidigen auch die Interkonfessionalität der syrischen Demokratiebewegung gegen die religiöse Hetze des Regimes wie gegen die immer stärker werdenden radikal-islamischen Tendenzen innerhalb der Freien Syrischen Armee und protestieren gegen tagtägliche Menschenrechtsverletzungen. Noch immer finden jeden Freitag hunderte von unbewaffneten Demonstrationen statt; weiterhin versuchen AktivistInnen dort, wo sich der Staat zurückgezogen hat, das öffentliche Leben aufrechtzuerhalten. Sie alle, vor allem die vielen aktivistischen Frauen, haben keine hier bekannten Namen und kein prominentes Gesicht. Doch sie sind die neue Generation Syriens, die nicht nur Nachbarschaftshilfe für unzählige Inlandsflüchtlinge leistet, sondern Tag für Tag den Boden für ein zukünftiges demokratisches, multi-ethnisches und multi-religiöses Land bereitet. Ihnen gilt unser solidarischer Beistand, unser Respekt und unsere praktische politische Unterstützung.

Wir appellieren an Medien und Öffentlichkeit in Deutschland, das dramatische Geschehen differenziert wahrzunehmen und sich den offenen Blick durch die Bilder der Gewalt nicht verstellen zu lassen. Syrien verschwindet aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit, weil sich das Blutvergießen immer länger hinzieht. Es ist unsere Verantwortung, das zu verhindern.

ErstunterzeichnerInnen:
Dr. Arshin Adib-Moghaddam (Centre for Iranian Studies, London), Ferhad Ahma (ASKYA – Assembly of Syrian-Kurdish Youth Abroad), Prof. Katajun Amirpur (Hamburg), Jan van Aken (Stellvertretender Parteivorsitzender, MdB, DIE LINKE), Prof. Elmar Altvater (Berlin), Ali Atassi (Journalist und Filmemacher, Syrien), Imran Ayata (Schriftsteller, Berlin), Christoph Bautz, (Geschäftsführer Campact e.V., Verden), Dr. David Becker (Psychologe, Berlin), Rene Böll (Künstler, Köln), Larissa Bender (Übersetzerin, Köln), Dr. Manuela Bojadžijev (Berlin), Prof. Micha Brumlik (Frankfurt), Prof. Hauke Brunkhorst (Flensburg), Hikmat Bushnaq-Josting (Vorsitzender Ibn Rushd e.V.), Prof. Michael Corsten (Hildesheim), Prof. Helmut Dahmer (Wien), Prof. Alex Demirović (Berlin), Prof. Hans-Peter Dürr (Träger des Alternativen Nobelpreises, München), Andre Find (about:change e.V.), Thomas Gebauer (Geschäftsführer medico international), Corinna Genschel (Komitee für Grundrechte und Demokratie). Prof. Hans-Joachim Giegel (Jena), Günter Gloser (Staatsminister a.D, MdB, SPD), Prof. Frigga Haug (Berlin), Prof. Wolfganng Fritz Haug (Berlin), Kristin Helberg (Nahostexpertin, Berlin), Ranjith Henayaka (Schriftsteller, Berlin), Raif Hussein (Vorsitzender Deutsch-Palästinensische Gesellschaft, Hannover), Haydar Isik (Schriftsteller, München), Wolfgang Kaleck (Rechtsanwalt, Berlin), Navid Kermani (Schriftsteller, Köln), Michel Kilo (Syrischer Oppositioneller), Katja Kipping (Parteivorsitzende, MdB DIE LINKE ),Tom Koenigs (Vorsitzender Menschenrechtsausschuss, MdB Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Ekkehart Krippendorff (Berlin), Shermin Langhoff (Theaterintendantin, Berlin), Prof. Stephan Lessenich (Jena), Ivesa Lübben (Politologin, Marburg), Dr. Michael Lüders (Islamwissenschaftler und Nahostexperte, Berlin), Prof. Birgit Mahnkopf (Berlin), Masasit Mati (KünstlerInnenkollektiv, Syrien), Aiman A. Mazyek (Vorsitzender Zentralrat der Muslime in Deutschland) Andrea Nahles (MdB, Generalsekretärin der SPD), Dr. Rupert Neudeck (Grünhelme e.V.), Nahla Osman (Aktionsbündnis Freies Syrien), Thomas Ostermeier (künstlerischer Leiter der Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin), Elias Perabo (Adopt a Revolution), Ruprecht Polenz (Vorsitzender Auswärtiger Ausschusses, MdB, CDU), Werner Rätz (Mitglied attac Koordinierungskreis, Bonn), Stefan Reinecke (Journalist und Publizist, Berlin), Claudia Roth (Bundesvorsitzende Bündnis 90/Grüne), Friedrich Schorlemmer (Theologe und Publizist, Wittenberg), Lutz Schulenburg (Verleger, Edition Nautilus), Peter Spuhler (Generalintendant Badisches Staatstheater, Karlsruhe), Prof. Udo Steinbach (Berlin), Jutta Sundermann (Mitglied attac Koordinierungskreis, Wolfenbüttel), Prof. Holm Tetens (Berlin), Ilija Trojanow (Schriftsteller, Wien), Sascha Vogt (Bundesvorsitzender Jusos in der SPD), Najem Wali (Schriftsteller, Berlin), Dr. Stefan Weber (Direktor Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, Berlin), Hannah Wettig (Journalistin, Berlin), Josef Winkler (MdB Bündnis 90/Die Grünen) Prof. Frieder Otto Wolf (MdEP a.D. Bündnis 90/Die Grünen, Berlin), Helga Wullweber (Rechtsanwältin, Berlin).


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