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Streitfrage: Sollte Ratko Mladic der Prozess in Den Haag gemacht werden?

Es debattieren: Norbert Mappes-Niediek und Germinal Civikov


Vergangenen Woche wurde Ratko Mladic festgenommen. Vor wenigen Tagen wurde er nach Den Haag ausgeliefert. Dem Ex-General der serbischen Armee wird der Prozess vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien gemacht. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, für den Mord an mehreren tausend Muslimen in Srebrenica im Sommer 1995 verantwortlich zu sein. Am gestrigen Freitag (3. Juni) trat Mladic erstmals in Den Haag vor den Richter. Ihm wurde eine Zusammenfassung der elf Anklagepunkte vorgelesen.
Westliche Politiker begrüßten die Überstellung von Mladic. Doch ist sie gerechtfertigt? Ist ein fairer Prozess vor dem Den Haager Gericht überhaupt möglich? Steckt dahinter nicht vielmehr politisches Kalkül, um Serbien näher an die Europäische Union zu führen?


Ein möglicher Beitrag zur Gerechtigkeit

Von Norbert Mappes-Niediek *

Ja, sicher! Was denn sonst? Was die Klagwürdigkeit der Vorwürfe betrifft, ist kein Zweifel möglich. Auch dass mit Ratko Mladic der Richtige angeklagt wurde, steht außer Frage. Sinnvoll diskutieren lässt sich allenfalls über den Gerichtsstand.

Zur Zeit des Slobodan Milosevic argumentierte Belgrad noch, das Haager Tribunal sei illegitim, weil es eigentlich von der Vollversammlung der Vereinten Nationen und nicht vom Sicherheitsrat hätte eingerichtet werden müssen. Seit zehn Jahren arbeiten mit diesem Argument aber nur noch die Angeklagten selbst. Das Tribunal hat inzwischen durchweg nachvollziehbare und haltbare Urteile gefällt – obwohl (oder gerade weil) seine Spruchpraxis in Serbien, Kroatien und Kosovo mehrheitlich für einseitig gehalten wird. Kritik konzentriert sich vor allem auf die Anklagebehörde, der vorgeworfen wird, sie agiere politisch und bilde mit einer Art Quote von Angeklagten pro Nation indirekt die Kriegsschuldfrage ab. Aber das ist legitim. Schließlich sollen nicht alle Kriegsverbrecher vor das Tribunal in Den Haag geholt werden, sondern nur die besonderen Fälle. Das Kriterium ist damit schon ein politisches.

Und ein sinnvolles: Es war und ist auch heute kaum möglich, prominente Angeklagte in ihren Heimatländern oder dort, wo sie Verbrechen begangen haben, einem ordentlichen Verfahren zu unterziehen. Man nehme etwa den Fall des kroatischen Generals Ante Gotovina, der im April in Den Haag zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Niemand ist in Kroatien bereit, die von Gotovina geführte »Aktion Gewitter« im August 1995 als »gemeinsames kriminelles Unternehmen« zu qualifizieren, wie das Haager Gericht das getan hat. Auf dem Verfahren gegen Gotovina lastete der ganze Druck der Kriegsvergangenheit, das Erbe des ersten Präsidenten Franjo Tudjman, ja, ein gutes Stück der neuen nationalen Identität der Kroaten. Jedes kroatische Gericht hätte nur entweder der öffentlichen Meinung folgen oder sich scharf gegen sie abgrenzen oder sich mit einem faulen Kompromiss hindurchwinden können; keines hätte im Klima des Landes das Gewicht und die Souveränität gehabt, sachgerecht zu urteilen. Für den Fall Mladic gilt das erst recht. In Serbien nähme mit Mladic die halbe Nation Platz auf der Anklagebank. Würde er dagegen in Sarajevo vor Gericht gestellt, so träte dort die halbe Nation als Nebenkläger auf. So kann kein Recht gesprochen werden.

Vorgeworfen wird dem Haager Gericht auch, dass es so etwas wie weltweite Gerechtigkeit eh nicht herstellen wolle oder könne. Haben sich nicht auch die Westeuropäer mit ihren seltsamen Patronagen für verschiedene Balkanländer schuldig gemacht? Und die Amerikaner mit ihrer »end game strategy«, die 1995 in Bosnien und in Kroatien noch einmal so viele Morde und Vertreibungen nach sich gezogen hat? Oder wenigstens die niederländischen Blauhelme, die nichts unternahmen, als tausende Unbewaffnete nahe Srebrenica erschossen wurden? Haben sie; sie bleiben aber alle unbestraft. Die internationale Gerichtsbarkeit steckt gerade mal in ihren Anfängen. Sie muss sich ihre Geltung erst erkämpfen. Die eine weltweite Gerechtigkeit wird es so schnell nicht geben. Sie kommt aber nicht, indem man auf sie wartet, sondern kommt stockend, widersprüchlich, mit neuen Ungerechtigkeiten. Auf Gerechtigkeit im Einzelfall muss und darf man deshalb nicht verzichten. Ein Pinochet, der unbestraft bleibt, ist ein Unglück. Ein Pinochet aber, dessen unverdiente Straffreiheit auch einem Mladic die Freiheit schenken würde, wäre ein doppeltes Unglück.

Wichtiger noch als sein möglicher Beitrag zur Gerechtigkeit ist der Anteil an der Aufklärung, den der Mladic-Prozess leisten kann. Warum mussten so kurz vor Kriegsende in Srebrenica zwischen 7000 und 8000 Menschen sterben? Dass Mladic an der Erhellung seiner Motive interessiert ist, darf man bezweifeln. Sein Sohn jedenfalls hat erklärt, sein Vater habe mit dem Massaker gar nichts zu tun. Alles sei »nachher« geschehen, als Mladic schon keine Kontrolle mehr hatte. Vom Angeklagten, der seinem Anwalt zufolge gar nicht mehr recht bei Sinnen sein soll, ist also wenig zu erwarten.

Interessant könnte es aber dann werden, wenn die Anklagebehörde es schafft, den Mladic-Prozess mit dem gegen Radovan Karadzic zusammenzulegen. Wenn der zivile Präsident seinen Militärführer je kontrolliert hat, was man bezweifeln darf, dann sicher nicht mehr im August 1995. Aufklären könnte der Prozess, ob Mladic aus eigener Initiative gehandelt hat oder ob er seine Anweisungen von daher bekommen hat, wo er und seine Soldaten ihren Sold bezogen: aus Belgrad.

** Norbert Mappes-Niediek, Jahrgang 1953, ist seit Jahren freier Südosteuropa-Korrespondent. Er berichtet unter anderem für die »Frankfurter Rundschau« über Ereignisse auf dem Balkan.


Der Wille zur Wahrheit kennt seine Grenzen

Von Germinal Civikov **

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, kurz Jugoslawien-Tribunal, arbeitet unter politischen Vorlagen und die Wahrheitsfindung interessiert seine Richter und Ankläger nur sehr bedingt. Der gigantische und exzellent entlohnte Apparat dieses Tribunals scheint eine Wahrheitssuche zu betreiben, die ein von Politikern und Medien festgelegtes Bild vom blutigen Zerfall Jugoslawiens nun auch strafrechtlich zu beweisen trachtet. Und weil dieses Bild nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, kommt es mehrmals vor, dass die Anklage in große Beweisnot gerät – besonders, wenn der Angeklagte sich selber verteidigt und dies auch zu tun versteht. Und dann kann man mehrmals bewundern, wie die Richter zu Assistenten der Anklage mutieren.

Die Protokolle aus dem Milosevic-Prozess und aus dem endlosen Prozess gegen Vojslav Seselj bieten in dieser Hinsicht eine erlebnisreiche Lektüre. Und wenn in einem Strafverfahren die intendierte Wahrheitsfindung umzukippen droht, dann stirbt leider der Angeklagte, wie etwa Slobodan Milosevic, oder es folgen neue und neue Anklagen, und das Verfahren, wie im Falle von Seselj, schleppt sich ins neunte Jahr ohne Aussicht, je ein Ende zu finden, denn ein Freispruch wäre politisch untragbar.

Das Strafverfahren gegen den Kommandanten der bosnisch-muslimischen Truppen in Srebrenica, Naser Oric, endete demgegenüber schnell mit einem Freispruch, und der ehemalige UCK-Kommandant Ramush Haradinaj darf in Freiheit seinen voraussichtlichen Freispruch abwarten. Man müsste sich blind stellen, um in diesen zwei Fällen auch die politischen Vorlagen des Rechtsgangs zu leugnen.

Schon aus diesem Grund wäre es vorzuziehen, Ratko Mladic vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, und nicht vor das Jugoslawien-Tribunal. Das wird freilich nicht einmal in Erwägung gezogen. Schließlich sind große Interessen im Spiel, nicht zuletzt die institutionellen Interessen des Tribunals selber. Was die Anklage gegen Mladic betrifft, sie unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der sehr umfangreichen Anklage gegen Radovan Karadzic. An prominenter Stelle steht freilich die Anklage des Völkermordes, und zwar nicht nur der Massenmord im Sommer 1995 in der Region von Srebrenica, sondern in weiteren acht bosnischen Gemeinden während des gesamten Bürgerkriegs. Schon dies allein verspricht eine sehr langwierige Beweisführung der Anklage. Hat ja schon der Internationale Gerichtshof in einem wichtigen und von den Medien gern verschwiegenen Urteil vom 26. Februar 2007 den Tatbestand des Völkermords mit Bezug auf diese Gemeinden abgelehnt. Man will sich offensichtlich über das Urteil dieses Gerichtshofs, immerhin das höchste Rechtsgremium der UNO, schlicht hinwegsetzen.

Aber auch die Beweisführung zum Srebrenica-Völkermord wird nicht einfach sein, und zwar nicht nur, weil der Vorsitzende Richter im Mladic-Prozess, Christoph Flügge, selber in einem »Spiegel«-Interview 2009 gegen die Einstufung der Srebrenica-Morde als Völkermord Stellung nahm. Diese Äußerung hat ihm bereits den Richtersitz im Karadzic-Prozess gekostet, und er könnte es sich jetzt anders überlegen.

Ein wirkliches Problem ist aber der erste und wichtigste Zeuge der Anklage für die Srebrenica-Morde. Drazen Erdemovic heißt der Söldner und Massenmörder, der schon 1996 Karadzic und Mladic belastet hat, auf ihren Befehl im Juli 1995 mit sieben anderen Mittätern 1200 muslimische Gefangene erschossen zu haben. Seine Aussage ist extrem widersprüchlich und sein Werdegang als einziger Dauerzeuge der Anklage für diesen Massenmord ist ein Skandal. Neuerdings hat Karadzic ein Kreuzverhör dieses Kronzeugen beantragt und die Richter haben es prompt abgelehnt. Seine schriftliche Aussage dürfte ausreichen, meint man. Der Wille zur Wahrheitsfindung beim Jugoslawien-Tribunal kennt seine Grenzen, das letzte Wort ist aber hoffentlich noch nicht gesprochen.

Ob aber der gesundheitlich angeschlagene und augenscheinlich dementierende Ratko Mladic dies alles noch bewusst erleben wird? Warum klagt man ihn nicht einfach eines Kriegsverbrechens an, das schnell und überzeugend zu beweisen wäre? Etwa der Beschießung von Sarajevo, zweifelsohne ein schweres Kriegsverbrechen. Nein, es muss ein Völkermord sein. Ein Völkermord soll strafrechtlich bestätigt werden, denn dieser legitimiert erst recht den ersten NATO-Militäreinsatz »out of area«, der im August 1995 gegen die bosnischen Serben geführt wurde. Es galt ja damals einen Völkermord zu stoppen, was sonst.

Übrigens, Städte beschießen und Zivilbevölkerung umbringen darf ungestraft nur die NATO. Das wusste General Mladic noch nicht.

** Germinal Civikov, 1945 geboren, ist Journalist und Literaturwissenschaftler. Im Promedia Verlag sind von ihm die Bücher »Der Milosevic-Prozess. Bericht eines Beobachters« und »Srebrenica. Der Kronzeuge« erschienen.

Beide Beiträge erschienen in: Neues Deutschland, 4. Juni 2011 ("Debatte")


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