Was wird aus Montenegro?
Jugoslawien heißt jetzt Serbien-Montenegro. Aber wie lange noch?
Dass die Republik Jugoslawien, die am Ende ohnehin auf Serbien (zur Zeit ohne die Region Kosovo) und Montenegro zusammengeschrumpft war, sich nun auch von ihrem Staatsnamen verabschiedet hat, ist kaum noch wahrgenommen worden. Der neue Staatenbund Serbien-Montenegro ist eine Neugründung auf Zeit. Am 14. März schlossen Belgrad und Podgorica ein Abkommen über den neuen Staatenbund. Dieses Abkommen kam auf Druck der EU tzustande und verschiebt eine endgültige Entscheidung über die endgültige Statsform der beiden Länder um drei Jahre. Dann soll, möglicherweise in einem Referendum, über die Fortsetzung des Staatenbunds entschieden werden. In die gemeinsame Verantwortung Serbien-Montenegros fallen nur die Außenpolitik, die Verteidigungspolitik und der EU-Beitritt. Alles andere bliebt dem jeweiligen Staat vorbehalten. Schon heute ist es so, dass zwei Währungen existieren. In Serbien (nicht im Kosovo, das faktisch unter UN-Protektorat steht) gilt der Dinar, in Montenegro der EURO.
Im Folgenden dokumentieren wir in Auszügen einen interessanten Artikel aus der Schweizerischen Wochenzeitung WoZ. (www.woz.ch)
Montenegro: Gräben und Verbundenheiten
Im Banne der Vergangenheit
Von Jean-Arnault Dérens, Plav
... Die montenegrinische Gesellschaft ist und bleibt
tief gespalten. Daran
ändert auch der Mitte März quasi über Nacht ins
Leben gerufene neue
Staatenbund «Serbien und Montenegro», den an die
Stelle der
Bundesrepublik Jugoslawien tritt, und der Aufschub
der Entscheidung über
eine Unabhängigkeit nichts. Den NostalgikerInnen des
heroischen,
unabhängigen Montenegro, das während Jahrhunderten
der türkischen
Herrschaft Widerstand geleistet hat, stehen nach wie
vor die
VerteidigerInnen der traditionellen Verbundenheit
mit Serbien gegenüber.
Auch im Nordosten
Montenegros, in der
Kleinstadt Plav,
sind die
Positionen bezogen.
Die
Linien verlaufen im
Grossen
und Ganzen entlang
der
Gräben zwischen den
verschiedenen
Volksgruppen.
Der Sekretär im
Rathaus von
Plav, Hakija
Ljesnjanin, weiss
genau, wie die
Wahlberechtigten seiner Gemeinde jeweils wählen:
«Plav hat 20.000
Einwohner. 22 Prozent sind Albaner: Für sie sind
Urnengänge eine Art
Volkszählung, was bedeutet, dass sie ihre Stimme
albanischen Parteien
geben. Dasselbe gilt für die 18 Prozent Orthodoxen,
die sich manchmal
als Serben und manchmal als Montenegriner
bezeichnen: Sie wählen
immer proserbische Parteien. Einzig die slawischen
Muslime – in Plav
rund 60 Prozent der Bevölkerung – geben ihre Stimme
verschieden
ausgerichteten Parteien: Einige wählen die Partei
der Demokratischen
Sozialisten (DSP) von Präsident Milo Djukanovic,
andere die
Sozialdemokraten (SDP), die noch stärker auf
Unabhängigkeit pochen als
der Präsident, oder die muslimische Partei SDA.» Der
lokale Chef der
SDA, Kemal Purisic, fügt hinzu, dass die grosse
Mehrheit der slawischen
Muslime – oder Bosniaken – für Djukanovic sei. «Sie
glauben, dass
Djukanovic ihren Schutz garantieren kann. Hier haben
alle Angst vor einem
Bürgerkrieg.»
Die Schulen und die Gesundheitsversorgung
funktionieren im Norden
Montenegros immer noch gut. Die montenegrinischen
BosniakInnen geben
gerne zu, dass sie keiner Diskriminierung seitens
des Staates ausgesetzt
sind, im Gegensatz zu den BosniakInnen im Süden
Serbiens. Die
Regierung Djukanovic hat sich offensichtlich
entschieden, diese
Volksgruppe zu unterstützen, was diese mit
politischer Treue lohnt. Die
Gemeinde Plav befindet sich am Rande des Sandschak,
einer Region, die
seit den Balkankriegen von 1912–1913 zwischen
Serbien und Montenegro
aufgeteilt ist. Im gesamten Sandschak stellen die
Muslime rund 55
Prozent der Bevölkerung. Im serbischen Teil nennen
sie sich Bosniaken
und verlangen Autonomie oder gar die Abspaltung. Im
montenegrinischen
Sandschak hingegen versteht sich die Mehrheit als
muslimische
Montenegriner und unterstützt die Unabhängigkeit
Montenegros. Der
Identitätskonflikt macht auch vor den Moscheen nicht
Halt. Auf serbischer
Seite gibt es einen Mufti des Sandschak, dessen
Rechtsprechung von
montenegrinischen Muslimen nicht anerkannt wird. In
Montenegro sind die
Muslime dem Rais ul-Ulema unterstellt, der in der
Hauptstadt Podgorica
residiert. Dass die montenegrinischen Muslime
Djukanovic unterstützen,
stösst bei vielen proserbischen Orthodoxen auf
harsche Kritik; sie erklären
gerne und häufig, dass sich der Präsident nur dank
den muslimischen und
albanischen Minderheiten halten könne. Bozidar
Bojovic, Chef der kleinen
radikalen Gruppierung Nationale Serbische Partei
(SNS), verstieg sich
während des Wahlkampfs für die Parlamentswahlen im
April 2001 sogar
zur Behauptung, dass im Falle einer Unabhängigkeit
Montenegros die
Muslime das Ruder im Land übernehmen würden.
In Trauer vergraben
Murino, wenige Kilometer von Plav entfernt, ist
ausschliesslich orthodox
besiedelt. Hier gingen am 30. April 1999, während
des Nato-Kriegs gegen
Jugoslawien, Bomben auf eine kleine Brücke nieder.
Sechs Menschen
wurden getötet, darunter zwei Jugendliche. Die
DorfbewohnerInnen
vergraben sich bis heute in Trauer und Bitterkeit.
In Murino gibt es nur ein
Café. Geführt wird es von Vesna Kapic, deren Mann
die Räume mit Bildern
des früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan
Milosevic geschmückt
hat. Über der Theke hängt ein Plakat mit der
Aufschrift «Milosevic, komm
zurück!». «Jugoslawien oder Staatenbund Serbien und
Montenegro – der
Name ist unwichtig», sagt Vesna. «Wichtig ist, dass
wir verbunden
bleiben. Montenegro ist serbischer Boden.» Die von
der Nato zerstörte
Brücke ist wieder aufgebaut. Doch die Häuser der
Umgebung weisen nach
wie vor Spuren der Tragödie auf. «Wir haben keinen
einzigen Dinar für die
Renovation erhalten», empört sich Vesna. Sie solle
still sein, mischt sich
ein Kunde ein. «Unser Staat hat gezahlt, was er
konnte.» «Nein», erwidert
Vesna, «unser Staat hat uns bestohlen. Wir leben
elend, aber wir sind
trotzdem für Jugoslawien.»
...
Die Orthodoxen der Region gehören fast alle zum
grossen Clan der
Vasojevici. Montenegro ist im Grunde eine
Stammesgesellschaft, in der
der Clan nach wie vor das politische Stimm- und
Wahlverhalten bestimmt.
Im Süden sind die Clans des «alten Montenegro»
mehrheitlich für die
Unabhängigkeit, während die Vasojevici die
proserbische oder
projugoslawische Option verteidigen. Die
Volkssozialisten (SNP), die
wichtigste Formation der projugoslawischen
Opposition und Begründerin
der Koalition «Zusammen für Jugoslawien», setzen
genau auf diese Karte.
Seit 1999 haben sie regelmässig Stammesversammlungen
einberufen, die
sich jeweils für die Erhaltung des gemeinsamen
Staates aussprachen. Der
Politologe Milan Popovic, selber Angehöriger des
proserbischen Clans der
Kuci, persönlich aber für die Unabhängigkeit, ist
solchen Kundgebungen
gegenüber sehr kritisch. Er bezeichnet sie als eine
groteske Mischung von
prämodernen historischen Formen und moderner
Politik, die dazu benutzt
werde, vom wiederholten Misserfolg der
Volkssozialisten abzulenken. Die
Folklore werde zu politischen Zwecken missbraucht.
Über mangelndes
Interesse an solchen Kundgebungen können sich die
Veranstalter aber
kaum beklagen. In Murino oder Andrijevica geht es
immer dann besonders
hoch zu und her, wenn sich die Menschen am Abend
versammeln, um
Gusla-Spielern zuzuhören, die in Begleitung ihres
traditionellen
Saiteninstruments serbische Heldenlieder zum Besten
geben.
Wirtschaftlich befindet sich der Norden Montenegros
in einer
katastrophalen Lage. Das Elend ist wahrscheinlich
der wichtigste
gemeinsame Nenner aller Bevölkerungsgruppen dieser
Region. Gemäss
Statistiken der Stadtverwaltung von Plav sind 93
Prozent der Bevölkerung
arbeitslos. Eingangs der Stadt steht das grösste
Industriegebäude der
Stadt leer und verlassen. Das Werk stellte
Ersatzteile für die Kühlschrank-
und Waschmaschinenfabrik Obod in Cetinje im Süden
des Landes her, die
ihrerseits vorläufig stillgelegt ist. Dennoch
beherbergt Plav nach wie vor
mehr als 1600 Flüchtlinge: Kosovo-SerbInnen,
BosniakInnen aus dem
Kosovo und vor allem aus Bosnien-Herzegowina, die
auch sieben Jahre
nach Ende des Krieges nicht zurückkönnen. Einige von
ihnen wohnen im
einzigen Hotel der Stadt über dem See: einer
Naturschönheit, die in einer
schon weit entfernt scheinenden Vergangenheit viele
TouristInnen anzog.
Isolation und Exil
Plav ist vom Rest des Landes isoliert. Besonders
spüren dies die
muslimischen SlawInnen und die AlbanerInnen, da die
einzige Strasse, die
die Region mit dem Rest des Landes verbindet, durch
orthodoxes Gebiet
führt. Hoch über das nahe Gusinje, auf 2600 Meter
Höhe, ragen die Gipfel
der Verfluchten Berge, welche die Grenze zu Albanien
bilden. Früher
waren Plav und der nahe kleine Marktflecken Gusinje
Etappenorte für die
Karawanen auf dem Weg zwischen der Hafenstadt
Dubrovnik und Istanbul.
Heute existiert zwar ein Projekt für eine direkte
Verbindung zwischen Plav
und der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica, aber
diese Achse würde
Albanien durchqueren, und Belgrad hat sich bisher
der Öffnung dieser seit
1918 geschlossenen Grenze widersetzt. Vielen schien
das Exil der einzige
Ausweg. Allein in New York leben 25 000 Menschen,
die aus Plav
stammen.
«Die Menschen leben seit Jahrhunderten zusammen,
aber jeder beharrt
auf seiner Identität, auf den Unterschieden
gegenüber dem anderen», sagt
der Französischprofessor Dusica Matic über die
nordmontenegrinische
Gesellschaft. «Der Norden ist ein Pulverfass. Wenn
die Verhandlungen
über die künftige Staatsform scheitern, braucht es
nur noch sehr wenig,
bis die ganze Region in Flammen steht.» ... «Was in den politischen Debatten
zum Vorschein
kommt, ist nichts anderes als der Ausdruck von
Ängsten und
Frustrationen jeder Volksgemeinschaft», sagt Rasim
Gacevic, Präsident
der lokalen Sektion der Liberalen, die sich radikal
für die Abspaltung von
Serbien einsetzen.
Noch vor zwei Jahren schien Montenegro kurz vor der
Unabhängigkeit zu
stehen. Doch die internen Spaltungen und
Widersprüche der
montenegrinischen Gesellschaft haben diesen Sprung
ins Unbekannte
verhindert. Auch die Lokalwahlen vom 15. Mai haben
keine wesentlichen
Veränderungen der Kräfteverhältnisse gebracht. Die
Koalition um
Djukanovic ist zwar gestärkt daraus hervorgegangen,
ist aber nach wie vor
tief gespalten. Die projugoslawische Opposition
spürt nach dem
Abkommen über den neuen Staatenbund einigen Aufwind,
kann sich aber
nicht durchsetzen. Das aktuelle Dilemma Montenegros
lässt sich wie folgt
zusammenfassen: Ein klarer Kurs Richtung
Unabhängigkeit ist unmöglich,
gleichzeitig lassen die Frustrationen, die durch die
Aufrechterhaltung des
Status quo entstehen, das Schlimmste befürchten.
Diese Frustrationen
sind auch wirtschaftlicher Natur. Und das Abkommen
von Belgrad mit all
seinen Unklarheiten, Widersprüchen und der
Zementierung des Status quo
ist einer Gesundung der Wirtschaft nicht gerade
förderlich.
Aus: WoZ, 30. Mai 2002
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