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Der Kosovo-Knoten

Die NATO setzt die Zerstückelung des Balkans fort

Von Juli A. Kwizinski*

Dieses Jahr kann zum Scheidepunkt werden, hinter dem die Wiege der serbischen Staatlichkeit, das Kosovo, aufhört ein Teil Serbiens zu sein. Ihm soll ein weiteres Stück seines Territoriums entrissen werden, was seit langem das Anliegen der Deutschen, Italiener, Kroaten und Ungarn mit Unterstützung Washingtons und seines britischen Pudels ist. Für den Anfang soll das Kosovo ein selbstständiger albanischer Staat werden.

Seit 1999 ist das Kosovo von NATO-Truppen okkupiert, was nicht ohne Beihilfe des Jelzinschen Russlands geschah. Den Freund Serbiens mimend, hat der Kreml in den 90er Jahren Mal für Mal die Aufträge seiner NATO-Freunde erfüllt, indem Belgrad zu Zugeständnissen an den Westen gedrängt und es abgelehnt wurde, moderne Verteidigungswaffen zu liefern, womit Milosevic die Hände gebunden wurden. Zugleich beteiligte sich Russland gemeinsam mit der NATO an "friedenschaffenden Missionen" auf dem jugoslawischen Territorium. In Moskau war man so naiv, davon auszugehen, dass es dem neoliberalen Russland erlaubt sein würde, als Dank für den Verrat, sich diese oder jene Positionen auf dem Balkan zu bewahren. Das Ergebnis dieser Politik war jedoch der Verlust aller Positionen, die dort einst das zaristische Russland und die UdSSR hatten. Die Stimme Russlands in diesem außerordentlich wichtigen strategischen Gebiet ist noch schwächer als ein Piepsen geworden. Niemand hört sie, niemand schenkt ihr Aufmerksamkeit. Die Mitwirkung bei der Errichtung prowestlicher Regime auf dem Balkan hat dem Prestige Russlands schweren Schaden zugefügt, der im Verlauf vieler Jahrzehnte kaum zu überwinden sein wird.

Separater Kosovo-Staat geplant

Hinter den Kulissen der NATO und der EU wird heute immer nachdrücklicher der Standpunkt vertreten, dass die gegenwärtige unentschiedene Lage des Kosovo nicht länger beibehalten werden kann. Bekanntlich hat die Resolution Nr. 1244 des UNO-Sicherheitsrats völlig unmissverständlich "die Achtung der Souveränität und territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien", die das Kosovo einschließt, "durch alle Mitgliedstaaten der UNO" bekräftigt. Aber gerade das gefällt den heutigen Führern des Kosovo und ihren Schirmherren von der NATO und EU nicht. Sie möchten das Kosovo von Serbien abtrennen. Zu diesem Zweck wollte man von Anfang an den Abschnitt 11c der Resolution instrumentalisieren, in dem von einem "auf die Entscheidung des künftigen Status des Kosovo gerichteten politischen Prozess unter Beachtung der Übereinkunft von Rambouillet" die Rede ist. In Rambouillet wurde jedoch unter Teilnahme des Außenministeriums der Russischen Föderation eine Falle für die Serben aufgestellt, die einen "Mechanismus der endgültigen Regelung im Kosovo auf der Grundlage der Willensäußerung des Volkes" vorsah.

Es schien, dass dies dennoch den Westen nicht daran hindern sollte, auch weiterhin die Resolution Nr. 1244 und die Vereinbarung von Rambouillet als vertragliche Grundlage für einen besonderen autonomen Status des Kosovo im Bestand Serbiens zu verstehen und daran zu gehen, die Lage dort zu normalisieren. Wie sollte sonst die "Beachtung" der Integrität Jugoslawiens gewährleistet werden? Aber so war es nicht. Der Westen zieht den Standpunkt vor, der Beschluss des UN-Sicherheitsrats gebe keine eindeutige Antwort hinsichtlich der Souveränität Jugoslawiens im Kosovo. Und insofern Belgrad in früheren Jahren den Albanern Böses angetan habe, müsse es jetzt das Recht verlieren, dieses Gebiet zu regieren. Nach einer gewissen Übergangsperiode solle der Status des Gebiets im Ergebnis eines dort zu entwickelnden "politischen Prozesses" entschieden werden.

Mit dem Segen des Westens hat sich dieser Prozess in all den Jahren in eine vollkommen eindeutige Richtung entwickelt. Die Macht wurde den Freischärlern der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) übergeben, die im Kosovo ein Terrorregime errichteten und die Kriminalität förderten. Die serbische Bevölkerung wurde seit 1999 systematisch aus dem Kosovo vertrieben. Ihr Land und ihr Eigentum wurden von Albanern geraubt. Die Stätten serbischer Kultur wurden geplündert und geschändet, ihre Schulen, Klöster und Kirchen wurden zerstört und niedergebrannt, die serbische Sprache wurde praktisch verboten. 2004 wurde ein mittelalterliches Pogrom mit dem Ziel inszeniert, die serbische Bevölkerung zum Verlassen des Gebiets zu zwingen. Unter Nachsicht der "Friedensschaffer" ist das Kosovo heute im Wesentlichen von Serben "gesäubert". Offensichtlich befördert das die Aufrufe, jetzt so schnell wie möglich seinen endgültigen Status zu entscheiden.

Warum haben es EU und NATO so eilig?

Warum haben es die EU und die NATO so eilig? Vor allem sind sie gezwungen, ihre Ressourcen auf den Irak und Afghanistan zu konzentrieren. Nicht im Kosovo, sondern dort benötigen sie dringend Soldaten und Geld. Deshalb wird in den Stäben der Bündnisse darauf gedrängt, sich von den Bindungen im Kosovo zu befreien, wobei man den Abzug anstandshalber mit neuen Vereinbarungen und Beschlüssen im Rahmen der UNO bepudern möchte, die den Albanern die Verantwortung übertragen sollen, künftig selbst die Probleme des Gebiets und die Beziehungen zum benachbarten Jugoslawien zu regeln. Diese Stimmungen werden von den Albanern angeheizt, die damit drohen, neue Pogrome zu veranstalten und sogar militärisch gegen die KFOR vorzugehen, wenn das Kosovo nicht bis Ende dieses Jahres endgültig von Serbien abgetrennt wird.

Eine solche Entwicklung gefällt weder der EU noch den USA. Ist ihre Kontrolle über das Kosovo doch ziemlich bedingt. Sie sind sich durchaus bewusst, dass sie mit einer albanischen Revolte nicht fertig würden. Unter dem Druck albanischer Aufständischer abzuziehen wäre allerdings irgendwie anstößig. Die Serben um Hilfe zu bitten, was übrigens im Rahmen der oben genannten Entscheidungen der UNO und der Vereinbarungen von Rambouillet sehr wohl möglich wäre, hieße das Fiasko der ganzen Operation gegen Serbien anzuerkennen. Und es wäre eine große Frage, ob die Serben bereit wären, dem NATO-Aggressor zu helfen, der sich in der Kosovo-Falle verfangen hat.

Das zwingt dazu, nach einem Weg zu suchen, der es erlaubt, sich aus dem Kosovo zurückzuziehen ohne endgültig die Kontrolle über dieses Gebiet zu verlieren. Der Westen kann nicht zulassen, dass auf dem Balkan jene wackelige Konstruktion zerstört wird, die er dort mit Hilfe von Bomben und Bajonetten, mit Erpressung und Betrug errichtet hat. Darum werden neue Vereinbarungen geplant, Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats und auch innere "staatliche Akte" im Kosovo. Das Ziel wird kaum verborgen. Grob gesagt läuft es darauf hinaus, nicht zuzulassen, dass das Kosovo im Bestand Serbiens verbleibt, eine Teilung des Gebiets entlang der ethnischen Grenze zwischen Serben und Albanern zu verhindern und sich der Verpflichtung durch die Führer des Kosovo zu versichern, das Gebiet nicht Albanien anzuschließen. Man beabsichtigt diese dreifache Aufgabe dadurch zu lösen, dass die Unabhängigkeit des Kosovo erklärt wird.

Der Westen versteht, dass es ihm nicht leicht fallen wird, diese Wende zu vollziehen. Vor allem steht ihm allein nicht das Recht zu, den Status des Kosovo zu entscheiden. Die UNO-Resolution wurde nicht vom Westen beschlossen, sondern vom UN-Sicherheitsrat, und nur ihm steht es zu, eine Entscheidung über einen unabhängigen oder einen anderen Status des Kosovo zu treffen. Die Chance, den Sicherheitsrat zu "überreden", ist jedoch nicht sehr groß. Scharfer Widerstand wird von den Serben kommen. Möglich ist, dass Russland nicht zustimmen wird. Wahrscheinlich wird China Widerstand leisten. Deshalb bereitet man sich im Westen von vornherein darauf vor, die Pläne - wenn erforderlich - auch ohne den UN-Sicherheitsrat, ohne Serbien und Russland zu verwirklichen. Die irakische Erfahrung und die Erfahrungen mit der Bombardierung Jugoslawiens verführen zu immer neuer Umgehung und Verletzung des Völkerrechts.

Das Handlungsschema

Es ist heute schwierig, das Handlungsschema ausführlich vorherzusagen, das der Westen letztendlich wählen wird. In dieser Hinsicht gibt es dort nicht wenig Meinungsstreit. Zu viele Risiken lassen sich nicht genau abschätzen. Aber die Rede ist davon, die "Kontaktgruppe" aus sechs Staaten (unter Teilnahme Russlands) anzuregen, in Bälde einen Zeitplan zur Entscheidung des Kosovo-Status´ vorzulegen. Danach soll mit Unterstützung der UNO oder in ihrem Namen der Textentwurf einer Vereinbarung über das Kosovo vorbereitet und mit Hilfe des kosovarischen Gebietsparlaments der Entwurf einer Verfassung des Kosovo erarbeitet werden. Beide Dokumente sollen dann auf einer internationalen Konferenz unter der Ägide der UNO Ende dieses Jahres bestätigt werden. Die Verfassung des Kosovo könnte danach durch ein Referendum und die internationale Übereinkunft durch den UN-Sicherheitsrat bestätigt werden. Bei einem günstigen Verlauf dieses Prozesses wäre es möglich, schon im Sommer nächsten Jahres das Kosovo zu einem selbstständigen Staat zu erklären.

Es ist nicht sehr schwer, sich vorzustellen, womit die Verwirklichung dieses Schemas endet. Der Übergang der ganzen Machtfülle in die Hände der Freischärler im Kosovo - unter Bedingungen da die Wirtschaft des Gebiets faktisch paralysiert ist, bei massenhafter Arbeitslosigkeit, übermächtiger Kriminalität und Klanherrschaft, einem nichtarbeitsfähigen Parlament usw. usf. - wird aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass das Kosovo sich schnell in eine Art Geschwür am Körper Europas verwandeln wird, in eine Brutstätte des islamistischen Extremismus, des Drogen- und Sklavenhandels. Die Hoffnungen, dass das Kosovo nicht danach streben wird, sich Albanien anzuschließen, sind naiv. Ebenso naiv ist es darauf zu hoffen, dass es möglich sein könnte auch nur einigermaßen zuverlässig die gesetzmäßigen Rechte der Serben im Norden des Kosovo zu gewährleisten. Am ehesten wird die Unabhängigkeitserklärung als Signal dienen für neuen Raub und die endgültige "ethnische Säuberung". Es ist kaum zu erwarten, dass Serbien - und besonders seine bewaffneten Organe - dem ruhig zusehen werden.

Wahrscheinlich stellt man sich all das auch im Westen klar genug vor. Es sieht allerdings so aus, dass man dort im Interesse eines mächtigen albanischen Gegengewichts gegen den serbischen und überhaupt den slawischen Faktor auf dem Balkan - den man in den westlichen Hauptstädten traditionell immer als Boden für einen "übermäßigen" russischen Einfluss in dieser Region verstanden hat - bereit ist, ein neues Aufflammen der Spannungen hinzunehmen.

Bezeichnend für die heutige Position des Westens ist, dass man dort nicht bereit ist, die Kompromissvorschläge Belgrads zu betrachten, die darauf hinauslaufen, die nördlichen serbischen Regionen im Kosovo faktisch abzutrennen und die Möglichkeiten der künftigen Regierung des Kosovo, sich in deren Angelegenheiten einzumischen, auf ein Minimum zu beschränken bzw. auf die Vereinigung dieser Regionen mit Serbien. Die Gründe dafür, dass man diese Vorschläge nicht zur Kenntnis nehmen will, liegen darin, dass eine solche Variante zum Signal für eine Korrektur der Grenzen auf dem Balkan nach ethnischen Kriterien werden kann. Die Existenz des multinationalen Bosnien und Herzegowina sowie des heutigen Mazedonien könnte in Frage gestellt und die Hoffnung Belgrads auf die Wiedervereinigung mit der Republik Srbska belebt werden usw. Das Konstrukt, das die NATO und die EU auf dem Balkan auf den Ruinen Jugoslawiens zusammengezimmert haben, könnte bedroht und folglich auch eine Gefahr für die Positionen des Westens in dieser strategisch wichtigen Region heraufbeschworen werden.

Die russische Position

Die Pläne für eine Unabhängigkeit des Kosovo wurden bis in die jüngste Zeit hinein durch die Hoffnung unterfüttert, dass Belgrad sich letztendlich mit dem Unvermeidlichen abfinden müsse. Wäre dies der Fall, würde man auch im Kreml erleichtert aufatmen und sich natürlich beeilen, seine US- und NATO-Freunde zu unterstützen. Um Belgrad weich zu klopfen, wurde ihm mit dem Zuckerl einer Aufnahme in die EU der Mund wässrig gemacht. Doch nach den Referenden in Frankreich und den Niederlanden hat das Zuckerl seine Verführungskraft eingebüßt. Vermindert hat sich auch die Selbstsicherheit bei den Anhängern einer Unabhängigkeit des Kosovo. Sie müssen Varianten durchspielen für den Fall, dass ihre Pläne auf starken Widerstand stoßen. Aber sie sind auch bereit, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.

Am 3. Juni 2004 bei einem Treffen mit dem serbischen Ministerpräsidenten Kostunica in Sotschi erklärte der russische Präsident hinsichtlich des Kosovo: "Wir haben unser Militärkontingent von dort nicht deshalb abgezogen, weil uns alles gleichgültig ist was im Kosovo passiert ... Sondern darum, weil die Anwesenheit unseres Kontingents, das nichts entscheidet und auf nichts Einfluss nehmen kann, sinnlos ist. Im Kosovo verändert sich die Situation in eine Richtung, die wir für falsch halten."

Heute ist klar, dass Putin die Sache richtig erkannt hatte. Die jugoslawische Tragödie hat uns doch einiges gelehrt. Jedenfalls reichen bisher Verstand und Charakter um keine Truppen in den Irak und nach Afghanistan zu entsenden und nicht zum Handlanger der amerikanischen Strafkommandos zu werden, die versuchen die nationale Befreiungsbewegung im Nahen Osten und in anderen Weltregionen zu ersticken. Werden Verstand und Charakter ausreichen, gegen die Pläne der Abtrennung des Kosovo von Serbien aufzutreten, eine prinzipielle Position im UN-Sicherheitsrat bezüglich der geplanten internationalen Konferenz einzunehmen? Wir werden sehen.

Für Russland ist die Kosovo-Frage hinsichtlich der Lage auf dem Territorium der GUS von besonderem Interesse. Der Versuch, entgegen der Resolution des UN-Sicherheitsrats und der Vereinbarung von Rambouillet, die die Achtung der territorialen Integrität Jugoslawiens vorschreiben, die Unabhängigkeit des Kosovo zu verkünden, würde eine Begründung dafür darstellen, die Frage einer Anerkennung solcher bereits seit langem faktisch selbstständigen Gebilde wie Abchasien, Südossetien, Transnistrien u.a. auf neue Weise zu betrachten. Die Argumente der Gegner einer solchen Herangehensweise, die sich darauf berufen, dass in den Dokumenten des UN-Sicherheitsrats hinsichtlich Georgiens und anderer ehemaliger Republiken der UdSSR die Notwendigkeit der Lösung von Konflikten bei Beibehaltung der Grenzen der entsprechenden Staaten unterstrichen werde, verlieren ihre Überzeugungskraft. Der Westen schickt sich an, dies bezüglich des Kosovo zu ignorieren. Doch was in diesem Fall der NATO und der EU erlaubt ist, muss auch anderen erlaubt sein.

(Übersetzung: Willi Gerns)

* Der Beitrag des ehemaligen Botschafters der UdSSR in der Bundesrepublik Deutschland und heutigen Duma-Abgeordneten der KPRF, J. A. Kwizinski, wurde zuerst in der "Sowjetskaja Rossija" vom 21. Juni veröffentlicht.

Aus: unsere zeit, 22. Juli 2005



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