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Moskaus Potential

Jahresrückblick 2013. Heute: Rußland. Die westliche Feindseligkeit gegenüber Putins eurasischem Großstaat hat einen neuen Höhepunkt erreicht

Von Werner Pirker *

Wladimir Putins in der vergangenen Woche gehaltene Rede an die Nation erinnerte ein wenig an die Parteitagsreden einstiger KPdSU-Generalsekretäre. Er benannte die Systemschwächen, ließ aber kaum Ansätze zu ihrer Überwindung erkennen. Rußlands neuer Kapitalismus leidet wie der untergegangene Staatssozialismus an seinen bürokratischen Deformationen. Und wie in der Endphase der Sowjetunion ist auch gegenwärtig von einer Stagnationsperiode die Rede.

Die dem Staatschef im Georgjewski-Saal des Moskauer Kreml Beifall klatschten, werden auch weiterhin eine Barriere gegen ernsthafte Veränderungen bilden. Das russische Kapitalismusmodell ist nach wie vor von einem parasitären Etatismus gekennzeichnet: korrupte Staatsbeamte wirtschaften in Symbiose mit den Oligarchen den Staat in die eigene Tasche. Putin nannte in seiner Rede erstmals innere Faktoren als Hauptursache für den Wirtschaftseinbruch. Dazu gehöre die Neigung russischer Unternehmen, Firmen auf Offshore-Inseln anzumelden, um sich so Steuerzahlungen in Rußland zu ersparen. Nach Putins Vorstellungen sollen in Offshore-Zonen registrierte Unternehmen keine staatlichen Unterstützungen und keine staatlichen Aufträge mehr erhalten.

Der Präsident beklagte in seiner Rede auch die mangelhafte Umsetzung seiner Verordnungen zu sozialen Reformen. Sie seien entweder so umgesetzt worden, daß dies zu einer negativen Reaktion in der Bevölkerung geführt habe, oder sie seien überhaupt nicht umgesetzt worden. Die negative Reaktion dürfte indes nicht nur auf bürokratische Willkür zurückzuführen sein, sondern vor allem darauf, daß Putin und die Seinen einem neoliberal geprägten Reformverständnis anhängen, es sich somit um Gegenreformen handelt.

In Zeiten hoher Rohstoffpreise profitierten auch die breiten Volksmassen ein wenig vom russischen Renten-Kapitalismus. Doch die soziale Offensive, die sie erwartet hatten, blieb aus. In der gegenwärtigen Periode des wirtschaftlichen Niedergangs wird die soziale Misere besonders spürbar. Doch noch halten die sozial unterprivilegierten Klassen still. Daß sie nicht bereit sind, sich dem Mittelschichten-Protest anzuschließen, hat weniger mit einer demütigen Hinnahme sozialer Unzumutbarkeiten oder Anhänglichkeit gegenüber Putin zu tun, als damit, daß sie die »liberale Alternative« noch wesentlich mehr verabscheuen als den Putinschen Autoritarismus. Denn mit dem Liberalismus verbinden sie zu Recht die wilden Privatisierungen im Jelzinschen Jahrzehnt sowie die gewaltsame Ausschaltung des authentischen russischen Parlamentarismus im September/Oktober 1993.

Der Mittelschichten-Protest hat 2013 nicht den Aufschwung erlebt, den sich seine westlichen Sponsoren erhofft hatten. Auf sich allein gestellt, ohne Verbindung zu einer breiten sozialen Protestbewegung, verfügt er nicht über das Potential, einen Regimewechsel zu erzwingen. Die weitgehende Absenz der sozialen Frage ergibt sich nicht nur aus der »Ignoranz« der subalternen Klassen gegenüber den Befindlichkeiten einer »aufgeklärten Zivilgesellschaft«, sondern auch aus dem Bemühen der liberalen Anführer, den Protest nicht mit sozialen Themen zu »belasten«.

Für große Aufregung im Westen sorgte der Prozeß gegen die Pussy-Riot-Aktivistinnen, die für ihre an Putin und die russisch-orthodoxe Kirche gerichteten Verwünschungen unangemessen hohe Gefängnisstrafen erhielten. Das russische Politestablishment bedient mit seiner engen Bindung an die Kirche eine konservative und antiliberale Grundstimmung in der Bevölkerung. Dem Kreml geht es vor allem auch darum, das nach dem Zusammenbruch des Sozialismus entstandene Wertevakuum aufzufüllen. Die russische Orthodoxie hat als »führende geistige Kraft« gewissermaßen die führende Rolle der marxistisch-leninistischen Ideologie übernommen, die wiederum in ihrer ritualisierten Form eine Art Religionsersatz dargestellt hat, was der Bezeichnung »orthodoxer Kommunismus« nachträglich einen tieferen Sinn verleiht. Von seiten des Klerus und der ideologischen Staatsapparate gibt es deshalb Bestrebungen, die russische Orthodoxie als Staatsreligion festzuschreiben, was den säkularen Charakter der 1993 per Referendum verabschiedeten Verfassung, die den Staat zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, aufheben würde.

Die Sowjetunion gibt es seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr, der Antisowjetismus, der stets auch als rassistischer Russenhaß sein Unwesen trieb, aber hat sich in seinen Stereotypen immer noch nicht überlebt. Das postsowjetische Rußland erscheint als das genaue Gegenbild zum Gesellschaftsmodell der westlichen Moderne. Wobei gewisse von Moskau getroffene Entscheidungen, wie die Kriminalisierung »homosexueller Propaganda«, auch tatsächlich äußerst anachronistisch anmuten.

Die westlichen Hommagen an das »neue Rußland« sind längst verklungen. Die Feindseligkeit gegenüber dem eurasischen Großstaat hat 2013 einen neuen Höhepunkt erreicht. Wie zu den Hochzeiten des Kalten Krieges wird das »Moskowiterreich« inzwischen als geopolitischer Hauptgegner wahrgenommen. Und in der Tat hat sich Putins Rußland als ein beträchtliches Hindernis für die expansionistische Politik der Wertegemeinschaft herausgestellt. Moskau und in seinem Gefolge auch Peking wollten im UNO-Sicherheitsrat nicht noch einmal die Rolle von nützlichen Idioten bei der Durchsetzung der imperialistischen Kriegspolitik spielen. 2011 hatten die beiden Staaten die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen nicht mit ihrem Veto blockiert und dann zusehen müssen, wie die westlichen Interventen das UN-Mandat zur gewaltsamen Erzwingung eines Regimewechsels nutzten, in dessen Folge die libysche Staatlichkeit erodierte. In der Syrien-Frage wollten sich Rußland und auch China nicht noch einmal über den Tisch ziehen lassen.

Moskau legte von Beginn an all seine diplomatischen Mittel in die Waagschale, um ein Ende des syrischen Blutvergießens herbeizuführen. Das wurde von den Westmächten als bösartige Sabotage ihrer Bemühungen beklagt, einem »blutrünstigen Diktator« in seinem »Krieg gegen das eigene Volk« Einhalt zu gebieten. In Wahrheit hat allein die politische und militärische Unterstützung der syrischen Rebellen durch die NATO und die arabische Reaktion den syrischen Konflikt am Kochen gehalten. Das Unternehmen »Regimewechsel in Damaskus« ist inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Es war die russische Diplomatie, die den USA, deren Streitkräfte schon auf dem Sprung nach Damaskus waren, vor einem von der Bevölkerung und der Kongreßmehrheit nicht gewünschten Krieg mit unbekannten Ausgang bewahrt hat. Die von Sy­rien durchgeführte Vernichtung seiner Chemiewaffenbestände, die auf eine von Washington aufgegriffene russische Initiative zurückgeht, hat maßgeblich zur Deeskalation der Situation in der Region beigetragen. Moskau ist damit der Beweis gelungen, daß eine grundsätzliche Alternative zur westlichen Gewaltdiplomatie möglich ist.

Rußland hat damit aber auch sein Potential als Großmacht offengelegt. Das erklärt unter anderem auch das offenkundige Bestreben Washingtons und Brüssels, dem russischen Rivalen im Kampf um die Ukraine eine demütigende Niederlage zuzufügen. Die Dreistigkeit, mit der sich die USA und die EU, und hier vor allem Berlin, in ukrainische Angelegenheiten einmischen und die ehemalige Sowjetrepublik der eigenen Hegemonialsphäre zuordnen, ist nahezu atemberaubend. Vor allem in Deutschland wird das antirussische Ressentiment auf eine Art bedient, wie das an die schlimmsten Zeiten in den deutsch-russischen Beziehungen erinnert.

* Aus: junge Welt, Freitag, 20. Dezember 2013


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