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"Reset" bringt Russland und USA weiter voran

Von Wladimir Jewsejew, RIA Novosti *

Bei den Verhandlungen zwischen dem russischen Präsidenten Medwedew und seinem US-Amtskollegen Obama stand die Wirtschaft im Mittelpunkt.

Das ist kein Zufall, denn ein wirtschaftliches Fundament verleiht den Beziehungen die nötige Stabilität. Die Möglichkeiten, das Kooperationspotenzial in konkrete Ergebnisse umzumünzen, steigen abhängig von den Forschritten beider Länder bei der Überwindung der Finanzkrise. Auch die weitere Annäherung zwischen Moskau und Washington im militärpolitischen Bereich fördert die wirtschaftlichen Beziehungen.

US-Vizepräsident Joe Biden bezeichnete diese Annäherung bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2009 als „Reset" und läutete damit eine neue Phase ein. Bereits im April desselben Jahres erlaubte Russland den Transit von nichtmilitärischen US-Gütern nach Afghanistan. Binnen neun Tagen werden per Eisenbahn Güter vom Ostseehafen Riga über Russland und Kasachstan ins usbekische Termiz an der Grenze zu Afghanistan gebracht. Gegenwärtig werden 25 Prozent aller nichtmilitärischen US-Güter über diese sichere Route nach Afghanistan transportiert.

Beim Moskauer Gipfeltreffen im Juli des Vorjahres erlaubte Dmitri Medwedew den USA, den russischen Luftraum für Nachschubtransporte (Truppen und militärische Güter) nach Afghanistan zu nutzen. Das entsprechende Abkommen sieht bis zu 4500 Flügen im Jahr vor, wodurch Washington etwa 133 Millionen Dollar einspart. Selbst ohne die vollständige Nutzung der im Abkommen vorgesehenen Möglichkeiten dient dieser Luftkorridor als wichtige Ersatzroute, die die vorhandenen Transportkorridore ergänzt.

Gleichzeitig ist die russische Hilfe für die US-Truppen in Afghanistan ziemlich begrenzt. Während der Aufstockung der am Hindukusch stationierten Soldaten um 47 000 Mann ist sie sehr wichtig, weil es in Afghanistan weder Eisenbahnen noch einen Zugang zum Meer gibt, die Berge schwer passierbar sind und die Transportkolonnen ständig von den Taliban angegriffen werden. Doch das reicht nicht mehr aus, vor allem im Hinblick auf den feststehenden Abzug der US-Truppen ab dem Juli 2011.

Es gibt noch ein viel diskutiertes Problem. Washington ist noch nicht bereit, die Opiummohnfelder zu vernichten, weil die Afghanen keine anderen Existenzmittel haben. Die US-Bemühungen zur Zerschlagung der Drogenschmuggelkanäle, der Drogenlabore und des Handels mit Opiumerzeugnissen und Ausgangsstoffen zur Herstellung von Heroin sind aber nicht effizient genug. Die Operation der Koalitions- und afghanischen Truppen in der Provinz Helmand im Februar und die im Juni gestartete Offensive in der Provinz Kandahar führen nur zur Verdrängung der Taliban. Dadurch entsteht die Illusion eines Sieges.

Wahrscheinlich werden die USA nicht imstande sein, die neue Afghanistan-Strategie, die Obama am 1. Dezember 2009 in der Militärakademie in West Point vorstellte und die zu den Prioritäten der US-Administration zählt, zu verwirklichen. Ein indirekter Beweis dafür ist die Entlassung von General Stanley McChrystal, der zuvor die Internationalen Schutztruppen (ISAF) und die US-Truppen in Afghanistan befehligte.

Es wäre naiv zu denken, dass McChrystal mit seinen großen Erfahrungen bei Sonderoperationen im Nahen und Mittleren Osten bei einem Interview mit dem „Rolling Stone"-Magazin sich nicht hätte zurückhalten können. Es ist viel wahrscheinlicher, dass er sich absichtlich scharfe Kritik gegen Obama äußerte, weil bei ihm die Überzeugung gereift ist, dass die neue Strategie nichts bewegen wird.

Russland bemüht sich dabei, sich möglichst aus dem Afghanistan-Einsatz der Koalitionstruppen herauszuhalten. Es hat bereits sehr negative Erfahrungen mit seiner Militärpräsenz in Afghanistan gemacht und ist nicht sicher, dass sich der Konflikt mit Gewalt lösen lässt. Dennoch könnte Moskau den Koalitionskräften unentgeltlich einige Hubschrauber bereitstellen und sich verpflichten, alle verwendeten Waffen und Maschinen aus sowjetischer und russischer Herstellung zu warten und mit Ersatzteilen zu versorgen.

Es gibt auch offene Fragen und Missverständnisse über den Wiederaufbau der industriellen Infrastruktur Afghanistans, um das Land zu stabilisieren und die Drogenproduktion einzudämmen. Zurzeit ist das nur im relativ ruhigen Nordafghanistan auf Grundlage gleichberechtigter Beziehungen möglich.

Ein weiterer Beweis für den Willen zum Neuanfang ist die Unterzeichnung des neuen Abrüstungsvertrags (neuer START-Vertrag) Anfang April in Prag. Im Grunde handelt es sich nur um eine erweiterte Version des Moskauer SORT-Abkommens von 2002. Laut dem neuen Vertrag wird die Zahl der Sprengköpfe und der strategischen Träger reduziert. Auch die Richtlinien bei der Zählung der Sprengköpfe wurden verändert. Mehr oder weniger handelt es sich um eine scheinbare Abrüstung. Doch die Rolle des in Prag unterzeichneten START-Vertrags darf nicht unterschätzt werden, weil die gegenseitigen Inspektionen und Benachrichtigungen erhalten bleiben. Dadurch kann die hohe Transparenz in den Russland-USA-Beziehungen bei den strategischen Nuklearwaffen bewahrt werden.

Auf einer Pressekonferenz in Washington verriet Obama, dass beide Staaten die strategischen Offensivwaffen weiter abbauen wollen. Konkrete Schritte lassen sich vorläufig kaum voraussagen, doch in Frage kommt die Reduzierung der Zahl der einsatzbereiten Sprengköpfe auf 1000 bis 1200.

Das wäre durchaus möglich, weil strategische Waffenträger allmählich für konventionelle Waffen umgebaut werden und weil die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs zwischen den USA und Russland gleich Null ist. Aber diese Reduzierung erfordert eine allmähliche Miteinbeziehung Großbritanniens, Frankreichs und Chinas in den nuklearen Abrüstungsprozess. Außerdem müssen die Aktivitäten bei der Raketenabwehr koordiniert werden.

Natürlich haben Russland und die USA einen großen Vorsprung gegenüber anderen Ländern nach der Zahl der strategischen Atomwaffen, vor allem dank der Möglichkeit, ihre Langstreckenträger schnell mit eingelagerten Atomsprengköpfen umrüsten zu können. Deshalb sollten Moskau und Washington für die Einbeziehung Londons, Paris' und Pekings in diesen Prozess folgende Schritte machen: sich zur Erhaltung bzw. Kürzung ihres Atomwaffenarsenals zu verpflichten, die Produktion von waffenfähigem Uran einzustellen und jegliche Raketentests rechtzeitig anzukündigen. Darüber hinaus sollten Washington und Peking schnellstmöglich den Kernwaffenteststopp-Vertrag ratifizieren, der zu den wichtigsten Faktoren zur Eindämmung der nuklearen Weiterverbreitung gehört. Dies alles könnte das gegenseitige Vertrauen der Atomgroßmächte merklich fördern.

Die Raketenabwehr-Frage, die unmittelbar mit der Atomabrüstung verbunden ist, ist aber viel komplizierter und kann nicht schnell gelöst werden. Vor dem russisch-amerikanischen Gipfel hatte Obama für ein Zusammenwirken mit Russland bei der Entwicklung der Raketenabwehrsysteme plädiert. Nach seinen Worten hätte ein solches gemeinsames System ein Riesenpotenzial, das auf dem Technologie- und Informationsaustausch zur Vorbeugung gemeinsamer Raketengefahren basieren würde.

Der US-Präsident bot dem Kreml mehrere Varianten an, um die Kooperation auf diesem Gebiet zu beginnen und sicherte zu, dass amerikanische Raketenabwehrsysteme in Europa nicht gegen Russland gerichtet sein werden. Ausgerechnet in diesem Kontext sollte auch die nach dem Treffen veröffentlichte Erklärung der beiden Präsidenten über strategische Stabilität bewertet werden.

Medwedew und Obama haben wahrscheinlich über Wege zum Aufbau eines gemeinsamen Raketenabwehrsystems gesprochen, wollen das aber angesichts der Ratifizierung des neuen START-Vertrags im US-Senat vorläufig nicht bekannt geben. Die Demokraten haben im Senat keine Mehrheit, das Weiße Haus muss die Kritik der republikanischen Senatoren beim Thema Raketenabwehr berücksichtigen.

Washington kann die Diskussion über den Installierung des US-Raketenschilds, darunter in Europa, sowohl aus innenpolitischen Gründen als auch mit Rücksicht auf die früher übernommenen Verpflichtungen gegenüber der Nato nicht verschieben. Iran baut recht schnell sein Raketenarsenal aus und betreibt zugleich eine provokative Außenpolitik, während das wahre Ziel seines Atomprogramms nach wie vor unklar bleibt.

Durch alle diese Faktoren entsteht eine echte Raketengefahr, gegen die man lieber gemeinsam kämpfen sollte - und zwar mit Rücksicht auf die geographisch günstige Stationierung von russischen Radaranlagen in Gabala (Aserbaidschan) und Armawir (Region Krasnodar) sowie auf die besseren technischen Eigenschaften der russischen Luftabwehrraketen SS-400 Triumph gegenüber ähnlichen US-Raketenabfangsystemen.

Der „Neustart" in den russisch-amerikanischen Beziehungen geht also weiter, obwohl dieser Prozess bisweilen ins Stocken gerät. Zu einem deutlichen Beweis für die militärpolitische Kooperation zwischen beiden Ländern könnte Russlands Beteiligung am Aufbau des globalen Raketenabwehrsystems werden. Für Moskau handelt es dabei um eine Schlüsselfrage, weil es jedes Raketenabwehrsystem in Europa ohne seine Teilnahme als potenzielle Gefahr betrachten wird.

Ohnedies wären auch keine Forschritte mehr nach dem in Prag unterzeichneten neuen START-Vertrag möglich. Nur ein gemeinsames Raketenabwehrsystem könnte die Spannung abbauen, die derzeit zwischen Russland und manchen ost- und mitteleuropäischen Staaten besteht. Anderenfalls ist eine neue Krise zwischen Russland und dem Westen unvermeidlich.

* Zum Verfasser: Wladimir Jewsejew ist Wissenschaftssekretär des Koordinationsrats für Prognosen der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 25. Juni 2010; http://de.rian.ru



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