Warum Moskau so nervös ist
Russische Sicht auf den USA-"Raketenschirm"
Von Ilja Kramnik, Moskau *
Die Gerüchteküche um das US-amerikanische Raketenabwehrsystem, vor allem
um dessen europäische Komponente, brodelt nach wie vor. Eine russische
Sicht vermittelt folgender Beitrag der Agentur RIA Nowosti.
In Moskau behaupten manche, dass die Raketenschächte in Polen nicht für
Abfang-, sondern für
ballistische Mittelstreckenraketen bestimmt seien. Sie könnten innerhalb
weniger Minuten die
wichtigsten Koordinierungszentren in Moskau und Umgebung treffen und so
das Land und die
Streitkräfte führungslos machen.
Nicht viel überzeugender klingt die offizielle USA-Version, wonach das
Abwehrsystem dem Schutz
der USA und ihrer Verbündeten vor einem Raketenschlag aus
»Schurkenstaaten« dienen soll.
Merkwürdigerweise wird es ausgerechnet dort errichtet, wo es für das
Abfangen von Raketen aus
Nordkorea oder Iran nicht gerade optimal wäre. Dagegen ist der Standort
verdammt gut geeignet für
das Abfangen von Raketen, die aus Russland in Richtung USA gestartet
werden könnten.
Russische Militärs und Experten anderer Länder sind sich indes einig,
dass das USA-Abwehrsystem
selbst nach dem Aufbau der Komponente in Polen keine Gefahr für die
strategischen
Atomwaffenkräfte Russlands darstellen würde. Warum ist Moskau also nervös?
Das 1972 vertraglich formulierte Verbot der Errichtung eines globalen
Abwehrraketensystems
schloss die Möglichkeit eines straffreien atomaren Erstschlags aus. Das
Potenzial, das der UdSSR
oder den USA nach einem solchen Angriff geblieben wäre, reichte immer
noch aus, um im
Gegenschlag die Städte des Gegners mit einem Großteil der Einwohner zu
vernichten und globale
Folgen wie den nuklearen Winter zu verursachen.
Wenn die USA jetzt aber ihr Abwehrsystem vervollkommnen, wären sie
erstmals seit den 40er und
50er Jahren in der Lage, Russland einen Atomschlag zu versetzen, ohne
einen Gegenschlag
befürchten zu müssen. Russische Raketen, die nach einem solchen Angriff
übrig blieben, würden
angesichts einer umfassenden Raketenabwehr für Washington keine
ernsthafte Abschreckung mehr
darstellen.
Gegenwärtig verfügen die USA über vier Frühwarnradars auf den
Aleuten-Inseln, in Kalifornien,
Großbritannien und Grönland, ein seegestütztes Radar bei Alaska und ein
vorgeschobenes Radar in
Japan. Zum Atomschild gehören ferner 16 bodengestützte Abfangraketen in
Fort Greely (Alaska)
und Vandenberg (Kalifornien) sowie 18 seegestützte Raketen des
Aegis-Systems auf Kreuzern und
Zerstörern. Bis 2013 soll ein weiteres Frühwarnradar in Osteuropa seiner
Bestimmung übergeben,
die Zahl der bodengestützten Abfangraketen soll auf 54 erhöht werden,
darunter 44 in den USA und
zehn in Polen. Geplant ist außerdem die Stationierung von vier
THAAD-Raketenabwehrsystemen
(Terminal High Altitude Area Defense), um ballistische Raketen im
Endstadium der Flugbahn zu
vernichten, sowie von zahlreichen seegestützten SM-3-Raketen. Im
nächsten Jahrzehnt sollen ein
vervollkommnetes Satellitensystem zur Ortung von Raketenstarts und auf
der Basis von Boeing-747-
Maschinen entwickelte »fliegende Laser« aufgestellt werden.
Die Zerstörung des strategischen Gleichgewichts wäre damit perfekt.
Russland, das sein
strategisches Atompotenzial erneut aufstocken müsste, würde in ein neues
Wettrüsten gezogen –
unter schwierigeren Bedingungen als zur Sowjetzeit. Zumal die
Aufstockung des Potenzials mit
erheblichen Auflagen verbunden wäre. Der START-1-Vertrag beispielsweise
enthält neben
quantitativen Beschränkungen (je 6000 Gefechtsköpfe für die USA und
Russland) auch
Begrenzungen für mobile bodengestützte Raketenkomplexe. Und der 2002
unterzeichnete Vertrag
zur Reduzierung der Offensivpotenziale (SORT) schreibt vor, die
strategischen Nuklearpotenziale
Russlands und der USA bis 2012 auf 1700 bis 2200 Gefechtsköpfe für jede
Seite zu senken,
wodurch die Zahl von Raketen und schweren Bombenflugzeugen auf 400 bis
500 begrenzt wird. Bei
Ausbau der USA-Raketenabwehr könnte sich diese Trägerzahl als ungenügend
erweisen, um einen
angemessenen Gegenschlag auszuführen.
Auch der Zustand der Raketen- und Atomwaffenindustrie schränkt Russland
ein: Die
Produktionskapazitäten in der Ukraine und ein bedeutender Teil des
eigenen Potenzials gingen
verloren.
Möglicherweise wäre der Aufbau eines eigenen Raketenabwehrsystems eine
adäquate
Entscheidung. Wegen des riesigen Aufwands kann von einem Schutzschild
für ganz Russland keine
Rede sein. Doch die wichtigsten Stellungen strategischer
Atomwaffenkräfte könnten und müssten
unter eine »Schutzglocke« gebracht werden, damit ihr Potenzial erhalten
bleibt. Russland besitzt
bereits ein Raketenabwehrsystem für Moskau. Das Potenzial der eigenen
ballistischen Raketen wird
ausgebaut, um jedes Abwehrsystem durchbrechen zu können. Dafür werden
die Raketen mit
manövrierenden Gefechtsköpfen und wirksameren Durchbruchsmitteln
ausgestattet. Gleich- wohl
wird eine Lösung für Russland weder einfach noch billig werden. Das ist
der Preis der Niederlage im
Kalten Krieg.
* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2008
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