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Vordenker geht von Bord

Rußland: Kritik Putins an Regierungspolitik. Vizepremier entlassen

Von Knut Mellenthin *

Mit dem Rücktritt des stellvertretenden Premierministers Wladislaw Surkow hat sich am Mittwoch die Krise der russischen Führung weiter verschärft. Der 48jährige war im Dezember 2011 vom damaligen Präsidenten und jetzigen Regierungschef Dmitri Medwedew ernannt worden. Zuvor trug Surkow den unscheinbaren Titel eines Ersten Stellvertretenden Chefs der Präsidialverwaltung. Seiner wirklichen Bedeutung kamen Bezeichnungen wie »Chefideologe«, »Vordenker« oder »graue Eminenz« sehr viel näher.

In Moskau war Surkows Wechsel aus dem Präsidialamt in die Regierung als Signal interpretiert worden, daß der aus Tschetschenien stammende Geschäftsmann das Vertrauen von Präsident Wladimir Putin verloren hatte, dessen wichtigster Berater er jahrelang gewesen war. Surkow gilt als »Erfinder« der 2001 gegründeten Präsidentenpartei Einiges Rußland. Aber auch die Idee, finanziell gut bezuschußte, lenkbare Oppositionsparteien wie die nationalistische Rodina (»Heimat«) und später die meist als sozialdemokratisch bezeichnete Partei Gerechtes Rußland ins Leben zu rufen, wird Surkow zugeschrieben. Noch am 1. Mai hatte er bei einem Vortrag in der London School of Economics davon gesprochen, daß es nützlich für Rußland wäre, wenn es eine »wettbewerbsfähige zweite große Partei« gäbe, und daß deren Bildung möglicherweise »etwas Hilfe« benötigen würde.

In der äußerst knappen offiziellen Mitteilung zu Surkows Rücktritt wird ohne nähere Begründung auf eine erweiterte Kabinettssitzung verwiesen, die am Dienstag stattgefunden hatte. Putin, der seit einem Jahr wieder als Präsident amtiert, hatte sich dort in scharfer Form beschwert, daß etliche von ihm erlassene Anordnungen nicht oder nur unzureichend umgesetzt worden seien.

Putins Kritik, von der wesentliche Teile im Fernsehen und im Internet zu sehen oder zu lesen waren, wies bemerkenswerte Übereinstimmungen mit einem Artikel auf, der wenige Tage vorher in der sich selbst als »linkspatriotisch« bezeichnenden Zeitschrift Sawtra erschienen war. Das Blatt hatte geschrieben, daß kein einziger Regierungsplan zur Verbesserung der Infrastruktur erfüllt worden sei. Ein Drittel der Bevölkerung habe keinen Gasanschluß. Viele Millionen Menschen lebten in Häusern, für deren Erhaltung kaum noch etwas getan werde und die im Grunde abrißreife Bruchbuden seien. Andererseits bleibe der versprochene Bau neuer Wohnungen bei weitem hinter dem Bedarf zurück. Die Schlußfolgerung des Blattes, das sich auch im Kreml einer gewissen Beachtung und Fürsorge erfreut: »Das Volk Rußlands schweigt. Aber das ist keine gute Ruhe – es ist die Ruhe vor dem Sturm. (…) Die Verantwortungslosigkeit der Macht nimmt endlos zu. Sie erreicht irgendwann die kritische Masse, bei der die Explosion unvermeidlich ist.«

Warum ausgerechnet Surkow – einer von insgesamt sieben stellvertretenden Premierministern – der Kritik des Präsidenten geopfert wurde, ist vorläufig unklar. Vermutlich hat er sich geschadet, als er während seines Besuchs in London in den Streit um den »Innovationskomplex« Skolkowo bei Moskau, Lieblingskind von Regierungschef Medwedew, einzugreifen versuchte. Gegen mindestens drei leitende Manager des 2010 gegründeten Unternehmens, an dessen Spitze der Multimilliardär Viktor Vekselberg steht, wird wegen Veruntreuung von Geldern ermittelt. Surkow war in London bemüht, Skolkowo zu verteidigen und die Haltung der Untersuchungsbehörde anzugreifen.

Vorerst jüngster Akt des Dramas war am Dienstag die Beurlaubung des stellvertretenden Skolkowo-Chefs Alexej Beltjukow. Ihm wird vorgeworfen, dem Abgeordneten Ilja Ponomarjow von der Partei Gerechtes Rußland »illegal« 750000 Dollar gezahlt zu haben, angeblich für Vorträge und Forschungsprojekte. Die Führung um Putin sieht in dem Oppositionspolitiker einen der Anstifter und Organisatoren der regierungsfeindlichen Demonstrationen – offiziell: »Unruhen« – die 2012 in Moskau stattfanden.

* Aus: junge Welt, Freitag, 10. Mai 2013


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