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Putin und die Gnade der späten Geburt

Strategiewechsel: Der Kreml verwirft das "Prinzip der nuklearen Abschreckung"

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag aus der Wochenzeitung "Freitag" von Ende November.


Von Peter Linke

(...) Die US-Doktrin der präventiven Kriege, bei denen auch ein Ersteinsatz von Kernwaffen erwogen wird, haben den Kreml animiert, seinerseits die defensive Funktion des eigenen Atomarsenals zur Disposition zu stellen und auf offensivere Optionen umzuschalten.

Unbeeindruckt von allen öffentlichen Debatten über künftige Kriege setzten Russlands Strategieplaner bis weit in die neunziger Jahre hinein auf atomare Abschreckung, um eine nukleare wie auch nichtnukleare Aggression gegen das eigene Territorium zu verhindern. Natürlich - so hieß es seinerzeit - könne es nicht mehr darum gehen, mit einem atomaren Gegenschlag einen eventuellen Aggressor zu paralysieren, entscheidend sei nicht die garantierte Zerstörung ökonomischen Potenzials, sondern die garantierte Fähigkeit zum Gegenschlag. Priorität genieße daher nicht eine Anhäufung möglichst vieler Sprengköpfe - es gehe viel mehr um "durchbruchsfähige" strategische Trägermittel.

Einen Aggressor nicht maximal, sondern in einer Weise schädigen zu können, die für ihn "inakzeptabel" wäre - mit dieser eher psychologisierten Sicht auf die Wirkung strategischer Waffen kam Russland dem traditionellen Abschreckungsverständnis der USA sehr nahe. Im Unterschied zu den Amerikanern blieben russische Strategieplaner jedoch dabei, nukleare Abschreckung müsse auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basieren, um wirklich effektiv zu sein. Darüber hinaus stellten sie klar, dass Abschreckung mit weniger Sprengköpfen nur unter zweierlei Voraussetzungen funktionieren könne: Erstens, der ABM-Vertrag von 1972* bleibe erhalten und damit die Errichtung strategischer Raketenabwehrsysteme tabu; zweitens, Russland halte an der traditionellen Struktur seiner nuklearen Triade (Verbindung von land-, luft- und seegestützten Trägermitteln für Atomwaffen) fest, das heißt, man wollte auch künftig vorrangig landgestützte strategische Arsenale entwickeln. ...

... Gesegnet mit der Gnade der späten Geburt, zeigten Putin & Co. erkennbar wenig Skrupel, vorhandene Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen. Der Präsident vertrat die Auffassung, Russland habe eine großangelegte Invasion von außen nicht länger zu fürchten - wohl aber diverse interne Aggressionsherde. Sie aktiv zu bekämpfen, sei künftig ein zentrales wehrpolitisches Motiv. Unter diesen Umständen komme passiver nuklearer Abschreckung nur noch begrenzte Bedeutung zu.

Den ABM-Vertrag aufzugeben, fiel der neuen Kreml-Riege daher nicht schwer. Im Gegenteil: Von Anfang an nutzte sie die ABM-Gespräche mit den USA, um die Möglichkeit gemeinsamer russisch-amerikanischer Raketenabwehrkapazitäten zu sondieren. Ebenfalls wenig zimperlich ging Putin mit Russlands nuklearer Triade um. Wenn schon strategische Nuklearmittel, so das erklärte Ziel, dann solche, die sich offensiv nutzen ließen, weil sie - montiert auf schweren U-Booten und Bombern - weltweit dislozierbar seien.

Putins strategischer Revisionismus löste widersprüchliche Reaktionen aus. Besonders kontrovers verlief die Debatte über Sinn und Unsinn eines Umbaus der nuklearen Triade. Losgetreten von Sergei Breskun, einem der profiliertesten Kernwaffentheoretiker des Landes, spaltete der Streit Russlands Strategieplaner schnell in zwei unversöhnliche Lager. Die Struktur der nuklearen Triade radikal zugunsten see- und luftgestützter Systeme zu verändern, warnte Breskun in der renommierten Unabhängigen Militärrundschau, wäre ein Riesenfehler. ... Nicht nur aus militärischer, auch aus wirtschaftlicher Sicht müssten auch künftig landgestützte Raketen bevorzugt werden.

Die Reaktion der Flotten-Lobby war heftig: Breskuns Thesen - wetterte Kapitän zur See und Ex-Generalstäbler Wladimir Saborski - seien "blanker Unsinn": Jeder wirkliche Raketen-Spezialist wisse, dass schwere Unterwasserkreuzer aufgrund ihrer "Unverwundbarkeit und exzellenten Gefechtseigenschaften sowie der Vernichtungskraft ihres Raketenpotenzials" die "effektivste Gegenschlagswaffe aller Zeiten" darstellten. Im Übrigen seien die Weltmeere ein Schauplatz künftiger Kriege, damit wachse die Bedeutung seegestützter Kernwaffen mit großer Reichweite. Dass Saborski & Co. mit diesem Urteil voll im Trend lagen, zeigte sich spätestens Anfang 2002, als Generaloberst Juri Balujewski, stellvertretender Generalstabschef und Unterhändler des Kreml im russisch-amerikanischen ABM-Poker, erstmals offiziell verkündete, in sämtlichen Plänen des Generalstabs genieße die maritime Komponente der Triade "unbedingte Priorität".

Von Putins Absicht, Russlands nukleare Triade nachhaltig "maritimisieren" zu wollen, zeugen inzwischen nicht wenige präsidiale Dekrete, etwa über die Wiederaufnahme der Produktion seegestützter ballistischer Raketen vom Typ RSM-94 und RSM-92 Wariant. Parallel dazu werden die Mittel für mobile landgestützte Interkontinentalraketen vom Typ Topol-M gekürzt. Mit derartigen Weichenstellungen setzt der Kreml letztlich - auch unter dem Eindruck der jüngsten Erklärungen in Washington zur US-Militärstrategie - auf einen Offensiv-Charakter der eigenen Nuklearstreitkräfte und unterläuft damit die klassische Formel der nuklearen Abschreckung. Intensiver als je zuvor denkt das russische Oberkommando heute über eine Kriegführung der Zukunft nach, bei der Kernwaffen einen äußerst aktiven Part übernehmen. Erst im Oktober haben das turnusmäßig abgehaltene Kommandostabsübungen gezeigt, bei denen erstmals keine "demonstrativen", sondern massive Nuklearschläge gegen einen potenziellen Aggressor simuliert wurden.



* Der Vertrag über die Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme (ABM) wurde 1972 zwischen den USA und der UdSSR geschlossen, um mit der Festlegung auf jeweils nur ein zentrales Abwehrsystem und die damit erhöhte gegenseitige Verwundbarkeit einen Nuklearkrieg zu verhindern. Die USA sind inzwischen weitgehend aus dem ABM-Vertrag ausgestiegen. (Vgl. hierzu unsere Themenseite zum ABM-Vertrag.)

Aus: Freitag 49, 29. November 2002


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