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Wahlkampf auf Russisch

Oppositionspolitiker Nemzow bewirbt sich in Sotschi um das Bürgermeisteramt

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Boris Nemzow kann es selbst nicht recht fassen, dass er bei den Bürgermeisterwahlen am kommenden Sonntag (26. April) in Sotschi immer noch im Rennen ist. Dort finden 2014 die Olympischen Winterspiele statt, die Russland nach bisheriger Kalkulation umgerechnet mindestens 15 Milliarden US-Dollar kosten werden. Schon deshalb möchte Moskau einen loyalen Politiker auf dem Sessel des Stadtoberhauptes wissen. Nemzow aber gehört zu den schärfsten Kritikern von Kreml und Regierung.

Sotschis Bürgermeister wiedergewählt

Bei der Bürgermeisterwahl in der Olympia-Stadt Sotschi hat sich der Amtsinhaber Anatoli Pachomow nach Angaben der Wahlkommission klar durchgesetzt. Nach der Auszählung fast aller Stimmen kam er auf 76 Prozent, wie am Montag (27. April) bekanntgegeben wurde. Pachomow war der Kandidat von Ministerpräsident Wladimir Putins Partei Geeintes Russland. Dem liberalen Oppositionskandidaten Boris Nemzow wurden lediglich 13 Prozent zugeschrieben. Letzterer sprach von Wahlbetrug und kündigte an, das Ergebnis anzufechten. (AP/jW)

* Aus: junge Welt, 28. April 2009



In Sotschi geboren, aber in Gorki aufgewachsen, übernahm Boris Nemzow 1991 mit knapp 32 Jahren die Verwaltung des Gebiets an der Wolga, dessen Hauptstadt wieder Nishni Nowgorod hieß. Er war damals der jüngste Gouverneur Russlands. 1997 von Boris Jelzin zum Vizepremier ernannt, wechselte er, kurz nachdem Wladimir Putin die Macht im Kreml übernahm, zur Opposition. Gemeinsam mit dem ehemaligen Schachweltmeister Gari Kasparow und anderen prominenten Kritikern hat er das Bündnis »Solidarnost« aus der Taufe gehoben. Anders als Kasparow, den sich die Mehrheit der Russen beim besten Willen nicht in einem politischen Spitzenamt vorstellen kann, genießt Nemzow durchaus Sympathien. Und solche Kandidaten scheitern in Russland bisweilen schon bei der Bewerbung an »Formfehlern«.

In Sotschi blieben sogar harmlose Exoten auf der Strecke, weil ihre Stimmen dem Kandidaten des Kremls zur absoluten Mehrheit fehlen könnten. Primaballerina Anastasija Wolotschkowa etwa tauschte ihre Karriere im Bolschoi gegen Hand und Herz eines Oligarchen ein, der auch ihre Wahlkampfkasse füllen wollte. Doch Wolotschkowa wurde zum Verhängnis, dass sie ihr Geburtsdatum nur in ihrer Bewerbung, nicht aber in der Deklaration zur Herkunft der Mittel für ihren Wahlkampffonds angegeben hatte. An ähnlichen Bagatellen scheiterte auch Alexander Lebedjew. Er hält zusammen mit Michail Gorbatschow 49 Prozent an der kritischen Tageszeitung »Nowaja Gaseta«. Über zwölf der ursprünglich 20 Bewerber senkten die Wahlleiter in Sotschi schon den Daumen.

Nemzow gehört nicht dazu, und das deuten hiesige Beobachter als Zeichen dafür, dass Dmitri Medwedjew mehr Demokratie wagen will. Nemzow denkt offenbar ähnlich und versucht zu ergründen, wo die neuen Grenzen liegen. So verklagte er den Favoriten der Regierungspartei »Einiges Russland«, den amtierenden Oberbürgermeister Anatoli Pachomow. Dieser verquicke Amt und Wahlkampf und müsse daher disqualifiziert werden. Allein dieser in der jüngeren russischen Geschichte einmalige Vorgang wäre noch vor knapp einem Jahr gleich bedeutend mit politischem Harakiri gewesen.

Nemzows zentrales Wahlkampfthema sind die Olympischen Winterspiele 2014. Fazit eines eigens dazu erstellten Experten-Gutachtens: Sotschi sei, selbst wenn das ehrgeizige Bauprogramm eins zu eins umgesetzt wird, nicht in der Lage, die Spiele zu verkraften. Diese müssten dezentral, auf mehrere Orte verteilt durchgeführt werden, oder Russland solle die Spiele zurückgeben. Eine detaillierte Begründung und nach Themen sortierte Mängellisten sind dem Papier als Anhang beigefügt. Sie dürften vor allem das Organisationskomitee interessieren. Denn Patriotismus hin und Genugtuung wegen der Revanche für die von großen westlichen Staaten boykottierten Moskauer Sommerspiele 1980 her: Bei den Einwohnern Sotschis rennt Nemzow mit seinem Feldzug wider Olympia offene Türen ein.

40 Prozent der Bewohner leben in dringend sanierungsbedürftigen Häusern und fragen sich, ob und wann auch ein paar Brosamen für sie abfallen. So erwähnte Präsident Medwedjew die Region, zu der Sotschi gehört, an prominenter Stelle, als er mehr Eifer bei der Korruptionsbekämpfung forderte. Nur verliefen derartige Kampagnen bisher stets im Sande. Für Frust sorgt zudem, dass Chinesen und Türken statt Einheimischer auf den Baustellen arbeiten.

Chancen auf einen Sieg oder wenigstens eine Stichwahl gegen den »Kandidaten der Macht« rechnet Nemzow sich dennoch nicht aus. Denn die Medien behandeln ihn wie Luft und Räume für Treffen mit den Wählern findet er kaum. Sein Programm verteilt Nemzow daher meist bei improvisierten Meetings auf offener Straße.

Der Kandidat des Kremls dagegen meidet den direkten Dialog. Trotzdem bescheinigten ihm Umfragen zuletzt über 40 Prozent Zustimmung. Denn Pachomow tummelt sich auf allen Kabelkanälen im örtlichen Fernsehen. Wobei Beamte und Angestellte staatlicher Behörden dazu schon mal mitten am Tag von der Arbeit frei gestellt werden, um die Säle zu füllen und unmittelbar danach sogar ihre Stimme vorfristig abzugeben. Was auch Russlands KP immer wieder kritisiert hat.

* Aus: Neues Deutschland, 22. April 2009


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