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Niemand kam Bismark Obeng zur Hilfe

Russische Rechtsextreme jagen "Nichtrussen" – und dem Staat fehlt ein Konzept zur Gegenwehr

Von Felix Jaitner *

Den Ghanaer Bismark Obeng hatte es aufgrund familiärer Probleme nach Moskau verschlagen. Die Akklimatisierung fiel ihm schwer. Es waren aber weniger die fremde Sprache und der lange russische Winter, die ihm die Eingewöhnung erschwerten.

»Rassistische Beleidigungen sind für mich Alltag geworden«, erzählte Bismark. »Gehe ich über die Straße, sagen Leute immer wieder: ›Verschwinde aus Russland, Neger! Du gehörst hier nicht hin!‹ Manchmal versuchen sie mich einzuschüchtern, indem sie mir für eine Weile folgen oder Beleidigungen nachrufen.«

Am 10. Januar 2010 wurde Bismark in einem Moskauer Regionalzug von einer sechsköpfigen Gruppe junger Neonazis überfallen. Die Täter attackierten das Opfer ohne Vorwarnung mit Tränengas und begannen auf ihn einzuprügeln. »Ich rief um Hilfe, doch obwohl viele Passagiere im Abteil saßen, kam mir niemand zur Hilfe.« Als er versuchte zu fliehen, begannen die Neonazis mit Messern auf ihn einzustechen. Das alles dauerte weniger als zehn Minuten. Als der Zug an der nächsten Station hielt, sprangen die Täter heraus und entkamen. Augenzeugen ließen sich nicht finden.

»Sie nennen es den ›weißen Waggon‹«, erzählt eine Mitarbeiterin des Informations- und Analysezentrums SOVA (Die Eule) in Moskau. »Dabei gehen sie mit Methode vor. Meistens schicken sie ein oder zwei Späher durch den Zug, die nach Menschen nichtslawischen Aussehens suchen. Sobald sie ein Opfer gefunden haben, werden die anderen Mitglieder per Mobiltelefon benachrichtigt.«

Eine etwa fünf Zentimeter lange Bauchwunde und einen Stich in die Leber trug Bismark Obeng davon. Nach mehreren Operationen wurde Bismark aus dem Krankenhaus entlassen. Inzwischen hatte die Gruppe weitere Angriffe verübt. Einem jungen Gastarbeiter aus Usbekistan verpasste sie acht lebensgefährliche Messerstiche. Es brauchte noch ein weiteres Opfer, diesmal war es ein Überfall mit Todesfolge, bis die Polizei den Anführer der Gruppe endlich aufspürte und verhaftete. Der war zur Tatzeit 18 Jahre alt und ging noch zur Schule. Auch die übrigen Mitglieder waren gerade volljährig geworden oder sogar deutlich jünger.

Angriffe dieser Art sind keine Seltenheit in Russland. Allein 2010 registrierte SOVA, eine Organisation, die sich insbesondere der Information über Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit widmet, mindestens 37 Morde und 382 verletzte Opfer rechter Gewalt. Zwar geht der Staat inzwischen gegen die bekanntesten russischen Neonaziorganisationen vor – darunter die »Slawische Union« und die »Bewegung gegen illegale Migration«. Doch die Rechtsextremisten stellen sich auf die neue Situation ein. Viele der sogenannten Hass-Verbrechen werden nicht von offiziell registrierten Organisationen verübt, sondern von kleinen, unabhängig agierenden Gruppen. Und die haben vor allem unter jungen Männern zwischen 16 und 30 Jahren weiterhin großen Zulauf.

SOVA-Direktor Alexander Werchowski spricht von einer horizontalen Struktur, die es den rechtsradikalen Gruppen ermöglicht, sich weitgehend autonom zu organisieren. Ihre Strategie war besonders im Zuge der Pogrome am 11. Dezember vergangenen Jahres in Moskau und anderen Städten effektiv: Über Internet und informellen Informationsaustausch war es gelungen, 5000 russische Neonazis und Fußballfans zu mobilisieren, die sich vor dem Kreml über mehrere Stunden gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. Auch in den folgenden Tagen kam es zu regelrechten Jagden auf »Nichtrussen« – vor allem Kaukasier und Zentralasiaten.

Der Staat hat keine wirksames Konzept, zunehmendem Rassismus und Nationalismus in der Gesellschaft zu begegnen. Zumal er sich selbst bisweilen einer nationalistischen Rhetorik bedient. Verbote haben eher zu einer Radikalisierung der rechten Szene geführt. Mittlerweile sehen viele Neonazis im Staat den größten Feind. Anschläge auf staatliche Einrichtungen – Ministerien, Polizeiwachen und Infrastruktur – mehren sich. Eine öffentliche Diskussion über die Gefahren der rechtsradikalen Szene und eine effektive Hilfe für Opfer ihrer Gewalt wären dringend erforderlich.

Für Bismark käme indes jegliche Hilfe zu spät. Da sein Visum bereits im März 2010 ablief und ihm das Geld für eine neue Aufenthaltsgenehmigung fehlte, musste er nach Ghana zurückkehren und konnte nicht einmal vor Gericht aussagen. Entschädigung blieb ihm verwehrt.

* Aus: Neues Deutschland, 15. Juni 2011


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