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Putin provoziert Propheten

Bei seinem letzten Auftritt als Premier ließ der gewählte russische Präsident das Auditorium warten

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Der Rechenschaftsbericht der russischen Regierung, den Wladimir Putin am Mittwoch der Duma vorlegte, war sein erster öffentlicher Auftritt nach seiner Wahl zum Präsidenten Anfang März. Und gleichzeitig seine letzte Bilanz als Regierungschef.

Putin selbst hatte die alljährliche Rechenschaftslegung der Exekutive vor der Legislative in seiner zweiten Amtszeit als Präsident eingeführt und es mit diesen seinen Pflichten als Premier stets sehr genau genommen. Auch im Wortsinn. Berühmt-berüchtigt für sein ständiges Zuspätkommen - Putin versetzte die Queen und die spanischen Bourbonen -, erschien er in der Duma aus Achtung vor dem Wählerwillen bisher stets auf die Sekunde genau.

Gestern indes ließ er Abgeordnete und Berichterstatter geschlagene fünfzehn Minuten warten. Das, so die Prophetenzunft in ersten Reaktionen, zeige, dass Putin sich sicherer denn je fühle.

Eine Stunde war für seine Rede kalkuliert wurden. Es wurden genau 91 Minuten, Bilanz des Erreichten und Blick in die Zukunft hielten sich dabei die Waage.

Mit dem Hier und Jetzt dagegen war Putin - auch wegen der stark rückläufigen Tendenz der Massenproteste - erstaunlich schnell fertig. Die Logik einer reifen Demokratie, sagte er gleich zu Beginn, bestehe darin, dass nach Wahlen eine neue Etappe beginnt, die den Blick in die Zukunft richtet. Es folgte ein Feuerwerk positiver Wirtschaftsdaten. Russland habe die Folgen der Krise vollständig überwunden, im Unterschied zu mehreren Staaten Europas ohne Souveränitätsverluste. Staatliche Konjunkturprogramme hätten auch für Infrastruktur, Bildung, Gesundheitswesen und Breitensport substanzielle Verbesserungen gebracht.

Es gebe derzeit weniger Arbeitslose als vor der Krise, die Inflation habe sich in den vergangenen vier Jahren - Putins Amtszeit als Premier - halbiert. Russland sei zum zweitgrößten Getreideexporteur weltweit aufgestiegen und weise eine positive demografische Entwicklung auf. Löhne und Renten stiegen stetig, trotzdem sei der Einkommensunterschied zwischen Arm und Reich nach wie vor so krass wie in den USA.

Das sei für Russland als Teil Europas auf Dauer nicht akzeptabel und gefährde zudem Pläne für den Aufstieg zur fünfgrößten Wirtschaftsmacht weltweit. Dieses Ziel soll schon laufenden Jahrzehnt erreicht werden, dazu auch das Investitionsklima substanziell verbessert werden. Forderungen der Investoren nach Transparenz der Spielregeln, Garantien für Besitz und Rechtsstaatlichkeit seien berechtigt. Derzeit liegt Russland im internationalen Rating des Geschäftsklimas auf Rang 178 und damit so ziemlich am Schluss.

Mit der Realisierung seiner Roadmap - seiner Wegekarte als Präsident -, so Putin, der am 6. Mai vereidigt wird, habe er bereits begonnen. Absolute Priorität habe dabei die Rückbesinnung auf traditionelle ethische Grundlagen, vor allem auf eine Familie mit mehreren Kindern, die »im Geiste nationaler kultureller Traditionen« erzogen werden. Sibirien und Fernost würden stärker als bisher gefördert, ihre Kommunikation mit Zentralrussland verbessert, um die Abwanderung der Bevölkerung zu stoppen.

International werde Russland seine Position vor allem durch neue Formen der euroasiatischen Integration stärken. Angesichts der globalen Turbulenzen sei die Kooperation mit Russland für viele ehemalige Sowjetrepubliken sehr attraktiv.

Er, so Putin abschließend, hoffe für seine dritte Amtszeit auf konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition sowie zwischen Legislative und Exekutive. Nur durch allgemeinen Wohlstand könne die Macht sich das Vertrauen der Bevölkerung erhalten.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 12. April 2012


Russland: Mehr Demokratie unter Putin

Bericht von Wladimir Putin über die Arbeit der Regierung 2011

Von Dmitri Babitsch, RIA Novosti **


Der Rechenschaftsbericht von Noch-Regierungschef Wladimir Putin in der Staatsduma (Parlamentsunterhaus) kennzeichnet das Tauwetter in der russischen Politik.

Als die Rechenschaftsberichte des Regierungschefs im Parlament in den ersten Amtsjahren von Noch-Präsident Dmitri Medwedew eingeführt wurden, konnte man sich kaum vorstellen, dass der Redner mit Zwischenrufen unterbrochen wird und eine ganze Fraktion den Sitzungssaal verlässt.

Doch Putin, der die von Medwedews initiierten Rechenschaftsberichte unterstützt hatte, ist bereit zu neuen Kommunikationswegen mit dem Parlament. Selbst mit scharfen Wortmeldungen ließ er sich nicht in die Enge treiben oder aus der Fassung bringen.

Doch Putin hielt eine Rede ohne Überraschungen. Weder über die Zusammensetzung der neuen Regierung noch über scheidende Minister gab er Auskunft. Putin sprach lediglich davon, dass sich das „Team verändern werde“.

Ein Abgeordneter sprach jedoch andeutungsweise von „einer Alternative für ihre Umgebung“. Darauf antwortete Putin: „Ich bin mit Ihnen einverstanden“ – das lässt hoffen, dass bald ein wenig mehr Klarheit über die künftige Regierung herrscht.

Eine von Putins Charaktereigenschaften ist, die Seinen nicht zu verraten. Unpopuläre Minister werden von ihm nicht zum Sündenbock gemacht. Auf Vorwürfe gegen Ministerien gab er ausführliche Antworten.

Interessanterweise hatten fast alle Antworten Putins einen liberalen und bisweilen sogar westlichen Charakter. Das einheitliche Staatsexamen sei teuer und unbequem? Auf diese Weise werden Prüfungen jedoch weltweit abgelegt. Putin sagte, dass es notwendig sei, dass die russischen Diplome im Ausland anerkannt werden. Deshalb müsse man zu internationalen Standards übergehen, sagte er.

Zu den Befürchtungen in Bezug auf den Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO), sagte Putin, dass einige Branchen darunter leiden könnten. Ohne den WTO-Beitritt könne die russische Wirtschaft jedoch nicht modernisiert werden. Zudem sei die WTO nicht nur ein Instrument des Wettbewerbs, sondern auch ein Instrument zum Schutz der russischen Unternehmen im Ausland. Vor dem Wettbewerb könne man sich nicht ewig verstecken. „Solange wir keinen echten Wettbewerb spüren, wird die Modernisierung nicht vorankommen“, so der designierte Präsident Russlands.

Selbst auf die paranoiden Ängste der Kommunisten in Bezug auf einen Nato-Umschlagspunkt für Transitgüter nach Afghanistan in Uljanowsk antwortete Putin als Pragmatiker, der keine Komplexe gegenüber dem Westen hat. „Wir wollen doch nicht, dass unsere Soldaten an der tadschikisch-afghanischen Grenze kämpfen… Dann muss ihnen [den internationalen Kräften in Afghanistan] geholfen werden. Die Aufrechterhaltung der Stabilität in Afghanistan entspricht unseren nationalen Interessen“, sagte der Ministerpräsident.

Nur bei einem Aspekt wich Putin von seiner liberalen Linie ab: die Souveränität des Landes (vor allem die Wirtschaftssouveränität).

Die Abgeordneten reagierten zwar skeptisch auf einige von Putin erwähnte Erfolge während seiner Amtszeit, allerdings waren sich alle einig bei der Einschätzung eines Aspektes – Russland trifft wieder seine eigenen Entscheidungen.

Einige könnten behaupten, dass es sich um einen umstrittenen Erfolg handelt. Eine der neoliberalen Dogmen der 1990er Jahre war die Ansicht, dass die Wirtschaftsintegration und die Erweiterung der Strukturen des wichtigsten (des westlichen) Weltsystems automatisch zur Prosperität und Ausweitung der Demokratie führen werden.

Doch das Beispiel des insolventen Griechenlands, dem die EU untersagte, ein Referendum über die unbeliebten Wirtschaftsreformen durchzuführen, zeugt davon, dass dieses Dogma veraltet ist. Die Demokratie kann nicht vom Ausland gebracht werden. Demokratie kann man nicht einfach ausbreiten, indem man einer Organisation beitritt. Sie kann nur aufgebaut werden.

Die Atmosphäre bei der Sitzung (die Abgeordneten der Partei Gerechtes Russland verließen den Saal aus Protest gegen Putins Antwort auf die Frage nach der Wahlkrise in Astrachan) zeigte, dass die Demokratie in Russland allmählich erwacht.

Der frühere Chefideologe des Kreml, Wladislaw Surkow, sprach offenbar allen Ernstes in einem Interview davon, dass die Einparteien-Regierung, die in Russland seit 2007 zu erkennen war, eine Art von Therapie war, die sich ihrem Ende nähert.

„Putin ist bereit, unter den Bedingungen einer größeren Meinungsfreiheit zu arbeiten. Er ist ein ziemlich flexibler und professioneller Politiker, der keine Angst vor spontanen Fragen hat“, sagte Wjatscheslaw Igrunow, einer der Gründer der Partei „Jabloko“ und Direktor des Internationalen Instituts für humanitär-politische Forschungen. „Anscheinend sind die Zeiten vorbei, dass das politische System von Surkow behandelt wurde. Doch diese Behandlung verlief in einem Gefängniskrankenhaus. Ein Patient, der fünf Jahre auf seinen Posten verharrt, ist schwach und unselbstständig. Die Oppositionellen haben keine Ideen, welchen Weg Russland gehen sollte. Es gibt nur die Bereitschaft für einen Konflikt mit den Behörden und der ewige Wunsch, zu klären, wer von ihnen der wahre Opponent gegenüber den Behörden ist“, sagte Igrunow.

Die scharfen Fragen von Sergej Mironow, Chef der Partei Gerechtes Russland, zu politischen Reformen zeugen nur davon, dass die Position gegenüber dieser Partei, die als Kreml-Projekt angesehen wird, geändert werden muss.

Putin gab keine konkreten Versprechen in Bezug auf die Demokratisierung. Doch er sprach davon, die Errungenschaften der Medwedew-Ära zu festigen. „Das Gesetz wurde angenommen und muss erfüllt werden“, sagte Putin über das neue Gesetz über die Mindestzahl der Mitglieder von Parteien (500), die registriert werden wollen.

Er ging nicht darauf ein, ob der Kreml künftig bei der Wahl der Gouverneure die bestimmende Rolle spielen wird. Doch es ist wichtig, dass Putin nicht von den Gouverneuren fordert, Geeintes Russland zu folgen. Es handelte sich nur um die Isolierung von Separatisten, Nationalisten und „halbkriminellen Elementen“.

Dieses Verfahren funktionierte auch unter Boris Jelzin. Was die Demokratie betrifft, kann man Russland zur Rückkehr in die 1990er Jahre in ihrer verbesserten Variante gratulieren.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

** Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, Donnerstag, 12. April 2012; http://de.rian.ru


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