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Europa und sein "Wilder Osten"

Alexander Rahr hält eine Neubewertung der politischen und ökonomischen Macht Russlands für unumgänglich *


nd: Herr Rahr, wie schätzen Sie die politische Bedeutung der sich offensichtlich vor allem gegen Wladimir Putin richtenden Demonstrationen ein?

Rahr: Hierbei handelt es sich um einen Ausdruck des Protestes der neuen politischen Mittelklasse, die es in dieser Form vor einem Jahr noch nicht gegeben hat. Die Leute fordern mehr Transparenz bei Wahlen und mehr politische Freiheiten. Es ist ganz klar, dass sich die Machtelite diesen Forderungen stellen muss. Sonst wird sie verlieren.

Nun besteht diese Protestbewegung aber aus sehr unterschiedlichen Gruppierungen ...

Die Bewegung ist völlig heterogen. Sie hat keinen Anführer. Deshalb ist sie für Putin völlig ungefährlich. Auch ist es falsch, von einem »russischen Frühling« zu sprechen. Diejenigen, die auf die Straße gehen, haben total unterschiedliche Vorstellungen: Die einen fordern einen verstärkten Kampf gegen die grassierende Korruption, die anderen ein Mehrparteiensystem. Nationalisten, radikale Liberale und Kommunisten treffen erstmals zusammen, um gemeinsam gegen etwas zu demonstrieren, das sich als konkretes Ziel nicht ausmachen lässt. Ob diese Gruppierungen politisch zusammenfinden und eine ernsthafte politische Oppositionskraft gegen das jetzige Putin-System bilden könnten, ist mehr als fraglich.

Mit einer grundlegenden Veränderung der politischen Landschaft in Russland ist also gegenwärtig nicht zu rechnen?

So würde ich das nicht ausdrücken. Putin muss auf den Mittelstand zugehen. Er wird sich vor die Notwendigkeit gestellt sehen, wenn nicht gerade Zugeständnisse zu machen, so doch das System zu reformieren. Das jetzige System ist absolut unmodern. Wahrscheinlich war es notwendig, zunächst einmal die Schrauben anzuziehen, um Russland vor dem Zerfall zu retten, der 1999 das Land bedrohte, als Russland sich im Krieg mit Tschetschenien befand, fortlaufend Terroranschläge verübt wurden, die Gouverneure außer Kontrolle gerieten und kriminelle Elemente an die Macht gelangten. Doch inzwischen ist ein durchaus zivilisiertes Russland entstanden. Das braucht eine moderne Gewaltenteilung zwischen Parlament und Exekutive sowie ein Zwei-, wenn nicht ein Dreiparteiensystem. Ich bin sicher, dass innerhalb der nächsten sechs Jahre Anstrengungen zu solchen Reformen unternommen werden, auch von oben. Andernfalls kommt der Druck von unten. Auf jeden Fall muss Putin verstehen, dass er es heute mit einem anderen Volk zu tun hat als noch vor zwölf Jahren.

Der erste Satz Ihres Buches »Der kalte Freund« lautet: »Russland die Demokratie zu lehren ist ein hoffnungsloses Unterfangen.« Wäre es also irrational, auf eine Etablierung der Demokratie westlichen Standards zu warten?

Warten kann man immer. Aber man muss auch die Option wahrnehmen, mit einem Russland zusammenzuarbeiten, das nicht demokratisch nach westlichem Standard ist. Russland befindet sich auf dem Weg in die Demokratie, aber in eine russische Demokratie.

Es gibt heute in Russland ein Rechtssystem. Es gibt Gesetze. Das Problem ist die praktische Umsetzung. In dieser Gesellschaft war es über die Jahrhunderte hinweg so, dass die Bürokratie nicht dem Volk diente, sondern das Volk der Bürokratie. Sie werden große Probleme haben, in dieser Gesellschaft Toleranz zu finden, Kompromissbereitschaft, ehrlichen Wettbewerb, Solidarität, Nächstenliebe. Das ist alles nur sehr rudimentär vorhanden. Es ist eine kapitalistische Gesellschaft, die sich in den Wilden Osten verwandelt hat, in dem nach dem Gesetz des Dschungels jeder für sich lebt. Sie muss erst zu sich finden. Es muss eine Ordnung geschaffen werden. Aber die kann nicht von oben etabliert werden. In Rechtssysteme und soziale Gleichgewichte kommt eine Gesellschaft nur hinein, wenn die von unten gewollt und praktiziert werden. Dass dieser Prozess so lange dauert, verursacht Russland erhebliche Probleme. Und dennoch bewegt sich das Land eher in Richtung eines demokratischen Europas, als zurück in eine stalinistische Diktatur.

Sie sehen von russischer Seite eine Annäherung an Europa?

Es gibt in Europa zwei völlig unterschiedliche Vorstellungen von Europa. Westeuropa definiert Europa nach Werten und betrachtet alles, was außerhalb der EU-Grenzen liegt, nicht mehr als Europa. Für Russland dagegen ist Europa ein geografischer Begriff. Jelzin, Putin und Medwedjew, die in den letzten zwanzig Jahren in Russland regierten, waren Europäer, aber Europäer des 19. Jahrhunderts. Sie wollten nach Europa, in dem Russland als Großmacht zusammen mit anderen führenden Mächten so wie auf dem Wiener Kongress 1815 die neue Ordnung Europas schafft. Das ist das Europa, das sie kennen und in das sie nach der Zeit des Kommunismus zurückkehren wollen. Ihnen ist diese EU, in der nichts entschieden wird, in der es immer nur um Konsens geht, unverständlich. Dieses Europa wollen sie nicht, weil sie sich da als größtes Land der Welt nicht wiederfinden.

»Warum wir Russland brauchen«, lautet der Untertitel Ihres Buches. Das heißt, es wäre für den Westen wichtig, gute Beziehungen zu Russland zu haben?

Die EU hat sich in den letzten zwanzig Jahren zu einer Wertegemeinschaft gewandelt. Historisch gesehen, war das eine hervorragende Leistung. Aber dieses schöne Europa ist unfertig. Zu einer Wertepolitik gehört auch eine Realpolitik, und die fehlt in der EU. Die EU exportiert Werte nach Afrika, Lateinamerika, Asien. Aber sie versagt in einer gemeinsamen Energiepolitik mit Russland und anderen Ländern weil sie dort ausschließlich auf Werte setzt.

Eine nur auf Werte orientierte Außenpolitik ist zu wenig für Europa. Es wird sonst zu schwach, auch in den kommenden Auseinandersetzungen mit anderen Rivalen. Darum braucht man aus meiner Sicht Russland als Option. Ich sage nicht, dass Russland heute ein alternativer Bündnispartner zu den USA oder ein Teil des Westens werden soll. Aber als Option ist Russland für Europa historisch notwendig.

Das Problem ist, dass die EU keine einheitliche Sicht auf Russland hat. Während es in Deutschland viel Verständnis für die Entwicklung in Russland gibt, betrachten andere Länder Russland weiterhin als Feind. Daraus resultiert eine Uneinigkeit darüber, wie man mit Russland über den Aufbau einer strategischen Partnerschaft verhandeln soll. Auf russischer Seite zieht man daraus den Schluss, dass man nur mit gewissen Ländern wie Deutschland, Italien und Frankreich die Zusammenarbeit sucht. Das aber führt zu einer extremen Schieflage im Verhältnis der EU zu Russland.

Wenn die EU mit Russland über eine strategische Partnerschaft verhandeln würde: Was müssten die wesentlichen Inhalte einer solchen Debatte sein?

Jeder russische Präsident unterbreitet, wenn er an die Macht kommt, Europa Vorschläge und meistens von deutschem Boden aus. Denken Sie an Gorbatschow, der diese glänzende, von de Gaulle übernommene Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses vorschlug! Die europäische Antwort war eine Pariser Charta. In ihr wurde ein gemeinsames Europa ohne Grenzen entworfen. Hervorgehoben wurde die große Chance, die vielleicht das letzte Mal Karl der Große hatte, friedlich ein neues Europa zu schaffen. Die Idee war aber schnell vom Tisch.

Jelzin sagte in seiner Antrittsrede, die Welt befinde sich nicht mehr in einem Ost-West-Konflikt, sondern in einem Nord-Süd-Konflikt. Und er regte an, ein gemeinsames Sicherheitssystem auf dem Nordteil unserer Erdkugel zu errichten. Das wurde vom Westen abgewehrt, weil Russland als zu schwach empfunden wurde.

Dann kam Putin und hielt im Bundestag vor zehn Jahren eine historische Rede mit dem Vorschlag einer Energie-Allianz. Er bot an, sein Land liefere Energie und Rohstoffe, die EU solle im Gegenzug die notwendige Technologie liefern, um das Land zu modernisieren. Für diese Rede interessierte sich niemand, obwohl es eine besondere Rede war, in deutscher Sprache gehalten, eine Offerte gegenüber Deutschland und Europa.

Medwedjew erklärte, Russland brauche einen strategischen Dialog, um sich in diesem Europa sicher zu fühlen. Er bot an, einen Vertrag zwischen Russland auf der einen Seite und NATO und EU auf der anderen Seite zu schließen, um gemeinsam eine Friedensordnung Europas zu schaffen. Das wurde alles ignoriert. Der Westen beharrt darauf: Russland muss sich zunächst in einen demokratischen Staat verwandeln, bevor man sich mit Russland integriert.

Welche Konsequenzen hätte es, sollte die EU dem Trugschluss erliegen, Russland nicht zu »brauchen«?

Dann wird Europa zu einem schönen Museum, in das Bürger anderer Kontinente fahren, um die Wurzeln der Demokratie zu studieren oder die Fundamente einer großen Epoche, als Europa im Zentrum der Weltgeschichte stand, zu besichtigen. Noch vor fünfzig, sechzig Jahren waren 21 Prozent der Weltbevölkerung Europäer. Heute sind es sieben Prozent und bald werden es vier Prozent sein. Wir müssen uns an andere starke Nationen klammern.

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sagen, dass sich die Weltordnung verändert. Es werden noch weitere große Krisen über Europa kommen. Die Beziehungen zu den USA werden angespannt sein, weil die genauso in der Krise stecken und sich aus vielen sicherheitspolitischen Räumen dieser Erde zurückziehen werden müssen. Sie werden in Europa bleiben, aber sie werden es nicht mehr so stützen wie bisher.

Darum mein Plädoyer für eine Einigung Europas gen Osten. Wir brauchen ein Konstrukt, das über die EU hinausgeht und den Ländern, die nicht Mitglied der EU sind, den Weg ebnet, sich als Teil Europas zu fühlen. Nur so kann man erreichen, dass diese Länder ihr Potenzial in Europa einbringen und an der Gestaltung der Zukunft Europas mitarbeiten. Wenn wir einen Weg finden, mit diesem Riesenflächenstaat Russland eine gemeinsame größere Zivilisation aufzubauen, wird uns das eher helfen als schwächen.

Berühmt ist das Wort des russischen Dichters Fjodor Tjutschew (1803-73): »Mit Vernunft ist Russland nicht zu begreifen. An Russland kann man nur glauben.« Ist das nach wie vor gültig?

Wenn man dieses Zitat ernst nimmt, darf man nicht verlangen, Russland rational zu verstehen. Ein russischer Politologe sagte mir neulich, Russland dürfe gar kein normales Land sein. Wenn es normal wäre, würde es nicht mehr existieren. Russlands Eliten würden ihre andersartige Identität verlieren. In diesem größten Flächenstaat leben so viele Kulturen. Die russische Geschichte ist vielleicht die grausamste von allen europäischen. Russland sieht sich als Europa - aber als ein »anderes« Europa, nicht in den Traditionen von West-Rom, sondern von Ost-Rom beziehungsweise Byzanz. Im Westen wollen wir einen Rechtsstaat, der nach klaren Gesetzen funktioniert. Die russische Tradition richtet sich mehr nach einer »gefühlten Gerechtigkeit« als nach dem Buchstaben des Gesetzes. Ich gebe zu: Für unsereinen ist dies oft schwer zu verstehen.

* Aus: neues deutschland, 25. Februar 2012

Alexander Rahr ist Leiter des Berthold-Beitz-Zentrums, das sich als Kompetenzzentrum für Russland, die Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) begreift. Rahr gilt nicht nur als Kenner des Landes, bisweilen wird er auch "Russlandversteher" genannt.


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