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Alexander Rahr: Russland gibt Gas. Die Rückkehr einer Weltmacht

Eine Buchbesprechung von Michail Logvinov * - Und eine Leseprobe

Das Sachbuch eines der bedeutendsten deutschen Russland-Experten, Alexander Rahr, seines Zeichens Programmdirektor Russland/Eurasien der renommierten Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP), stellt eine brillante Analyse russischer Politik der letzten 17 Jahre im Lichte der Transformationsprozesse im postsowjetischen Raum dar. Seine Aufmerksamkeit gilt außerdem dem komplizierten Verhältnis zwischen Russland und der EU, in dem Rahr gravierende Fehleinschätzungen und durch die aus den vergangenen Epochen stammenden Stereotype bedingte Missverständnisse sowie absichtlich geschürte Vorurteile beobachtet, ebenso wie den Annäherungs- bzw. Entfremdungsprozessen zwischen Russland und Deutschland. In der Arbeit finden sich mehrere unbequeme Wahrheiten.

Der Autor geht ein doppeltes Wagnis ein. Erstens zeigt er ein überzeugendes optimistisches Russlandbild auf. Zweitens geht er auf die Ursachen und Folgen der Anwendung westlicher Doppelstandards ein und analysiert jene Mechanismen, die Propagandakampagnen gegen Russland ermöglichen.

Egal, ob es um die russische Außen- bzw. Innenpolitik oder um die Konkurrenzkämpfe um Einfluss in Eurasien geht, der Autor argumentiert unparteiisch und solide und gibt sich die sichtbare Mühe, der deutschen Leserschaft verständlich zu machen, nach welchen objektiven Gesetzen sich das moderne Russland entwickelt. Die möglichen Entwicklungsszenarien des Verhältnisses Russlands zum Westen fehlen im Buch ebenso nicht wie die Osteuropa-Expertise und die klare, durch Voreingenommenheit ungetrübte freie Sicht gen Osten.

Das Buch enthält spannende und ausführliche Informationen über die russische Wirtschaft, politischen Eliten (mit den wichtigsten biographischen Daten) sowie Gefahren und Potenziale des partnerschaftlichen Verhältnisses mit dem östlichen Nachbarn. Der Autor will damit überzeugende Antworten auf wichtige inhaltliche Fragen des Buches liefern. Eine Aufgabe, die er souverän meistert. Im Einzelnen geht es Alexander Rahr darum, zu beurteilen, ob das neue erstarkte Russland Europas und Deutschlands Feind, Konkurrent, Partner, Verbündeter oder Freund ist? Wird es infolge der aktuellen Auseinandersetzungen zu einem neuen Kalten Krieg kommen oder vereinigen sich die EU und Russland zu einem neuen Groß-Europa? Hätte der Westen eventuell mehr zur Unterstützung Russlands unternehmen müssen? Hat der Westen Russlands autoritäres Handeln womöglich selbst provoziert, indem er die NATO immer wieder näher an die russischen Grenzen heranrücken ließ?

Als unbestreitbare Prämisse der aktuellen Politik gilt für den Autor eine für manchen westlichen Politiker unfassbare Tatsache: „Die heutige Entwicklung in Russland ist vom Westen kaum mehr beeinflussbar. Der Westen hat seine historische Chance, auf Russland einzuwirken, vorerst vertan“ (S. 3). Ebenso steht fest, dass die Zeiten, als ein mitleiderregendes Russland um Kredite bettelte und „nach der Pfeife des Westens tanzte“, vorbei sind. In Russland geht es wirtschaftlich bergauf, das Land ist immun gegen Wirtschaftskrisen (S. 2). Die Bedrohungspotenziale wie Kriminalität wurden eingedämmt, die sozialen Probleme werden gelöst. Der Autor vertritt die Meinung, dass historische Beispiele einer solchen Entwicklung nicht einfach vorzufinden sind: „Man muss schon weit in die Geschichte zurückblicken, um sich daran zu erinnern, wann es den Russen besser ging als heute“ (S. 3). Die russische Wirtschaft stünde heute auf soliden makroökonomischen Beinen, so der DGAP-Mitarbeiter. Der Staat komme seinen sozialen Verpflichtungen nach und garantiere eine minimale Rechtsordnung. Das macht einen Riesenunterschied im Vergleich zu der sich beinahe vollzogenen Entwicklung Russlands zu einem Mafiastaat aus.

Man kann durchaus behaupten, dass der Autor des zu besprechenden Buches dem Westen die Schuld für den autoritären Kurs des Kreml gibt. Die erste Runde der Nato-Erweiterung 1998 trotz mündlicher Versicherungen, keine Truppen östlich der Oder-Neiße-Linie zu stationieren, habe zur Rückkehr der Idee eines starken Staates geführt, so Rahr. Nach dem Nato-Krieg gegen Serbien hätten sich die russischen Eliten endgültig vom liberalen Staatsmodell verabschiedet.

Die als russische Regierung getarnten FSB-Mitarbeiter lösten Ihre Aufgaben effizient. Die Ausplünderung von Ressourcen zwecks Bereicherung einzelner Personen wurde gestoppt. Die russische Wirtschaft ist zwar weiterhin in den Händen von 1,5 Prozent der Bevölkerung konzentriert, die wird aber vom Direktorium des „Konzerns Russland AG“ verwaltet. Die Mechanik sowie die Feinmechaniker der „drei Treibwerke des Wiederaufstiegs“ Russlands - der Energiekomplex, der Rüstungskomplex sowie der Transportkomplex - werden im Buch detailliert dargestellt. Die Modernisierungsstrategie Putins sei aufgegangen, behauptet Rahr zusammenfassend.

Selbstverständlich ist Russland keine Demokratie, das politische System ist „defekt“ und die Anklageschrift der Kritiker ist lang. Alexander Rahr verharmlost die Probleme nicht und führt „die Philippika über Putins Russland“ aus (S. 48-61). Er hat allerdings den Mut, über die eurozentrischen Argumentationsmuster hinauszugehen. Das ist nicht selbstverständlich, denn der Autor berichtet selbst, dass Russland für eine Mehrheit in Europa das ferne Land des Bösen darstellt (S. 62). Für Rahr ist Russland dennoch nicht „irreparabel“. Und er zeigt überzeugend auf, dass die Reparaturen schon auf Hochtouren laufen.

Dennoch hat das am Russland-Image nicht viel geändert. Im Unterschied zu Margareta Mommsen und Angelika Nußberger macht Alexander Rahr die von den westeuropäischen Medien transportierten Vorurteile und ständig bedienten Klischees dafür verantwortlich (S. 75). Medien suggerieren eine notorische Bedrohlichkeit Russlands. „Der durchschnittliche Medienkonsument unterliegt daher der falschen Annahme, positive Nachrichten würden nicht gedruckt, weil es sie nicht gibt“ (S. 75). Die von den Medien verbreiteten manipulierten Informationen sorgen für das fehlende Vertrauen in Gegenargumente, die an sich schlüssig und in einem argumentativen Diskurs nachvollziehbar sind (S. 71-75).

Trotz der „natürlichen Partnerschaft“ zwischen Russland und Deutschland ist es Moskau nicht gelungen, die Mauer des Misstrauens zu durchbrechen. Seit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder verschlechterte sich die Situation dramatisch. Die neuen Mitglieder scheinen die EU-Länder förmlich mit der Russlandangst angesteckt zu haben. Für Rahr steht fest: „Putins Affinität gegenüber dem wiedervereinigten Deutschland hätte Politik und Wirtschaft hierzulande geschickter nutzen müssen“ (S. 198). Die strategische Partnerschaft wird zur skeptischen Partnerschaft (S. 202). Dennoch habe sich an den Rahmenbedingungen deutscher Russlandpolitik nicht geändert, so der Russland-Experte. Trotz der Ostpolitik reduxe der deutschen Kanzlerin, die TAFTA (Transatlantic Free Trade Area) auf Kosten von RUFTA favorisierte, sieht Alexander Rahr ein größeres Potential der Zusammenarbeit zwischen Berlin und Moskau, als es der momentane Anschein suggeriert. Der Autor macht aber deutlich, dass den deutsch-russischen Beziehungen überzeugende Akteure und Strategien fehlen, um die Annäherung mit gleicher Leidenschaft zu betreiben, wie zwischen Deutschen und Franzosen bzw. Amerikanern der Fall war.

Aktive Annäherung beider Partner ist auch insofern problematisch, als die neuen EU-Mitglieder kaum bereit sind, die deutsch-russischen Sonderbeziehungen zu tolerieren. Russland spalte die EU in das „alte“ und „neue“ Europa, wie der Irak-Krieg 2003 (S. 219). Die russischen Eliten tragen ohne Zweifel eine Mitschuld an einem unlösbaren Weltanschauungskonflikt mit der EU, so der Autor (S. 220). Genauso wenig wie im Bereich der Menschenrechte unternimmt Moskau, um sich mit den antikommunistisch-antirussischen Eliten der Warschauer-Pakt-Staaten auszusöhnen (S. 221). Darunter leidet auch das deutsch-russische Verhältnis: „Letztendlich erlaubten die neuen EU-Mitgliedstaaten Deutschland nicht, eine europäische Ostpolitik für Russland zu konzipieren“ (S. 222).

„Gerade an Russland scheiden sich die europäischen Geister“, so Rahr (S. 220). Trotz Fehlschritte von den Eliten Russlands bedingen die Ereignisse wie Lieferstopp des Gases für die Ukraine u.a. nicht unmittelbar die westliche Wahrnehmung. Denn die herrschende Rhetorik gegenüber Moskau findet in der des Kalten Krieges ihr historisches Pendant, als ob das Ziel westlicher Politik darin bestehen würde, das Putin-Regime genauso wie den Kommunismus zu stürzen (S. 221).

In diesem Zusammenhang gewinnt der folgende Vorschlag von Rahr an Brisanz: „Vielleicht könnte sich die künftige Ostpolitik das Ziel setzen, nicht mitteleuropäische Staaten vor Russland in Schutz zu nehmen. Vielmehr gilt es Wege zu finden, Russland nicht aus Europa herauszudrängen. Wenn schon keine strategische Partnerschaft zustande gekommen ist, sollte der Westen wenigstens ein anderes Ziel verfolgen: die friedliche Koexistenz mit Russland auf dem europäischen Kontinent. Darauf zu warten, bis der Ölpreis in den Keller sinkt und Russland wieder schwach wird, kann keine ernsthafte Strategie sein“ (S. 226).

Das Buch von Alexander Rahr liefert Antworten auf die Fragen, welche Folgen der Rückzug Russlands aus Europa haben sowie für welchen Akteure so eine Entwicklung nicht ungelegen kommen würde.

Das Buch „Russland gibt Gas“ stellt eine Wasserscheide in der Literatur über Russland dar. Man muss die Argumente von Alexander Rahr nicht teilen. Sein Buch ist aber schwerlich zu ignorieren. Es ist schwierig, nach dem Erscheinen dieses Buches in der überkommenen Art und Weise über Russland zu schreiben, denn es hat einen neuen Standard gesetzt.

LESEPROBE

Entmachtung der Oligarche und der Fall Jukos

„Um seine Wiederwahl im Jahre 1996 zu garantieren, schloss Jelzin mit den Oligarchen ein Bündnis. Sie sollten seine Kampagne unterstützen, als Belohnung schenkte er ihnen die strategischen Rohstoffbestände und Industrieanlagen des Landes. So wurden die Ressourcen ausgeplündert. Das Kapital bunkerten sie auf westlichen Konten. Gleichzeitig fehlte dem Staat das Geld für notwendige Investitionen. Als die Wirtschaft 1998 kollabierte und die westliche Geschäftswelt Hals über Kopf aus dem Land floh, sah Jelzin noch den Ausweg, das Schicksal des Landes in die Hände der Geheimdienste zu legen.

Putin traf sich mehrmals mit den Oligarchen und machte ihnen klar, sich aus der großen Politik herauszuhalten. Die meisten verstanden, dass die Zeiten sich geändert hatten. Chodorkowski gehörte nicht dazu“ (S.7).

„Als er merkte, dass der Kreml ihm den Weg zur Fusion mit Sibneft versperrte, beschloss er die zur größten und unabhängigsten Ölgesellschaft aufgestiegene Firma für 40 Milliarden US-Dollar, also um Zehnfaches des Kaufpreises, an einen amerikanischen Ölmulti in Texas abzustoßen und sich mit dem Gewinn in die große Politik einzukaufen. […] Der Kreml konnte nicht zulassen, dass 30 Prozent des nationalen Ölsektors mit einem Federstrich in internationalen Besitz übergingen, gerade in einer Zeit, als die Regierung Russlands Energieressourcen für den politischen Aufstieg des Landes in die erste Liga der Weltpolitik instrumentalisieren wollte“ (S. 6).

Abwehr von Firmenübernahmen durch Russen

„Heute, nachdem die mitteleuropäischen Staaten vollständig der EU beigetreten sind, hat die Abwehr von Firmenübernahmen durch Russen im Westen Hochkonjunktur. Die neuen EU-Mitglieder haben die alten mit ihrer Russlandangst förmlich angesteckt. Russland besitzt kein geeignetes Instrument, um die Position der EU zu ändern. Im Gegenteil. Würde Moskau die Interessen seiner Konzerne noch stärker artikulieren, geriete es in Verdacht, politische Dominanzansprüche zu stellen“ (S. 14).

Kooperation mit Russland - eine Fiktion

„Die westlichen Irritationen bewiesen, dass alle vorangegangenen Gespräche über eine fruchtbare militärtechnologische Zusammenarbeit mit Russland, unter anderem im Rahmen der NATO-Russland-Partnerscheft, reine Makulatur gewesen sind. Der Westen spielte die Idee der Partnerschaft nur vor. Niemand hatte ernsthaft vor, sie in die Praxis umzusetzen. Es bestand eben doch kein Vertrauen in eine Zusammenarbeit in sensiblen Bereichen. Der Westen möchte keine wirtschaftlichen Konkurrenten neben sich dulden“ (S. 16).

Unbequeme Wahrheiten

„Es ging alles viel zu schnell. Sogar ein gut situierter westlicher Besucher kann sich im heutigen Russland viele der angebotenen Luxusgüter und Vergnügungen nicht mehr leisten. Er neidet deshalb den untergegangen geglaubten Russen ihren Wiederaufstieg. Viel lieber hätte er sich voller Häme über den ständig stolpernden Erzfeind lustig gemacht und sich an der Wodkaseligkeit des ehemaligen Kremlchefs ergötzt“ (S. 65).

„Es werden wohl noch einige Jahre vergehen müssen, bevor die deutschen Eliten begreifen, dass sie einzigartige historische Chance, sich mit einem deutschfreundlichen Präsidenten Russlands zu verständigen, verpasst haben“ (S. 198).

„Moskau konnte und kann sich nicht damit einverstanden erklären, sein staatliches Transportmonopol einer internationalen Aufsicht zu unterstellen. Im Grunde hatten die USA und Norwegen die Europäische Energiecharta ebenfalls nicht akzeptiert“ (S. 227).

„Die Ukraine und Moldawien werden daran gehindert, sich an Reintegrationsprojekten unter russischer Führung zu beteiligen […]“ (S. 73).

„Russland erinnert an einen Heranwachsenden in einer pubertären Phase, der seinen Zieheltern - den westlichen Demokratien - Respekt abverlangt. […] Man darf gespannt sein, wie sich das demnächst volljährige Russland verhalten wird. Vielleicht wie Peter der Große, der gesagt haben soll: “Heute müssen wir von Europa alles erlernen, doch wenn wir unsere Rückständigkeit aufgeholt haben, werden wir Europa unseren Hintern zuwenden…”



Alexander Rahr: Russland gibt Gas. Die Rückkehr einer Weltmacht. Carl Hanser Verlag, München 2008, 19,90 €, ISBN 3.446.413.952

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 28. März 2008; http://de.rian.ru



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