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Woher der Zorn auf Putin?

Der Politologe Alexander Charlamenko über die russische Protestbewegung *


Der Moskauer Politologe Alexander Charlamenko (55), promovierter Philosoph, Abteilungsleiter am Lateinamerika-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften. Gudrun Havemann befragte ihn zur Situation in Russland vor den Präsidentenwahlen am 4. März.


nd: Welche Rolle spielt Russlands Linke in der Protestbewegung, die nach den Dumawahlen am 4. Dezember entstand?

Charlamenko: Die Protestwelle weckte vor allem bei der Jugend Begeisterung. Deren Vertreter, besonders die Linksradikalen um Sergej Udalzow, hatten in vielen Regionen die ersten Meetings organisiert - teils gemeinsam mit der KPRF, vor allem dort, wo es die frechsten Wahlfälschungen zu Lasten der KPRF gegeben hatte. Udalzow selbst wurde jedoch rasch festgenommen, verhaftet wurden auch eine Reihe von ersten Sekretären der Gebietsparteikomitees.

Die Kundgebungen wurden dann bald durch die rechte bürgerliche Opposition vereinnahmt. Dass die rasch aufsattelte, um den Prozess nicht den Kommunisten zu überlassen, ist verständlich. Weniger einsichtig war mir, welch trauriges Bild die KPRF dabei abgab. Am 18. Dezember war die Rede ihres Vorsitzenden Gennadi Sjuganow die zahmste, am 24. erschienen nur noch einzelne Delegierte, keine Spur von Mobilisierung der Parteimassen. So fiel die Organisation der Kundgebungen in die Hände der Rechtspopulisten, die politischen Widersachern entweder gar nicht das Wort erteilten oder ihnen das Mikrofon während der Rede abschalteten.

So erklärt sich also die Abwesenheit sozialer Forderungen?

Ja, selbst unsere professionellen Ökologen wussten nur die Losung »Nieder mit Putin« vorzubringen. Bevor am 24. Dezember der Führer der verbotenen ultranationalistischen »Bewegung gegen gesetzwidrige Immigration« ans Mikrofon trat, heizte der Moderator das Publikum an: »Wollt ihr Nemzow als Präsidenten?« - »Nein!« - Wollt ihr Jawlinski als Präsidenten?« - »Nein!« - »Wollt ihr Alexej Nawalny als Präsidenten?« - »Ja!« Der Messias erschien daraufhin und verkündete: »Wozu brauchen wir Parteien? Wir sind selbst die Partei, wir, die hier versammelten 200 000. Wenn wir wollten, könnten wir den Kreml und das Weiße Haus stürmen! Wir sind die Macht!« Die Emotionen vieler Teilnehmer kochten hoch, ihr Verstand war vernebelt.

Auf Nawalny folgte der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin, ein dem IWF und der Weltbank am nächsten stehender Akteur des neuen Russlands, der - obwohl angeblich Putins Freund - abgesetzt worden war, nachdem er in Washington öffentlich das Regime kritisiert hatte, für das er stand. Nun rief er zur Demokratie auf und schlug vor, Verhandlungen mit der Regierung aufzunehmen, als deren Vermittler er fungieren würde.

Wahlmanipulationen hat es in Russland auch früher schon gegeben, ohne dass sie große Proteste hervorgerufen hätten.

Tatsächlich haben die kaum verheimlichten Wahlfälschungen in den Jahren zuvor unter Jelzin und Putin offenbar weder die Ultralinken oder die Intellektuellen vom Schlage Garri Kasparows, noch die demokratiebewusste westliche Welt besonders gestört. Solange nämlich Putin noch nicht einen größeren Teil der herrschenden Klassen gegen sich aufgebracht hatte - sowohl der in Russland als auch der globalen. Darin sehe ich einen wichtigen Wendepunkt.

Wodurch hat er deren Zorn auf sich gezogen?

Vor allem wohl dadurch, dass er eine stärkere wirtschaftliche Annäherung an China betrieb, die Integration ehemaliger Sowjetrepubliken einleitete, die Kontakte zu Venezuela und anderen links regierten lateinamerikanischen Staaten intensivierte und sich mit Dmitri Medwedjew um die Bewertung der libyschen Ereignisse im März 2011 stritt - er verurteilte die Aktionen der Gaddafi-Gegner.

Kurz darauf war US-Vizepräsident Joseph Biden in Russland und forderte, dass Putin sich nicht wieder als Präsidentschaftskandidat ins Spiel bringen sollte, andernfalls würden die USA die Opposition unterstützen - mit deren wichtigsten Vertretern er sich prompt traf.

Demnach sind es die USA, denen Putin ein Dorn im Auge ist?

Ich denke, dass zwischen dem Regime Putin-Medwedjew und dem von den USA und der NATO vertretenen Lager scharfe Widersprüche entstanden sind. Sie haben etwa dasselbe Ausmaß wie diejenigen, die zur Zerschlagung Libyens führten und nun auch Syrien und Iran drohen und die Angriffe gegen China verursachen. Regimes, die man als staatskapitalistisch bezeichnen muss und die noch mit frühsozialistischen »Restbeständen« behaftet sind - dazu gehört das Putin-Regime - fügen sich nicht gut in das heutige globale Herrschaftssystem ein. Versuche ihrer Führer, doch in dieses System aufgenommen zu werden, indem sie Loyalität, Marktkonformität oder demokratische Bemühungen demonstrieren, werden nicht belohnt. Im Gegenteil, sie enden letztlich mit ihrer Zerschlagung und Ersetzung durch Regimes, die der global herrschenden Klasse adäquater sind.

Oft wird aber nur eine Seite gesehen: Entweder hat man nur die aggressive Weltmachtpolitik der USA im Blick oder nur die inneren sozialen und politischen Kämpfe in arabischen, lateinamerikanischen oder osteuropäischen Staaten. Beide Seiten sind aber eng miteinander verknüpft und stehen in Wechselwirkung. Bisher behielt die rechte Reaktion darin leider die Oberhand.

Und wie gehen die Präsidentschaftswahlen im März Ihrer Meinung nach aus?

Ich rechne mit einem Sieg Putins - einen normalen Verlauf und keine neuerlichen internationalen Erschütterungen vorausgesetzt. Für einen größeren Teil der Bevölkerung, vor allem in den Regionen, gilt Putin als das geringere Übel.

Wie allerdings die Sache ausgeht, wenn die Wahlergebnisse massiv bestritten werden, kann keiner mit Sicherheit sagen. Und wenn es zeitgleich wieder zu einem Ausbruch tragischer Ereignisse etwa im Nahen oder Mittleren Osten kommen sollte, hätte das zweifellos Auswirkungen auf Putins Stellung.

Es gibt noch eine andere Gefahr: Selbst wenn Putin eindeutiger Wahlsieger und Medwedjew Ministerpräsident werden sollten, hat letzterer schon verlauten lassen, er beabsichtige, eine große Koalition zu bilden, in die vermutlich einige Anführer des bürgerlichen Lagers aufgenommen werden würden. Die würden der Politik einen Rechtsruck bescheren, wie er in der Ukraine nach der Wahl Viktor Janukowitschs stattfand. Auch der galt als kleineres Übel und bildete dann eine Rechtsregierung mit Leuten, gegen die zuvor die Mehrheit der Bevölkerung gestimmt hatte.

* Eine längere Fassung des Interviews erscheint in der Märzausgabe der "Marxistischen Blätter".

Aus: neues deutschland, 20. Februar 2012



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