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Massenprotest in Moskau

Die größte Kundgebung seit 20 Jahren forderte Neuwahlen zum russischen Parlament

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Organisatoren der Moskauer Demonstration am Samstag sprachen von mindestens 60 000 Teilnehmern, einige Beobachter sogar von 100 000, die Polizei, die sich korrekt verhielt und dafür gelobt wurde, von gut 25 000: Es war der größte Massenprotest, seit im August 1991 das Notstandskomitee gegen Gorbatschow und die Perestroika putschte.

15:41 Moskauer Zeit. Ex-Premier Michail Kasjanow tritt bei der Protestversammlung auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz ans Mikrofon. In Russland, sagt er, hätten politische Veränderungen begonnen, die nicht mehr rückgängig zu machen seien. Linke und Rechte hätten die Reihen geschlossen, das Volk sei es leid, als Pöbel behandelt zu werden, dessen Stimme nichts gilt. Wenn die Machthaber bis Jahresende die unfairen und teilweise sogar gefälschten Parlamentswahlen vom 4. Dezember nicht für ungültig erklären und neue anberaumen, »wissen wir, was wir am 4. März bei den Präsidentenwahlen zu tun haben. Wir werden dafür sorgen, dass Putin nicht in den Kreml zurückkehrt«.

Neuwahlen stehen ganz oben im Forderungskatalog, den die Protestler zu Ende der fast vierstündigen Kundgebung verabschieden. Ebenso die Absetzung vom obersten Wahlleiter Wladimir Tschurow, gegen den auch wegen Fälschung ermittelt werden soll, die Freilassung politischer Gefangener und die Zulassung oppositioneller Parteien. Wie angestrebt, haben die Dissidenten der Macht vor Augen geführt, dass der Protest inzwischen Massencharakter trägt. Auch in anderen russischen Städten waren Zehntausende auf der Straße. Unklar ist jedoch, wie es weitergehen soll.

Koordinator der Proteste ist das 2008 von liberalen, nicht im Parlament vertretenen Gruppen gegründete Bündnis »Solidarnost«. Dessen Aufruf waren auch viele Splittergruppen gefolgt, linke, rechte und umweltbewegte. Die Masse der Teilnehmer indes waren Menschen, die weder mit einer dieser Gruppen noch mit der parlamentarischen Opposition sympathisieren und bislang mit Politik überhaupt nicht viel am Hut hatten. Schon die Erklärung von Präsident Dmitri Medwedjew und Premier Wladimir Putin auf dem Wahlparteitag von »Einiges Russland« Ende September, wonach ihr Rollentausch schon vor vier Jahren abgemacht gewesen sei, brachte viele auf. Als dann die Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen publik wurden, war ihre Geduld aufgebraucht. Vor allem die neuen Medien brachten diese Klientel zusammen und sorgten dafür, dass kritische Blogs oder Diskussionsforen in sozialen Netzen zu realem Aufbegehren führten.

Das organisatorisch zu strukturieren, der Unzufriedenheit eine konkrete Stoßrichtung zu geben, ist derzeit die eigentliche Herausforderung für »Solidarnost«. Zumal die meist jungen, gebildeten Internet-Benutzer Politikern aller Couleur gründlich misstrauen. Ähnlich schwer dürfte es werden, Nationalisten, Monarchisten, Anarchisten, Ultralinke und Grüne für längere Zeit auf konzertierte Aktionen oder gar ein gemeinsames Programm einzuschwören. Denn bisher eint die Protestler nur die gemeinsame Gegnerschaft gegen Putin und dessen Hausmacht. Über den nächsten Schritt haben »Solidarnost« und Partner bisher nur sehr vage Vorstellungen.

Dazu kommt, dass in Russlands politischer Kultur Koalitionen und Kompromisse traditionell verpönt sind. Beide setzen Abstriche an eigenen Positionen voraus, was meist als Schwäche ausgelegt wird. Daran droht nicht nur ein kampffähiges Bündnis der Regimegegner, sondern auch die einvernehmliche Beilegung der Krise zu scheitern. Zwar sagte Andrei Issajew aus der Führung von »Einiges Russland« gleich nach dem Treffen, die Stimme des Volkes werde »gehört werden«. Doch schon kurz danach ruderte Putins Pressechef zurück: Noch sei nicht klar, ob und wie die Regierung zu den Protesten Stellung nehmen werde.

Beobachter glauben, die Duma werde sich noch vor Jahresende konstituieren und Medwedew in seiner Jahresbotschaft unverbindliche Reformzusagen machen - in der Hoffnung, dass die Proteste dann erst mal abebben. Ob die Rechnung aufgeht, könnte schon das nächste Protestmeeting zeigen, das Solidarnost für den 24. Dezember plant, falls bis dahin kein Verhandlungsangebot vorliegt.

* Aus: neues deutschland, 12. Dezember 2011


Zweckbündnis

Proteste nach Duma-Wahlen

Von Werner Pirker **


Waren es 25000 Menschen, die am Sonnabend nach Polizeiangaben in Moskau gegen die Ergebnisse der Duma-Wahlen protestierten, oder waren es 100000, wie es die Organisatoren des Protestes behaupten? Die tatsächliche Teilnehmerzahl dürfte irgendwo dazwischen gelegen haben. Auf jeden Fall hat die Opposition gegen die Staatspartei Einiges Rußland, die bis dahin selten mehr als ein paar hundert Leute zu mobilisieren in der Lage war, diesmal ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben. Die »kritische Masse«, die zu einem Umsturz der Machtverhältnisse befähigt, ist indes bei weitem noch nicht erreicht.

Es sind nicht die Basisschichten der Gesellschaft, die bisher in Bewegung geraten sind. Als das »politische Gewissen« des Landes treten vielmehr eher die städtischen intellektuellen Zwischenschichten, die sich als »die Zivilgesellschaft« zu präsentieren belieben, in Erscheinung. In ihrem politischen Habitus erinnern sie an die Bewegung »Demokratisches Rußland«, das 1991 maßgeblich zum Sturz des KPdSU-Regimes beigetragen hat. Dazu kommt die sogenannte Internetgeneration, die die Sowjetunion nur noch vom Hörensagen kennt. Zum Protest aufgerufen haben jedoch nicht nur die liberalen »Bürgerrechtler«, die Jelzins Putsch gegen die Demokratie 1993 mitgetragen hatten, sondern auch die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) und Gerechtes Rußland. Die Kommunisten, die mit 20 Prozent die zweitmeisten Stimmen erhielten, fühlen sich von den Stimmauszählern um mindestens fünf Prozent betrogen. Gerechtes Rußland war ursprünglich eine Kreml-Erfindung, dazu gedacht, die soziale Unzufriedenheit zu kanalisieren.

Das Machtlager um Wladimir Putin war gut beraten, auf die Demonstrationen in Moskau und anderen russischen Städten nicht mit nackter Polizeigewalt zu reagieren. Man wolle den Demonstranten zuhören, ließ Putin über seinen Sprecher ausrichten. In der Hauptsache scheint man hingegen zu keinen Zugeständnissen bereit zu sein. Die Abwahl des Wahlleiters Wladimir Tschurow wurde von der Zentralen Wahlkommission abgelehnt.

Als »Demokratiebewegung« à la bunte Revolution wird die heterogene russische Opposition, in der die Antagonisten der 1990er Jahre, Kommunisten und Liberale ein Zweckbündnis eingegangen sind, dem Machtblock nicht gefährlich werden können. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Fälschungsvorwürfe haben die Wahlen eindrucksvoll bestätigt, daß das etatistisch-nationalpatriotische Spektrum – Einiges Rußland, KPRF und Gerechtes Rußland – in der Wählergunst absolut dominant ist. Was die gegenwärtigen Proteste für das Machtlager so gefährlich macht, ist die allgemeine Unzufriedenheit, deren soziale Dimension von der aktuellen Bewegung nicht adäquat reflektiert wird. Die staatliche Stabilisierung ging einher mit sozialer Stagnation. Erst wenn sich die Demokratiefrage mit Emanzipationsbestrebungen der Unterschichten verknüpft, wird es für Putin und die Seinen wirklich eng.

** Aus: junge Welt, 12. Dezember 2011


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