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Putin macht Clinton verantwortlich

Anhaltende Proteste gegen Wahlmanipulationen in Rußland seien von USA unterstützt *

Die russische Regierung macht die USA für die Proteste gegen Unregelmäßigkeiten bei der Parlamentswahl am vergangenen Sonntag verantwortlich. Ministerpräsident Wladimir Putin warf am Donnerstag US-Außenministerin Hillary Clinton vor, die Opposition in Rußland zu unterstützen. Clinton habe die Parlamentswahl schon zu einem Zeitpunkt als manipuliert bezeichnet, als noch gar keine Berichte von Beobachtern vorgelegen hätten. Damit habe sie »gewissen Figuren« ein Zeichen gegeben, erklärte Putin in einer im Fernsehen übertragenen Rede. »Sie haben das Signal gehört und dann mit der Unterstützung des US-Außenministeriums mit ihrer Arbeit begonnen.« Putin drohte, wer mit ausländischen Regierungen zusammenarbeite, um die russische Politik zu beeinflussen, werde zur Rechenschaft gezogen.

Tatsächlich hatte das State Department in Washington unmittelbar nach der Abstimmung angekündigt, die Finanzhilfen für russische Nichtregierungsorganisationen im Vorfeld der bevorstehenden Präsidentschaftswahl zu erhöhen. »Wir müssen mehr als neun Millionen Dollar für die Unterstützung eines freien und transparenten Prozesses bei den bevorstehenden Wahlen in Rußland ausgeben. Wie Sie wissen, liegt es in unserem Interesse, die Nichtregierungsorganisationen sowie den Prozeß selbst und nicht irgendwelche einzelnen politischen Parteien zu unterstützen«, erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Marc Toner. Zugleich räumte er ein, daß auch die Wahlbeobachtungsorganisation »Golos« (Stimme), die in den letzten Tagen besonders stark die Unregelmäßigkeiten bei der Wahl angeprangert hatte, von Washington Geld bekommt. »Golos ist eine der vielen Nichtregierungsorganisationen, die von uns Hilfen erhalten«, sagte er.

Bei der Wahl hatte Putins Partei Einiges Rußland dem offiziellen Ergebnis zufolge die Mehrheit in der Staatsduma mit einem Stimmenanteil von 50 Prozent nur knapp behaupten können. Vor vier Jahren hatten noch 64 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Regierungspartei votiert.

Mehrfach waren in den vergangenen Tagen Demonstranten in Moskau und St. Petersburg ungeachtet massiver Polizeipräsenz auf die Straße gegangen, um gegen die ihrer Ansicht nach massiven Manipulationen bei der Wahl vom Sonntag zu protestieren. Hunderte wurden festgenommen. Gleichzeitig forderte Putin einen Dialog mit der Opposition. Diese müsse die Möglichkeit zu Demonstrationen haben, auch wenn einige ihrer Vertreter »eigennützige Ziele« verfolgten. »Wir dürfen niemand in seinen Bürgerrechten einschränken. Wenn aber jemand das Gesetz verletzt, müssen die Staatsführung und die Sicherheitskräfte die Vollstreckung des Gesetzes mit allen legalen Mitteln durchsetzen«, sagte Putin am Donnerstag bei einer Sitzung der von ihm gegründeten »Volksfront«, einer aus 40 Vereinigungen gebildeten Vorfeldorganisation der Regierungspartei.

Der Chef der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), der parlamentarisch stärksten Oppositionskraft, Gennadi Sjuganow, warf am Donnerstag (8. Dez.) den »unglücklichen ›Gewinnern‹« der Wahl vor, nur mit Gewalt auf den »gerechten Zorn« der protestierenden Bürger zu reagieren. Er forderte die Untersuchung der Vorgänge am 4.12. durch das Parlament, den Rücktritt von Wahlkommissionschef Wladimir Tschurow und die Bestrafung der für Manipulationen Verantwortlichen.

Bereits am Dienstag (6. Dez.) hatte der russische Präsident Dmitri Medwedew die Wahlbehörde aufgefordert, sämtliche Unregelmäßigkeiten aufzuklären. Dabei warnte der promovierte Jurist, im Internet verbreitete Videos für unumstößliche Belege für Manipulationen zu halten. »Derartige Beweise erlauben keine Rückschlüsse auf Fairneß oder Unfairneß der Wahlen«, sagte Medwedew. Sie seien »im besten Fall Anlaß für eine Überprüfung und im schlimmsten Fall Provokationen«. Der Staatschef kündigte an, sich »demnächst« mit den Chefs der Parteien treffen zu wollen, um die Wahlergebnisse zu diskutieren.

Unabhängige Wahlbeobachter aus den in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) zusammengeschlossenen früheren Sowjetrepubliken bestätigten die Manipulationsvorwürfe zunächst nicht. Die Wahl habe im großen und ganzen den gültigen Standards Rechnung getragen, Verstöße hätten lediglich technischen Charakter und hätten sich deshalb nicht auf die Resultate der Abstimmung ausgewirkt.
(dapd/AFP/Nowosti/jW)

* Aus: junge Welt, 9. Dezember 2011


Putin: USA sind mitverantwortlich

Massenfestnahmen und Verurteilungen Dutzender Kremlkritiker in Russland

Von Irina Wolkowa, Moskau **


Nach Festnahmen und Verurteilungen Dutzender Kremlkritiker spricht die russische Opposition von den massivsten Repressionen seit dem Beginn der Ära Putin vor elf Jahren. 47 Regierungsgegner sind zu Arreststrafen zwischen vier und 15 Tagen verurteilt worden. Putin seinerseits warf den USA vor, für die Proteste mitverantwortlich zu sein.

Schon Mittwoch früh (7. Dez.) hatten sich über 10 000 Menschen über soziale Netze wie Facebook als Teilnehmer eines neuen Protestmeetings gegen Manipulationen des Ergebnisses der russischen Parlamentswahlen am 4. Dezember angemeldet, zu dem »Solidarnost « und andere Gruppen der radikalen außerparlamentarischen Opposition für den kommenden Sonnabend (10. Dez.) aufgerufen haben.

Das Problem: Die Moskauer Stadtregierung hat die Kundgebung zwar genehmigt, die Teilnehmerzahl allerdings auf maximal 300 begrenzt. Sollten es mehr werden, sagte ein Sprecher der Behörde, sei man bereit, mit den Organisatoren über einen anderen Ort zu verhandeln. Dazu indes ist die Opposition nicht bereit: Der »Platz der Revolution« ist einen Steinwurf vom Kreml entfernt, der Name lädt dazu ein, Parallelen zu den derzeitigen Entwicklungen zu ziehen, auch wenn er an die Revolution von 1917 erinnern soll. Dazu kommt, dass Anhänger der Regierungspartei Einiges Russland ihre Sympathiekundgebungen mit mehreren tausend Teilnehmern sehr wohl in Kremlnähe abhalten durften.

Der am Mittwoch (7. Dez.) offiziell als Präsidentschaftskandidat registrierte Regierungschef Wladimir Putin, der bisher zu den Protesten geschwiegen hatte, sprach sich am Donnerstag (8. Dez.) für einen Dialog mit der Opposition aus. Sie müsse die Möglichkeit bekommen, ihr Recht auf Demonstrationen wahrzunehmen. »Wir dürfen niemanden in seinen Bürgerrechten einschränken «, sagte Putin in einer Sitzung der von ihm gegründeten Volksfront. »Wenn aber jemand das Gesetz verletzt, müssen die Staatsführung und die Sicherheitskräfte die Vollstreckung des Gesetzes mit allen legalen Mitteln fordern.« Einige der Organisatoren handelten »nach dem bekannten Szenario« und hätten »eng gesteckte eigennützige Ziele «, sagte Putin. Die Mehrheit der Russen aber wolle »keine Entwicklungen wie vor Kurzem in Kirgistan oder der Ukraine«. Putin warf den USA vor, zu den Protesten aufgerufen zu haben. Die Demonstranten »haben dieses Signal erhalten und dann mit Unterstützung des US-Außenministeriums die aktive Arbeit angefangen «, äußerte Putin am Donnerstag (8. Dez.) nach Angaben der Agentur Interfax. Den Westen beschuldigte er, die Opposition in Russland zu finanzieren und gegen die Staatsmacht aufzuhetzen. Vizepremier Igor Schuwalow, Führungsmitglied der Partei Einiges Russland, hatte die Entwicklungen am Vortag als »harte Prüfung« bezeichnet, Altpräsident Michail Gorbatschow sich sogar für Neuwahlen ausgesprochen: Immer mehr Russen würden das Wahlergebnis anzweifeln; die öffentliche Meinung zu ignorieren, diskreditiere die Macht und destabilisiere die Lage.

Von einer Wiederholung des Urnengangs wollen die drei parlamentarischen Oppositionsparteien, die am Sonntag kräftig zulegten, allerdings so wenig wissen wie Einiges Russland. Ohne Schulterschluss zwischen parlamentarischer und außerparlamentarischer Opposition aber erhöht sich die Gefahr einer gewaltsamen Lösung des Konflikts.

Nicht die wachsende Empörung der Massen sei die eigentliche Gefahr, warnte dagegen der Politikwissenschaftler Andrej Piontkowski vom Institut für Systemanalyse der Russischen Akademie der Wissenschaften. Russlands Revolutionen und Aufstände seien stets mehr Palastintrigen gewesen, Entscheidend sei daher die Loyalität der Eliten, und um die stünde es momentan so schlecht wie 1916 oder in der Endphase der Perestroika. Das Regime aber habe keine Ressourcen zum Gegensteuern.

** Aus: neues deutschland, 9. Dezember 2011


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