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Aufräumarbeiten in Moskau

Nach dem Pogrom in Birjulowo rollen Köpfe bei der Polizei, aber sonst tut sich nichts

Von Reinhard Lauterbach *

Fünf Tage nach dem Mord an einem 25jährigen Moskauer im Stadtteil Birjulowo hat die Polizei einen Tatverdächtigen benannt. Es soll sich um einen 31jährigen Aserbaidschaner handeln, der auch in seinem Heimatland wegen Gewaltdelikten auf der Fahndungsliste stehe. Der Verdächtige sei anhand von Aufnahmen einer Überwachungskamera identifiziert worden, teilte die Polizei mit.

Von den mehreren hundert Faschisten, die am Sonntag im Zuge der Ausschreitungen um den Gemüse-Großmarkt in Birjulowo festgenommen wurden, sind inzwischen alle wieder auf freiem Fuß. Gegen zwei von ihnen wurden Ermittlungen wegen »Rowdytums« aufgenommen, den Rest ließ die Polizei nach Feststellung der Personalien laufen.

Aus Augenzeugenberichten kristallisiert sich inzwischen heraus, daß an dem Pogrom nicht nur »ein Häufchen aufgetauter Nationalisten« teilnahm, wie es die russische Regierung darstellte, sondern auch Anwohner des inmitten eines Wohngebiets liegenden Großmarkts. Wie das Nachrichtenportal lenta.ru berichtet, funktionierten die Faschisten eine spontane Trauerkundgebung der Anwohner für den ermordeten Jegor Schtscherbakow vor der örtlichen Polizeiwache zu einer migrantenfeindlichen Veranstaltung um und riefen bereits am Samstag abend zu einem »Volksmarsch« gegen den Großmarkt auf. Ihre selbsternannten Patrouillen lieferten sich bereits in der Nacht zum Sonntag kleinere Zusammenstöße mit der Polizei. Ein Vertreter der Bezirksverwaltung, der auf der Kundgebung die Menschen beruhigen wollte, wurde von den Faschisten unter dem Applaus von Anwohnern niedergeschrien. Die Hauptparole des Abends war »Wir sind Russen, wir sind hier zu Hause«. Moskauer Journalisten beschrieben die Vorgänge als die größte migrantenfeindliche Kundgebung seit drei Jahren und die Täter als weit besser organisiert als seinerzeit.

Nachdem es den Behörden nicht gelungen war, den Pogrom von Birjulowo zu verhindern, entwickelten sie am Tag danach hektische Aktivität. Nicht nur, daß der Polizeichef des Stadtbezirks entlassen wurde; auf dem verwüsteten Großmarkt trafen Vertreter aller möglichen Ämter von der Lebensmittelkontrolle bis zur Steuerfahndung ein und fanden prompt, wonach sie vorher offenbar nicht gesucht hatten: Verstöße gegen ziemlich sämtliche Bestimmungen der Lebensmittelhygiene, undurchsichtige Buchführung und dergleichen. Der oberste Lebensmittelkontrolleur Rußlands forderte, den Markt ganz zu schließen. Dies würde eine Forderung der Anwohner erfüllen, die sich seit Jahren ohne Erfolg gegen die Belästigung durch den ständigen LKW-Verkehr gewehrt hatten.

Doch die Betreiber genießen – oder genossen zumindest bisher - offenbar politische Protektion. Nach den Ausschreitungen meldete sich der Ehrenvorstandsvorsitzende der Gesellschaft zu Wort, die den Markt betreibt. Es handelt sich um den einstigen Testpiloten des sowjetischen Raumgleiters »Buran«, Magomed Talbojew. Der als »Held Rußlands« dekorierte Oberst der Luftwaffe beschuldigte korrupte örtliche Behörden, sie hätten die Mißstände um den Markt eskalieren lassen. Und er dementierte, was niemand behauptet hatte: der Großmarkt habe mit dem Mord an Jegor Schtscherbakow zu tun. Was ihn, einen in der Sowjetunion wie im neuen Rußland bestens vernetzten Mann, ausgerechnet mit dem Gemüsehandel verbindet, blieb offen. Talbojew ist selbst Dagestaner; es ist gut vorstellbar, daß er von Landsleuten, die in dieser Branche tätig sind, als sogenannte »kryscha« angeheuert wurde. Das russische Wort bedeutet »Dach« und bezeichnet jemanden, der für Vorhaben aller Art politische Rückendeckung organisiert. Solche Protektion gilt als unerläßliche Bedingung, wenn man in Rußland Geschäfte machen will. Daß sie nicht unentgeltlich gewährt wird, versteht sich von selbst. In Deutschland nennt man das »Beratervertrag«.

Die Hinterbliebenen des ermordeten Jegor Schtscherbakow meldeten sich übrigens auch zu Wort. Sie verbaten sich im Namen des Verstorbenen die Instrumentalisierung seines Todes für nationalistische Umtriebe. Das orthodoxe Moskauer Patriarchat ließ sich davon nicht stören. Es rief am Montag zum »heiligen Krieg« gegen »Schattenwirtschaft und ethnische Kriminalität, gegen die Unverschämtheit von Zuwanderern, die einen gefährlichen reaktiven Radikalismus provoziert« auf. Die Faschisten hätten die Motive ihres Pogroms nicht schöner formulieren können.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 16. Oktober 2013


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