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Rußland im Zangengriff

Das Jahr 2005 im Rückblick

Von Werner Pirker*

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bildete Rußland das Zentrum der allgemeinen Zivilisationskrise. Das Land, das sich des Sozialismus entledigt hatte und damit in der Weltzivilisation angekommen zu sein meinte, entwickelte eine gigantische Selbstzerstörungskraft. Das entsprach durchaus den Anforderungen des neuen internationalen Ordnungssystems. Das »neue Rußland« war nicht als mächtiger kapitalistischer Nationalstaat, als »global player« bei der Neuaufteilung der Welt vorgesehen. Es stand auf der imperialistischen Rechnung einzig als besiegtes Land zu Buche.

Die kapitalistische Akkumulation in Rußland zersetzte die Volkswirtschaft. Der Logik der »unsichtbaren Hand des Marktes« gemäß korrespondierte die Gier der »Neurussen« auf wundersame Weise mit den Plänen der internationalen Finanzzentren zur feindlichen Übernahme des russischen Wirtschaftspotentials. Mit der Wirtschaft zerfiel auch die Staatlichkeit. Die russische Landmasse war als Niemandsstaat geplant. Am Ende der Jelzin-Ära war nur noch dessen Hofstaat übriggeblieben. Wladimir Putin verhieß das Ende der »Zeit der Wirren«. Er vertrieb die Oligarchen, die eine neurussische Bojarenherrschaft zu errichten gedachten, aus dem Kreml. Nach westlicher Deutung markiert Putins Machtübernahme das Ende des Liberalismus in Rußland.

Entscheidende Bresche

2005, im Jahr Sechs nach Jelzin, ist Rußland wieder verstärkt in die Negativschlagzeilen gerückt. Die Wiederherstellung einer durchgreifenden Zentralgewalt wird als eine Rückwendung zum Autoritarismus, der Neuaufbau einer selbstbestimmten Nationalökonomie als Neuauflage der Staatswirtschaft verdammt. Die »Unberechenbarkeit des Moskowiterreiches«, die es den Westmächten bereits unmittelbar nach dem Ende des Kalten Krieges für ratsam erscheinen ließ, den eurasischen Großstaat unter Quarantäne zu stellen, ihn durch die Erweiterung des NATO-Hoheitsgebietes bis an seine Grenzen einzukreisen, ist zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden. Das hat die Feinseligkeit gegenüber Rußland noch weiter verstärkt. Sie äußert sich vor allem in den Versuchen, die Russische Föderation von ihrem historischen Umfeld zu isolieren und sie so als geopolitische Größe auszuschalten.

Mit dem Umsturz in der Ukraine im Dezember 2004 ist es dem Hegemonialkartell gelungen, in das von Moskau unterhaltene Bündnissystem ehemaliger Sowjetrepubliken eine entscheidende Bresche zu schlagen. Die Installierung prowestlicher Regime in den postsowjetischen Republiken äußert sich als postmoderne Folklore, als »bunte Revolutionen«. Der Sturz Schwewardnades 2003 bildete den Auftakt. Das war noch kein wirklicher strategischer Terraingewinn für die imperialistischen Hauptmächte und mehr als eine Demonstration ihrer unbegrenzten Zugriffsmöglichkeiten gedacht. Der Machwechsel in der Ukraine aber war auf die Zerstörung eines strategischen Bündnisses gerichtet.

Nach dem kapitalistischen Eigentumsumsturz 1991 und der daraus folgenden Auflösung der UdSSR haben wir es mit einer zweiten Welle der Konterrevolution zu tun. Die erste bildete die soziale Revanche an der Oktoberrevolution. Die zweite folgt dem Programm der Unterwerfung unabhängiger Nationen unter das Diktat der weltmarktbeherrschenden Mächte. Ihr strategisches Fernziel ist die Einnahme Moskaus. Die bunten Revolutionen mit ihren Symbolen aus der Welt der kapitalistischen Warenproduktion folgen einem gewaltigen Trugbild, dem Trugbild einer sich dem staatlichen Machtregime entziehenden autonomen »Zivilgesellschaft«. Sie gründen auf der sozialen Naivität der Massen. Sie konterkarieren das revolutionäre Gesetz einer radikalen Umwälzung der bestehenden Macht- und Besitzverhältnisse und bringen in der Regel die am engsten mit ausländischen Kapitalinteressen verbundenen Kräfte an die Macht.

Der ukrainischen Revolution der Orangen folgte im März 2005 die kirgisische Revolution der Tulpen. So schnell sind Tulpen noch nie verblüht. Eine von sozialer Unzufriedenheit getriebene Massenbewegung bildete lediglich die Statisterie für eine Umgruppierung der Eliten, die den Staatsapparat erodieren, oder besser: ins andere Lager hinübergleiten ließ. Der gleiche Staatsapparat erwies sich drei Monate später als völlig intakt, als die gleichen Massen zur Bekräftigung ihrer Forderungen das gleiche Szenario noch einmal probierten. In Amt und Würden gelangt, waren die friedlichen Revolutionäre keineswegs darauf eingestellt, ihre Macht friedlich zu behaupten und unterbanden den zweiten Akt der Revolution gleich im Ansatz.

Im Mai kam es in Usbekistan zu einer Massenerhebung. Sie erstickte im Blutbad von Andischan. Denn eine Revolution ist so friedlich wie es die Polizei erlaubt. Der usbekische Staatsapparat aber war für einen Umsturz nicht zu gewinnen. Er folgte dem natürlichen Gesetz einer Diktatur. Das war um so natürlicher, als der Westen keinen Bedarf nach einem Machtwechsel in Usbekistan hatte, da er dort ohnedies bereits über Militärstützpunkte verfügte und die friedliche Massenbewegung islamistisch inspiriert war. Die usbekischen Ereignisse haben den Mythos der friedlichen Revolution nachhaltig beschädigt.

Die Achse Washington-Brüssel sah im November auch wenig Grund, der Zivilgesellschaft in Aserbaidschan zum Sieg zu verhelfen. Vor allem die USA haben sich ihre Zugriffsrechte auf die Ölreserven an der Kaspischen See ohnedies bereits gesichert.

Indessen werden die westlichen Aktivitäten zur Vorbereitung eines Umsturzszenarios in der Republik Belarus immer hektischer. Denn dort läuft nichts wie es laufen sollte. Unter Präsident Alexander Lukaschenko hat die Republik ein selbstbestimmtes wirtschaftliches und soziales Modell entwickelt, das den zentralen Dogmen des Neoliberalismus zuwiderläuft. Doch weil dieses auch funktioniert, fehlt der Opposition in der Weißen Rus jede ernsthafte Grundlage. Auch wenn die Vertreter westlicher NGOs als Handelsreisende in Sachen Demokratie und Menschenrechte noch so eifrig unterwegs sind. Lukaschenko wird bei den Wahlen im März wieder nicht zu schlagen sein.

Westliches Credo

Doch der Klassenfeind, wie man zu sowjetischen Zeiten zu sagen pflegte, schläft nicht. Auch wenn Putin ein Antikommunist ist und er sein Lebenswerk in der Entwicklung eines stabilen, konkurrenzfähigen Kapitalismus in Rußland sieht, weiß er als ehemalige KGB-Mann bestens um die antirussischen Intrigen der westlichen Dienste Bescheid. Und er kennt ihr Credo, daß nur ein schwaches Rußland ein gutes Rußland sei. Vorsorglich haben beide Kammern des Parlaments im Dezember ein Gesetz verabschiedet, das die Tätigkeit russischer Nichtregierungsorganisationen der behördlichen Aufsicht unterstellt, wobei vor allem auf deren Vernetzung mit der »internationalen Zivilgesellschaft« ein wachsames Auge geworfen werden soll.

Eine zweite Welle der Konterrevolution könnte Rußland nicht mehr verkraften. Die erste war schon schlimm genug. Sie hatte zudem im August 1991 das Szenario einer »bunten Revolution« bereits vorweggenommen. Und auch damals hatten nicht die Massen den Ausschlag gegeben, sondern die das sinkende Schiff verlassenden Eliten. Die Folgen für die russische Gesellschaft waren vernichtend.

* Aus: junge Welt, 31. Dezember 2005


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