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"Neue Etappe" für NATO und Russland

Antrittsbesuch von Generalsekretär Rasmussen in Moskau / Allianz will Hilfe in Afghanistan

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Drei Tage hatte sich Anders Fogh Rasmussen, der neue NATO-Generalsekretär, für seinen heute zu Ende gehenden Antrittsbesuch in Russland Zeit genommen, und die brauchte er auch. Neben einer Audienz im Kreml bei Präsident Dmitri Medwedjew standen Begegnungen mit Premier Wladimir Putin, Außenminister Sergej Lawrow, den Präsidenten beider Kammern des Parlaments und mit Nikolai Patruschew, dem Koordinator des Nationalen Sicherheitsrates, auf dem Programm. Außerdem ein Vortrag vor Hörern und Lehrkräften der Moskauer Diplomaten-Akademie.

Bestehende Differenzen dürften nicht dramatisiert, sondern müssten ausgeräumt werden, sagte Lawrow bei den Gesprächen mit Rasmussen. Beide Seiten hatten schon vor Beginn der Visite Bereitschaft signalisiert, ihr nachhaltig gestörtes Verhältnis zu normalisieren. Grund allen Übels, so Moskaus NATO-Botschafter Dmitri Rogosin in einem Artikel für die Online-Zeitung »Gaseta.ru«, seien die Neumitglieder der Allianz - ehemalige Sowjetrepubliken und einstige Ostblockstaaten, die Russland chronisch misstrauten. Der neue NATO-Generalsekretär indes sei offenbar gewillt, die Beziehungen »vom Ungeziefer der Russophobie« frei zu machen.

In der Tat hatte der Däne schon auf der Außenminister-Tagung des Russland-NATO-Rates Anfang Dezember - der ersten seit Moskaus Krieg mit Georgien im August 2008 - für eine neue Qualität der Beziehungen ausgesprochen. Gestern konnte er sich sogar eine»wahrhaftig strategische Partnerschaft« mit Russland vorstellen. Der russische Staatschef Medwedjew sprach bei seinem Treffen mit Rasmussen von einer »neuen Etappe« in den Beziehungen zwischen Moskau und der NATO. »Wir haben viele gemeinsame Interessen und Themen zu erörtern«, sagte er. Beide Seiten müssten gemeinsam gegen Bedrohungen wie den Terrorismus und Kriminalität kämpfen. Auf Rasmussens Tagesordnung standen auch Washingtons Raketenabwehrpläne für Osteuropa, Irans Kernforschungsprogramm, die Situation im Nahen Osten, die gemeinsame Bekämpfung von Piraterie sowie gegenseitige Hilfe bei Natur- und technischen Katastrophen.

Das alles allerdings hängt vor allem davon ab, inwieweit beide Seiten auch bereit sind, die Wunschzettel des jeweils anderen zu erfüllen. Und die sind sehr umfangreich. So will die NATO Russlands Einflussmonopol im »postsowjetischen Raum« - was auch den Verzicht auf eine neuerliche Osterweiterung der Allianz bedeuten würde - nur dann respektieren, wenn Moskau sich zu maximaler Kooperation beim Afghanistan-Einsatz durchringt.

Rasmussen legte nach eigenen Angaben eine Liste mit konkreten Vorschlägen vor. Russland könne mit der Lieferung von Hubschraubern und dazugehörigen Ersatzteilen sowie mit der Ausbildung an diesen Hubschraubern helfen, so der NATO-Generalsekretär. Er sagte dabei nicht, ob die Hubschrauber für die afghanische Regierung oder für die NATO-Truppen in Afghanistan sein sollten. Moskau hatte der Regierung in Kabul bereits zwei Helikopter für humanitäre Zwecke geliefert.

Die Allianz hofft auf einen größeren Beitrag Russlands bei der Stärkung der Kampfkraft der afghanischen Armee, die im Oktober 2010 eine Sollstärke von 134 000 Mann erreichen soll, und bei der Polizeiausbildung, auf die sich bisher vor allem Deutschland kapriziert hat. Doch bei der NATO setzte sich inzwischen offenbar die Erkenntnis durch, dass die Russen die afghanische Mentalität besser verstehen und Moskaus Lehrmethoden ebenfalls besser ankommen. Auch ist die afghanische Armee nach wie vor mit russischer Technik bewaffnet. Daher will die NATO weitere Kriegstechnik in Moskau ordern: mehrere Hunderttausend AK-47-Maschinenpistolen, Maschinengewehre, Granatwerfer, mobile Flugabwehrraketen, Feldartillerie, Schützenpanzerwagen und eben Transporter des Typs AN-32, die sich am Hindukusch bereits bewährt haben. Vor allem aber will die Allianz die Genehmigung für den Transport militärischer Güter durch Russland. Derzeit dürfen nur nichtmilitärische Güter das russische Schienennetz benutzen.

NATO und Russland, so ein Kommentar der halbamtlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti, würden so lange Partner bleiben, wie die Taliban, die auch für Russlands Muslim-Regionen wegen der durchlässigen Grenzen zu den zentralasiatischen Ex-Sowjetrepubliken eine akute Bedrohung darstellen, in Afghanistan das Gesetz des Handelns diktieren. Und das werde noch dauern. Um sie zu zähmen, müsse die NATO Russland um Hilfe bitte und dabei »wohl oder übel« auch über Medwedjews Entwurf für einen neuen Europäischen Sicherheitsvertrag verhandeln. Den lehnt Washington bisher ab, weil er angeblich mit den Interessen der NATO konkurrieren würde.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Dezember 2009


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