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Das "Wunder" von Moskau

Wahl des Oberbürgermeisters ging knapper als erwartet aus

Von Irina Wolkowa, Moskau *

In 16 russischen Regionen wurden am Sonntag Parlamente, in acht die Gouverneure gewählt. Landesweit gab es 7000 Wahlen mit 55 Millionen Wahlberechtigten. Das meiste Interesse erregte indes die Wahl des Moskauer Oberbürgermeisters.

Die feierliche Amtseinführung des neuen, alten Moskauer Oberbürgermeisters Sergej Sobjanin wird wahrscheinlich schon kommende Woche stattfinden. Ein zweiter Wahlgang, der fällig geworden wäre, wenn keiner der Kandidaten 50 Prozent plus eine Stimme auf sich vereint hätte, erledigte sich am Montagvormittag, als das städtische Wahlkomitee das vorläufige Ergebnis verkündete. Das fiel mit 51,37 Prozent für Sobjanin, den Mann des Kremls, wesentlich knapper als erwartet aus. Bei früheren Umfragen war Sobjanin immerhin auf 60 Prozent und mehr gekommen. Der oppositionelle Radikalkritiker Alexej Nawalny dagegen, dem maximal 20 Prozent vorausgesagt worden waren, sammelte am Sonntag 27,24 Prozent der Stimmen ein. Von den anderen Kandidaten erzielte allenfalls der Kommunist Iwan Melnikow mit 10,69 Prozent noch ein achtbares Ergebnis. Die übrigen drei Bewerber endeten bei 2,8 bis 3,5 Prozent.

Beobachter erklären das »Wunder« des Nawalny-Erfolgs vor allem mit flächendeckendem Einsatz moderner Kommunikation. Wie schon bei den Massenprotesten nach den angeblich manipulierten Parlamentswahlen Ende 2011 habe Nawalny die politikverdrossene Spaßgeneration, die auch Wahlen notorisch schwänzt, durch virtuelle soziale Netzwerke angesprochen und mobilisiert, glaubt die Soziologin Olga Kryschtanowskaja, die seit Jahren das Verhalten der Eliten erforscht. Sobjanin dagegen sei auf die Füße gefallen, dass die Wahlbeteiligung überraschend niedrig ausfiel: 32,07 Prozent. Wer ohnehin vom Erfolg des Amtsinhabers überzeugt war, sei am Sonntag auf der Datscha geblieben.

Dabei war es das erste Mal seit fast zehn Jahren, dass die Moskauer ihr Stadtoberhaupt direkt wählen konnten. Wladimir Putin hatte sich 2004 vom Parlament Verfassungsänderungen genehmigen lassen, durch die der Präsident das Recht bekam, die Verwaltungschefs der Regionen und die ihnen im Rang gleichgestellten Oberbürgermeister von Großstädten faktisch zu ernennen. Erst Anfang 2012, kurz vor Ende seines vierjährigen Gastspiels im Präsidentenamt, hatte Dmitri Medwedjew den Regionen freigestellt, die Verwaltungschefs wieder direkt oder von den jeweiligen Parlamenten wählen zu lassen.

Sobjanin war im Frühjahr eigens zurückgetreten, um durch vorgezogene Neuwahlen nicht nur sich selbst demokratisch legitimieren zu lassen, sondern auch den Kreml vom Wahlfälschungsverdacht reinwaschen. Er sprach denn auch von den »offensten und fairsten Wahlen«, die Moskau bisher erlebt habe.

Ungeachtet dessen erkennt Nawalny das Ergebnis von Sonntag nicht an. Schon am vergangenen Mittwoch hatte man von der Opposition vernommen, sie werde gegen das Resultat, wie immer es ausfällt, protestieren. Bei Nachwahlbefragungen, die sein eigener Wahlkampfstab am Sonntag durchführte, soll Nawalny auf über 35, Sobjanin auf nur 46 Prozent gekommen sein. Die Chancen, eine Stichwahl durch Kundgebungen und Demonstrationen zu erzwingen, tendieren nach Auffassung von Beobachtern jedoch gegen null. Zumal auch Bürgerrechtler und auf Wahlbeobachtung spezialisierte nichtstaatliche Organisationen bei der Abstimmung keine nennenswerten Verstöße erkennen konnten. Sie behaupten, vor allem die von ihnen in Schnellkursen geschulten Beobachter hätten dafür gesorgt, dass die Wahlen landesweit mehr oder minder fair und transparent verlaufen seien.

Bei den Wahlen in anderen Städten und in mehreren Regionen konnte die Regierungspartei »Einiges Russland« fast überall ihre absolute Mehrheit verteidigen. Eine von wenigen Ausnahmen bildet Russlands viertgrößte Stadt Jekaterinburg (früher Swerdlowsk). Dort siegte bei der Bürgermeisterwahl Jewgeni Roisman, der für die »Bürgerplattform« des Politoligarchen Michail Prochorow antrat und mit 33,31 Prozent der Stimmen den Kandidaten der Regierungspartei Jakow Silin (29,71 Prozent) schlug. Anders als in Moskau genügte dort die einfache Stimmenmehrheit. Roisman, Unternehmer und Dichter, wurde als Gründer einer Stiftung »Stadt ohne Drogen« bekannt.

Ergebnisse wie in Jekaterinburg und in Moskau seien eine »Gelbe Karte für die Macht«, schrieb die Moskauer Wirtschaftszeitung »Wedomosti«. Für eine Trendwende, wie sie regierungskritische Beobachter heraufziehen sehen, ist es jedoch entschieden zu früh. Spannend wird indes, wie es mit Nawalny weitergeht, der im Juli wegen Wirtschaftsvergehen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, was seine Anhänger mit politischen Hintergründen erklären. Das Berufungsverfahren steht ihm noch bevor. Darüber, wie sich das Wahlergebnis auf die Strafe auswirken könnte, wird heftig spekuliert.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013


Nicht nur Putins Problem

Von Detlef D. Pries **

Überall, wo dieser Herr auftaucht, gibt es Probleme«, sagte Russlands Präsident Wladimir Putin unlängst über Alexej Nawalny. Weise Voraussicht! Der Stimmenanteil, den der Kremlkritiker Nawalny bei der Moskauer Oberbürgermeisterwahl am Sonntag erntete, übertrifft jedenfalls alle Prognosen und Erwartungen. Sicherlich war Moskau stets ein heikles Pflaster für Russlands Mächtige, sie fahren dort meist schlechtere Ergebnisse als im Landesdurchschnitt ein. Dennoch dürfte auch Putin unangenehm überrascht sein. Das wiederum erfreut den Russland-Beauftragten der Bundesregierung, der Nawalny prompt zur »neuen Leitfigur der Opposition des ganzen Landes« erklärt. Der Mann – daran sei erinnert – wurde vor Jahren wegen nationalistischer Äußerungen aus der liberalen Jabloko-Partei ausgeschlossen. Gefährlichen Islamisten drohte er schon mal mit sofortiger Erschießung und noch im jüngsten Wahlkampf machte er Stimmung gegen Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Damit sollte Russlands demokratische Opposition kein Problem haben?

Wahr ist, dass Nawalny jener relativ gut situierten Moskauer Mittelschicht aus dem Herzen – und nach dem Munde – spricht, die nicht mehr nach einem »guten Zaren«, sondern nach Mitsprache verlangt. Eben diese Schicht ist übrigens erst unter Putin gewachsen. Nun muss der Präsident Antworten auf deren Forderungen finden. Und sein schärfster Kritiker sollte das Ergebnis einer demokratischen Wahl akzeptieren. Andernfalls könnte das Land größere Probleme bekommen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 10. September 2013 (Kommentar)


Sobjanin siegt bei Moskauer OB-Wahlen

Enttäuschendes Ergebnis für die KPRF

Von Willi Gerns ***

In acht Regionen und acht Städten wurden am vergangenen Sonntag in Russland Gouverneure und Bürgermeister gewählt. Die größte Aufmerksamkeit galt und gilt dabei dem Urnengang in Moskau. Moskau ist die größte Stadt Europas und Zentrum der von der Ostgrenze der EU bis zum Pazifik reichenden Russischen Föderation. Der Oberbürgermeister dieser Stadt zählt darum zum engsten Kreis der Politikerelite seines Landes. Die Wahlen am Sonntag erhielten zudem dadurch ein besonderes Gewicht, das zum ersten Mal seit neun Jahren wieder die Wähler über den Oberbürgermeister entscheiden konnten. In dieser Zeitspanne hatte es aber gerade in Moskau bedeutende politische Entwicklungen gegeben, nicht zuletzt die Massenproteste nach den Wahlfälschungen bei der Duma-Wahl 2011. In deren Ergebnis ist eine sich im Wesentlichen auf die Mittelschichten stützende, besonders in Moskau und anderen Großstädten aktive Protestbewegung entstanden. Einer ihrer bekanntesten Repräsentanten ist der Jurist und Blogger Alexej Nawalny, der bei diesen Wahlen gegen den Amtsinhaber Sergej Sobjanin kandidierte.

Was sind die Ergebnisse des Urnengangs, bei dem sich noch vier weitere Kandidaten dem Wählervotum stellten. Wie die Moskauer Wahlleitung am Montag nach Auswertung von 100 Prozent der abgegebenen Stimmen mitteilte, siegte Amtsinhaber Sergej Sobjanin mit 51,37 %. Den zweiten Platz belegte Alexej Nawalny mit 27,24 %, gefolgt von dem KPRF-Kandidaten und stellvertretenden Vorsitzenden der KPRF, Iwan Melnikow mit 10,69 %, Sergej Mitrochin von der Partei Jabloko mit 3,51 %, Michail Degjarjow von der LDP Schirinowskis mit 2,86 % und Nikolai Lewitschew von Gerechtes Russland mit 2,79 Prozent.

Der Putin-Intimus Sobjanin wird also auch künftig Oberbürgermeister Moskaus sein. Wenn Nawalny den Sieg nicht anerkennen will und seine Anhänger bereits vor der Bekanntgabe des Wahlergebnisses zu Straßenprotesten aufgerufen hat, zeigt er sich als schlechter Verlierer. Der Abstand zum Sieger ist derart groß, dass Unregelmäßigkeiten nichts am Wahlsieg des Amtsinhabers ändern würden. Das Ergebnis Nawalnys übertrifft das Resultat, des Oligarchen Michail Prochorow im Frühjahr 2012 in Moskau (20,45%) nur mit etwa sieben Prozentpunkten. Das bedeutet, dass trotz der Mobilisierung tausender Anhänger für Straßen- und Hausagitation und des Einsatzes enormer finanzieller Mittel, die ihm Moskauer Oligarchen zur Verfügung stellten, sein Wählerpotential weitgehend ausgeschöpft ist.

Übrigens hat Nawalny auch nicht davor zurückgeschreckt, primitivste Instinkte wie Angst vor und Hass gegen Migranten zu schüren. So brüstete er sich, das schärfste Programm gegen Einwanderer zu haben und behauptete, die Hälfte aller Straftaten in Moskau werde von Migranten begangen. Überraschen kann das nicht. War Nawalny doch wiederholt Teilnehmer und sogar Mitglied des Organisationskomitees des „russischen Marsches“. Es ist dies die jährlich am 4. November stattfindende Demonstration nationalistischer Kräfte, bis hin zu den offenen Faschisten, die dabei mit Nazi-Symbolen auftreten. 2011 begann er nationalistische und rassistische Slogans zu verbreiten. So verglich er in einem Video Kaukasier mit Kakerlaken, die anders als die Schabe nicht mit einer Fliegenklatsche oder dem Pantoffel, sondern nur mit einer Pistole zu bekämpfen seien.

Zum Schluss soll nicht verschwiegen werden, dass das Ergebnis ihres Kandidaten für die KPRF enttäuschend ist. Liegt es doch weit hinter dem bei den Präsidentenwahlen im vergangenen Jahr von Genadi Sjuganow in Moskau erzielten Resultat (19,18 %). Und dies bei einer 2013 wesentlich niedrigeren Wahlbeteiligung in Moskau. (2012 – 58,11%; 2013 – 32,07%). Nun ist die Präsidentenwahl sicher nicht einfach mit der jetzigen Wahl zu vergleichen. Zudem ist Moskau angesichts seiner Sozialstruktur zweifellos ein besonders schwieriges Pflaster für die KPRF. Dennoch wird sie wohl gründlich analysieren müssen, warum es ihr nicht gelungen ist, größere Teile ihres Wählerpotentials an die Wahlurnen zu bringen.

*** Der Artikel soll in der Wochenzeitung uz-unsere zeit am 13. Sept. 2013 erscheinen.


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