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Russland-Besuch: Merkel will Großaufträge einfädeln

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist am Mittwoch nach Jekaterinburg zu Gesprächen mit Russlands Präsident Dmitri Medwedew gereist

Von Andrej Fedjaschin *

Russisch-deutsche Konsultationen sind nichts Neues, doch häufig fehlt es ihnen an Bedeutung und Relevanz.

Die Treffen vom 14. bis 15. Juli gelten nicht einmal als Konsultationen. Vielmehr handelt es sich um eine Sitzung der Regierungen unter Teilnahme beinahe aller Chefs der größten Industrie-, Banken-, Handels- und Rohstoffunternehmen aus Russland und Deutschland (beinahe 100 Delegationsteilnehmer auf jeder Seite).

Was noch seltener ist: Die innenpolitischen Probleme in ihrem Land drängen Merkel dazu, mit Moskau wieder enger zu kooperieren. Dazu zählen der Export, Import, Rohstoff- und Energieversorgung, Investitionen, Innovationen und Modernisierung. In letzten drei Bereichen fallen die Interessen Berlins und Moskaus derzeit nahezu zusammen. So sind die Treffen in Jekaterinburg eine Art Konsultationen über gegenseitige Wirtschaftshilfe: Wer und was der eine dem anderen geben könne, um möglichst viel für die heimische Wirtschaft einzutüten - und dabei zu guter Letzt auch politisch zu profitieren.

Letzteres ist für die Bundeskanzlerin gerade besonders wichtig. In Deutschland ist sie stark unter Beschuss geraten. Unzufrieden mit dem drastischen Sparkurs wegen der Euro-Krise und schmerzlichen Einschnitte bei Finanzen und Soziales rufen die Deutschen ihre Kanzlerin jetzt nicht mehr „Mutti". Laut neuesten Umfragen ist die Popularität der regierenden CDU/CSU-Koalition auf 35 Prozent abgestürzt. So tief war die CDU-Politikerin in den Umfragen noch nie gesunken.

Die Popularitätswerte der Sozialdemokraten und der Grünen sind dagegen auf 45 Prozent gestiegen. In der CDU/CSU werden erste Stimmen laut, die sich gegen Merkel wenden. Selbst die Fußball-WM hat keine Abhilfe schaffen können, obwohl Merkels Umgebung hoffte, dass die deutschen Kicker mit dem WM-Titel die kleinen und großen Sünden der Regierung vergessen machen. Diese Hoffnung musste nach dem Aus im WM-Halbfinale begraben werden. Es muss also etwas ernsthaftes unternommen werden.

Mit der Stadt, die in Europa als das Tor nach Sibirien gilt, beginnt Merkel ihren "großen Ostmarsch", um das deutsche Exportgeschäft mit Russland und Asien anzukurbeln und der deutschen Wirtschaftslokomotive zusätzliche Aufträge in den Ofen schieben zu können. Dazu will Deutschland auch einen garantierten Zugang zu Energierohstoffen zu angemessenen Preisen bekommen. Nach ihrem Besuch in Jekaterinburg wird Merkel deshalb nach China und Kasachstan weiterreisen.

Am Vorabend des Besuchs wurde in Merkels engster Umgebung kein Hehl daraus gemacht, dass die Reise sie von den politischen Problemen zuhause ablenken soll und dass Deutschland weiter Aufträge für die Wirtschaftsmodernisierung in Russland, China und Kasachstan erhält. Die deutschen Industriebosse haben Merkel, wenn man deutschen Quellen glauben will, beharrlich eingeredet, sie solle Russland beim kompletten Umbau der Wirtschaft und der gesamten Infrastruktur helfen, damit Russland dem deutschen Niveau der Industrieausrüstung und Warenqualität entspricht und mehr deutsche Erzeugnisse kaufen könnte, vor allem mit größerem Nutzwert.

Anders ausgedrückt: Die Deutschen wollen, dass wir unsere Wirtschafts- und Industriestrukturen bis auf den Stand modernisieren, sodass tatsächlich mehr deutsche Ausrüstungen und Anlagen gekauft werden müssten. Die eigenen Interessen sind immer am wichtigsten. Aber schließlich geht es ums Geschäft!

Zusammen mit der Bundeskanzlerin kamen nach Jekaterinburg unter anderen die Chefs von Volkswagen, Siemens, Airbus, des Chemiegiganten BASF, des Handelskonzerns Metro und der Commerzbank.

In der Ural-Stadt sollen mehr als zehn Dokumente unterzeichnet werden, darunter über den Siemens-Einstieg ins Skolkowo-Projekt (russisches "Silicon Valley"), und ein Abkommen über die Ausbildung russischer Verwaltungsmanager an deutschen Hochschulen geschlossen werden.

Jekaterinburg wird allem Anschein als "Bahn-Gipfel" zwischen Moskau und Berlin in die Geschichte eingehen. Russen und Deutschen festigen ihre Freundschaft schon seit sehr langer Zeit "per Schiene" (der Anfang wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gemacht). Jetzt werden Siemens und die Russische Eisenbahnen AG (RZD) diese Freundschaft durch einen Vertrag noch mehr stärken: Russland orderte 240 Regionalzüge im Wert von 2,2 Milliarden Euro. Die "Sapsan"-Züge zwischen Moskau und Sankt Petersburg wurden ebenfalls von Siemens geliefert.

Ab 2011 wird Russland außerdem Züge des Typs Desiro bekommen, die "Lastotschka" (Schwalbe) heißen werden. Sie sollen auf den Expressstrecken zu allen Moskauer Flughäfen und in anderen russischen Großstädten eingesetzt werden. Zudem werden sie das wichtigste Bahnverkehrsmittel bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi sein. Gemeinsam mit der Sinara-Gruppe wird Siemens mehr als 200 Güterzüge nach Russland liefern.

Die Deutschen bestehen darauf, dass Russland seinerseits den Bau der Nord-Stream-Pipeline beschleunigt. Kanzlerin Merkel soll das eigens mit Medwedew besprochen haben. Deutschland ist stark von Russland abhängig, wenn es um den Import von Energieträgern und vielen anderen Rohstoffen geht. In der ersten Hälfte dieses Jahres hat Deutschland gegenüber dem Vorjahreszeitraum 13 Prozent mehr aus Russland importiert.

Russland dagegen importierte 7 Prozent weniger aus Deutschland. Berlin hofft, dass die Wirtschaftsmodernisierung und die zahlreichen Innovationsprojekte dazu führen, dass Russland verstärkt nach deutschen Technologien und Waren greift. Das könnte zu einer Zunahme der Produktion und der Nachfrage führen, was den deutschen Export nach Russland ankurbelt.

Insgesamt ist unsere Kooperation in Wirtschaft und Handel gar nicht schlecht. Laut deutschen Angaben ist Deutschlands Export nach Russland von 2000 bis 2009 um 200 Prozent gewachsen. Die Krise hat im vorigen Jahr den Handelsumfang zwischen den beiden Ländern allerdings um beinahe 40 Prozent auf 39,9 Milliarden Dollar einstürzen lassen. Doch seit Beginn dieses Jahres ist ein deutlicher Aufschwung zu erkennen - allein von Januar bis April stieg der Warenumsatz um 50 Prozent auf 15,2 Milliarden Dollar an.

Die politische Agenda spielt offenbar nur eine Nebenrolle. Wahrscheinlich auch deshalb, weil es zwischen Moskau und Berlin keine besonderen Differenzen in Sachen Geo- und Regionalpolitik gibt. Die Deutschen unterstützen prinzipiell Russlands Streben nach visafreiem Reiseverkehr mit der EU, was jedoch von der gesamten EU abhängt. Bislang spricht einiges dafür, dass die Einwohner in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad als erste visafrei nach Europa reisen dürfen. Auf jeden Fall sind sowohl Berlin als auch Warschau dafür.

In Jekaterinburg werden sich Merkel und Medwedew an den Jubiläumsveranstaltungen des Petersburger Forums beteiligen (ein Treffen von Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und Politikern unserer beider Länder, das seit 2000 durchgeführt wird und in der Stadt an der Newa begonnen hatte) und sich auch mit den Teilnehmern des deutsch-russischen Wirtschaftsforums unterhalten können.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 14. Juli 2010



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